Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende - J. H. Praßl - Страница 24
ОглавлениеWieder gefangen
Als Siralen die Augen aufschlug, lag sie in einem unbefriedigenden Schatten, der nur von einer Zeltplane herrühren konnte, niemals aber von einem Baum oder Felsen. Unter ihr eine unbequeme, sandige Unterlage, auf ihren Schultern ein widerlich glitschiges Objekt und um sie herum ein unangenehmer Geruch, der ihr in die Nase stieß wie faule Eier.
Siralen rieb sich die Augen und schärfte ihren Blick. MacOsborn. Er lag unweit von ihr und hatte … nun, der Geruch sprach Bände. So sehr es sie auch grämte, diese Wahrheit zu akzeptieren, er hatte offenbar seinen Darm entleert. Akut, nicht etwa kontrolliert, wie man es von einem erwachsenen Mann hätte erwarten können. Siralen ahnte, wo sie sich befanden. Und das schickte auch durch ihren Bauch ein nervöses Beißen. Die Scorpios hatten sie verschleppt. Sie befanden sich in einem riesigen Zelt mitten in der Wüste in einem feindlichen Lager. Das Zelt war gewiss an die sechs Schritt hoch, sodass selbst ein Skorpionmensch der ihnen bekannten Größe genug Platz hatte, sich darin frei zu bewegen.
Siralen setzte sich auf, schob den Slarpon zur Seite und blickte sich um … Chara. Offensichtlich hatten sich die Scorpios jene Leute herausgepickt, die mit ihnen vor der Schlacht zu verhandeln versucht hatten. Abgesehen von Irwin, der nur zufällig bei ihnen gelegen hatte. Zum ersten Mal seit Siralen Chara kannte, war die Assassinin ohne ihre Leibwachen vom Stamm der Goygoa. Wie ihr das wohl bekam?
Wieso sind wir hier?
Chara hatte Schangra erwähnt. Damit wusste sie, aus Perspektive der Scorpios, möglicherweise etwas, das einer weiteren Nachforschung bedurfte. Jetzt saß die Assassinin mit dem Gesicht zum Zelteingang im Sand, die Arme auf die angezogenen Knie gestützt und schwer in Gedanken versunken.
„Nachdem wir nicht gefesselt sind, nehme ich an, wir werden bewacht“, bemerkte Siralen. MacOsborn stieß ein leises Wimmern aus.
„Da hast du recht“, erwiderte Chara, ohne sich umzudrehen. „Von einem großen Schwarzen. Er steht vor unserem Zelt.“
Siralen nickte und erhob sich. Ihre Beine fühlten sich wie Stelzen an. Sie hatte sich zu lange nicht bewegt. Vorsichtig testete sie die Geschmeidigkeit ihrer Fußgelenke, indem sie auf- und abwippte. Sie meinte, ein leises Knirschen zu hören.
„Was, denkst du, haben sie mit uns vor?“
„Zuerst herausfinden, was es mit uns auf sich hat. Dann beseitigen.“ Chara drehte sich um und lächelte schief. „Ich schätze, sie werden nichts erfahren, was sie dazu veranlassen wird, Gnade walten zu lassen. Es sei denn wir finden heraus, was ein Volk wie ihres wirklich interessiert.“
„Dann lass uns gemeinsam darüber nachdenken.“
„Ich fürchte, wir müssen sie erst beobachten und studieren.“
„Das hieße dann ja, erst handeln, wenn wir uns bereits in tödlicher Gefahr befinden.“
„Genau.“
Siralen lächelte schwach. „Warum muss deine Version eines Plans immer ein tödliches Risiko bergen?“
„Weil die Praxis nun mal riskant ist. Das Problem ist, dass zu viele denken, die risikofreie Theorie hielte der Praxis stand.“
Siralen hockte sich neben den Barden und rümpfte die Nase. „Das gefällt mir nicht.“
„Sei nicht so streng mit ihm. Er hatte einiges zu verdauen.“
„Ich meinte deinen Plan, Chara.“
„Ach so.“
Irwins Augen öffneten sich kurz und schlossen sich dann gleich wieder.
„Er stellt sich schlafend.“
„Wenn es ihm dann besser geht …“ Chara stand ruckartig auf. „Wir bekommen Besuch.“
Siralen ließ den Barden Barden sein und spähte zum Zelteingang. Ein leises Rasseln war zu hören. Dann wurde die Plane zur Seite gerissen und ein roter Scorpio zeichnete sich in gewaltiger Präsenz vor dem einfallenden Sonnenlicht ab. Dahinter waren die Schatten einiger großer Schwarzer zu erkennen.
Wieder erklang der seltsam rasselnde Laut. Leider konnte Siralen nichts verstehen. Was sie auch sofort deutlich machte, indem sie hilfesuchend die Schultern und Hände hob. Dann deutete sie auf den Slarpon. Es folgten weitere Rassel- und Zischlaute. Und endlich wurde die Kreatur auf ihrer Schulter rege und begann zu übersetzen – in ihrem Kopf, ihren Gedanken.
„Wasss wollt ihr?“, kam die Frage, die unangenehm vertraut in ihren Ohren widerhallte. Das letzte Mal hatte sie ein nicht gerade erbauliches Gespräch eingeläutet. Indes, der Inhalt der Frage materialisierte sich auf faszinierende Weise in ihrem Geist. Wie eine Art ganzheitlicher Ein- oder Abdruck, der sich aus Bild, Ton und Empfindung speiste. Der Slarpon selbst mochte grausig sein, seine Veranschaulichung fremder Gedanken und Worte war wundersam und faszinierend.
„Wir suchen Verbündete für den Krieg in unserer Heimat“, erwiderte sie und entschloss sich, keine großen Reden zu schwingen.
Chara trat einen Schritt auf den Roten zu. „Was hat er gesagt?“
„Er wollte wissen, was wir wollen.“
„Wer ssseid ihr?“ Und weiter ging es in ähnlicher Manier wie am Grunde des Ozeans beim Großkönig der Fischmenschen.
„Wir kommen aus einer Welt jenseits des großen Sturms. Ich bin vom Volk der Elfen und Chara …“
„Tisssahnen.“
„Wie bitte?“
Das Gesicht des Scorpios verzog sich zu einem verächtlichen Ausdruck. „Ssseid ihr Tisssahnen oder deren Abkömmlinge?“
Siralen holte tief Luft und übersetzte für Chara.
„Wovon redet er?“, kam die erwartete Frage.
„Mache ich etwa den Eindruck, als hätte ich ihn verstanden?“
„Ihr Elfen macht häufiger den Eindruck, als hättet ihr nichts verstanden. Und doch begreift ihr mehr, als man meinen könnte.“
Siralen hätte Chara ein, zwei Wörtchen Ilf beigebracht, wenn sie nicht in einer derart prekären Situation gewesen wären.
„Ihr sssucht Helfer?“, zischte der Rote und beantwortete sich seine Frage selbst: „Dann ssseid ihr keine Tisssahnen.“
„Was sind Tisssahnen?“, fragte Siralen und versuchte, das Wort möglichst so auszusprechen, wie der Scorpio es in ihrem Kopf hinterließ.
Wieder war da dieser verächtliche Ausdruck auf seinem Gesicht. Aber da war auch etwas, das aussah wie Respekt, was bei einem Wesen wie diesem nicht unbedingt zu erwarten war.
„Mächtige Wesssen auf zssswei Beinen. Wesssen, die keine Hilfe von anderen Wesssen brauchen.“
Siralen hatte das Gefühl, als würde eine Erkenntnis zaghaft an die Tür ihres Verstandes klopfen, sich aber nicht durchsetzen können.
„Ihr riecht andersss. Ihr ssseid ein ssschwacher Abklatsssch der Tisssahnen“, meldete sich der Rote erneut zu Wort. „Ihr habt keine Macht.“
Das schien ein Standardspruch jenseits des Großen Abgrunds zu sein. Resigniert übersetzte Siralen für Chara.
„Wer genau von uns hat keine Macht?“, wollte die Assassinin wissen, und Siralen gab die Frage vorsichtig weiter.
„Niemand. Am Allerwenigsssten die, die die Umgebung mit den bloßssen Gedanken verändern können.“
„Er meint die Zauberkundigen“, seufzte Siralen. Sie fühlte schon jetzt, wie sie das Gespräch zermürbte. Wieso war nichts je einfach?
Der Rote kniff die Augen zusammen – als wollte er seinen Worten einen besonderen Nachdruck verleihen. „Nur eure Metall-Krieger sssind ssstark.“
„Na, immerhin haben die MacDragul Eindruck gemacht“, bemerkte Chara, nachdem Siralen die Übersetzung wiedergegeben hatte. „Womit wir beim ersten Punkt sind, der sie interessieren könnte. Das sind Kämpfer, keine Denker. Was die interessiert sind andere Kämpfer, die eine Bedrohung für sie und ihr Herrschaftsgebiet darstellen könnten.“
Siralen nickte. Ein Segen, dass Chara nicht verstanden wurde. So konnte wenigsten sie sagen, was sie dachte. Vielleicht kamen sie ja auf diese Weise zu einer Lösung.
„Ssschangra“, zischte der Scorpio. Dann folgte die eigentliche Frage: „Woher kennt ihr ihn?“
„Sag es ihm“, drängte Chara, als Siralen seine Frage wiederholt hatte.
„Er war in unserer Heimat. Er kämpfte an unserer Seite gegen unseren Feind.“
Die Zeltplane schwang zur Seite und einer der braunen Scorpios betrat den Eingangsbereich. Er war etwas größer als der Rote, aber kleiner als die Schwarzen. Und er sagte nichts, tat nichts. Der Rote setzte das Gespräch fort, als wäre nichts gewesen.
„Wo issst er?“
„Er wurde krank“, gab Siralen zu. „Und starb. Es tut uns leid.“
„Nein, tut es nicht“, bemerkte Chara. „Behaupte nichts, das schwach wirkt.“
„Wieso sollte Mitgefühl eine Schwäche sein?“
„Mitleid ist eine Schwäche. Jedenfalls in ihren Augen.“
Siralen blies sich entnervt eine ihrer kinnlangen Strähnen aus dem Gesicht. „Vielleicht bin ich nicht die Richtige, um …“
Sie spähte zu dem roten Scorpio zurück, der sie und Chara beobachtete, als müsste er ihre Bedeutsamkeit einer eingehenden Prüfung unterziehen. Noch fiel sein Urteil ganz eindeutig ernüchternd aus: Unbrauchbar.
„Wiessso kämpfte er an eurer Ssseite?“, wollte er wissen.
„Weil unsere Seite für die Rettung der Welt kämpft, und die andere für deren Zerstörung“, antwortete Siralen.
Eine Weile fiel kein Wort. Die beiden Scorpios starrten sie nur an. Dann stieß Irwin erneut ein leises Wimmern aus, das sogar für diese fremden Wesen als ein Ausdruck der Angst zu interpretieren war. Was, so stand zu befürchten, nicht unbedingt auf Wohlwollen traf.
„Wie sssah er ausss?“
Siralen sah den Roten unschlüssig an.
„Welche Farbe hatte er?“
Ach das! Leider wusste sie darauf keine Antwort und schwieg. Der Rote schien das ebenfalls bedauerlich zu finden. Und damit wusste er vermutlich alles, was er wissen wollte. Doch offensichtlich war er noch nicht fertig mit ihnen.
„Wiessso sind Blaksss unter euch?“, zischte er bedrohlich.
„Ich verstehe nicht …“
„Was sagt er?“, drängte Chara.
„Ich versuche, mich hier zu konzentrieren, Chara. Würdest du bitte …“
„Wiederhol’s einfach.“
Siralen stöhnte auf. „Er will wissen, weshalb Blaksss unter uns sind.“ Sie betonte das Zischen am Ende des Wortes mehr als nötig. „Und behaupte jetzt nicht, du weißt, wen oder was er damit meint.“
„Weiß ich nicht.“
„Würdest du mich dann bitte meine Arbeit machen lassen?“
Chara hob beschwichtigend die Hände und begnügte sich wieder damit, die beiden riesigen Wesen zu observieren.
„Wie macht ihr esss, dasss sssie euch folgen? Wie kontrolliert ihr sssie?“
Siralen entschloss sich, ehrlich zu bleiben. „Wen meint ihr?“
„Die Ssschwarzen. Die, die ssschneller und ssstärker sssind alsss ihr, aber langsssamer als die Metall-Krieger.“
Jetzt fiel die Münze. Siralen übersetzte schnell für Chara und hoffte darauf, dass sie eine adäquate Antwort wusste.
„Sie folgen dem, für den wir kämpfen“, sagte Chara. „Sie folgen dem, der uns hierhergeschickt hat. Nicht wir, er kontrolliert sie.“
Eine Weile musterte der Rote Chara, nachdem Siralen ihre Worte weitergegeben hatte. In seinem ehernen, aber dennoch menschlichen Gesicht spielte sich ein skurriler Wechsel von plötzlichem Verstehen und flammendem Zorn ab. Was genau er verstanden hatte, war freilich nicht auszumachen. Weshalb er zornig war, ebensowenig. Schließlich wurden seine Züge weicher und mit einem Mal sah es aus, als würde sich ein undefinierbarer Schmerz in sein Gesicht graben. Die Metamorphose war befremdlich, beängstigend unerwartet.
Durch den Schlitz in der Zeltplane brachen die Strahlen der Sonne und warfen die riesigen Schatten der beiden mächtigen Wesen an die rückwärtige Zeltplane. Sachte zupfte der Wind an dem Leinen. Es knisterte, dann wurde es wieder still. Irwin zuckte in gekünsteltem Schlaf.
„Issst er ein Tisssahne?“, fragte der Rote leise.
Siralen sah ihn verständnislos an, übersetzte aber für Chara.
„Thanatane“, flüsterte Chara. „Tisssahne heißt Thanatane.“
„Nein, das ist er nicht“, erwiderte Siralen auf die Frage des Scorpios und sah aus dem Augenwinkel, wie Chara nachdenklich die Stirn runzelte. Oder etwa doch?
Der Scorpio wechselte mit seinem braunen Gefährten erneut Blicke. Schließlich, als hätten sie sich in stummer Übereinkunft zum Rückzug entschieden, drehten sich die beiden um, verließen den Zelteingang und rückten mitsamt ihrer Eskorte aus schwarzen Wüstenkriegern ab. Nur zwei Wachen blieben neben dem Zelteingang zurück.
Irwin MacOsborn richtete sich auf und inspizierte mit angewidertem Gesicht seine Beinkleider. Siralen ließ sich in den Sand fallen und zog die Knie an. „Wasser“, sagte sie. „Ich hoffe, sie denken daran, dass wir Wasser brauchen.“
„Das hoffen wir alle“, jammerte der Barde. „Meine Hosen müssen unbedingt gewaschen werden.“
„Nicht dafür, MacOsborn“, stöhnte Siralen. „Wir verdursten hier, wenn die Scorpios uns kein Wasser bringen.“
Irwin sah sie hilflos an. „Aber ich kann doch nicht in diesen vollgesch….“
„Verschont uns!“
Die Hoffnungslosigkeit, die mit der ersten Meldung über die unbekannten Wesen, die den Stützpunkt am Strand angegriffen hatten, aufgekommen war, verdichtete sich mit jedem Moment, da sie hier waren. Als würde eine Weberin emsig die Fäden eines zu locker gewobenen Teppichs straffen. Zuerst der Verlust der vielen Männer im Hauptlager, dann die Meuterei der Landstreitkräfte unter dem Brigadier, der Tod des Brigadiers als Folge des Aufstandes, die zahllosen Toten und die Niederlage im Wüstenkessel. Darceans Schicksal durch Irwins Versagen. Und nun waren sie Gefangene im Lager der undiplomatischsten Wesen, die Siralen je zu Gesicht bekommen hatte, wenn man von den Fischmenschen mal absah. Die Scorpios erschienen ihr wir die Verkörperung des Knöchernen, des Wort- und Verständnislosen. Damit hatte eine Diplomatin hier nichts zu sagen. Und Siralen war sehr bewusst, dass ihr die Diplomatie immer mehr zu eigen wurde, während ihr der Kampfgeist, den sie irgendwann vielleicht gehabt hatte, zusehends verloren ging. Was also konnte sie hier tun, abgesehen davon, auf den Tod zu warten? Aber wenn sie schon sterben musste, wollte sie es auf keinen Fall, ohne noch ein letztes Mal Tauron gesehen zu haben. Ihn noch ein letztes Mal berühren, spüren, seine Stimme hören, in seine Augen sehen … Sie musste zurück auf die Meerjungfrau! Allein dafür lohnte es sich, stark zu bleiben und ums Überleben zu kämpfen.
„Sie halten sich für mächtiger als alles, was wir sind oder bei uns in Amalea haben, mal abgesehen von den MacDragul. Die können mit ihnen mithalten, wie wir gesehen haben“, schnitt sich Charas Stimme in ihre Gedanken. „Sie halten uns für einen schwachen Abklatsch der Thanatanen. Sie halten die Thanatanen wiederum für mächtig genug, um sich mit ihrem Volk näher zu befassen.“
„Ja, Chara“, seufzte Siralen. „Sie legen Wert auf Stärke. Und sie halten sich selbst für etwas Besseres.“
„Sie erwägen nur die Gefahr, die von jemandem wie uns für jemanden wie sie ausgeht. Sie halten sich deshalb noch nicht für etwas Besseres.“ Chara grinste. „Die Elfen halten sich für etwas Besseres.“
Irgendwie war Siralen nicht zum Lachen zumute.
„Tat ich nie.“
„Nicht?“ Die Assassinin setzte sich ihr gegenüber. In einem gut berechneten Abstand, wohlgemerkt.
„Dein Volk jedenfalls nimmt sich gerne raus. Da hilft ihm die Tatsache, dass seine Rasse im Verhältnis zu den Menschen vernichtend klein ist. Aber du, als einzelne Elfe, bist nur eine von Vielen.“
„Und damit bin ich zufrieden. Ich war nie daran interessiert, eine Sonderstellung einzunehmen.“
„Wieso wurdest du dann zur Kommandantin einer Elfeneinheit, schließlich zur Kommandantin einer ganzen Streitmacht und jetzt zur Kommandantin der Landstreitkräfte?“
„Was ist mit dir Chara, Flottenoberkommandantin?“
„Ich habe nie um das Flottenoberkommando gebeten.“
„Habe ich denn um das Kommando über die Landstreitkräfte gebeten?“
„Nein, aber du hast dich lange vorher dafür ins Zeug gelegt, eine Befehlshaberin der Streitkräfte Albions zu werden. Du versuchst, irgendjemandem etwas zu beweisen.“
„So wie du.“
Chara schloss einen nichtigen Moment die Augen. „Ich wäre lieber unsichtbar geblieben.“
„Worüber reden wir hier, Chara?“
„Wovor hast du Angst, Siralen? Wieso legst du so viel Wert darauf, was ein Brigadier oder ein bestimmter Elf von dir hält? Wieso fürchtest du jeden, der eine Position einnimmt, die es ihm erlaubt, über dich zu urteilen?“
Siralen presste die Lippen aufeinander. Sie konnte Chara nicht erzählen, was es mit ihrem Vater auf sich hatte. Wüsste sie davon … sie würde es trotzdem nicht verstehen. Chara hatte keine Eltern. Sie war nicht der Spross eines Vorfahren, der in den Augen aller Nachkommen versagt hatte. Sie würde nicht verstehen, wieso jemand Angst davor hatte, zu versagen, sein Volk zu verraten. Oder einfach nur davor, schwach zu sein.
„Hast du denn einen Rat für mich, Chara?“, fragte sie, statt eine Antwort zu geben.
„Nein.“
„Du hast einen Rat, nicht wahr?“
Chara zuckte mit den Schultern. „Wenn du keine Angst davor hast zu scheitern, wirst du leisten, anstatt zu zögern. Du wirst aufrecht gehen und kämpfen. Dann wird man dich respektieren.“
„Wie einfach das klingt.“ Die Ironie in ihrer Stimme war selbst für Siralen vernehmbar.
„Vielleicht wäre es an der Zeit aufzugeben, sich ein anderes Ziel zu setzen …“, murmelte Siralen und blickte auf die Wüste jenseits des Zelteingangs. „… die Idee von der kompetenten Kommandantin der Landstreitkräfte fallen zu lassen. Vielleicht wäre es besser, etwas anderes zu tun.“
„Ja, vielleicht“, erwiderte Chara. „Vielleicht redest du lieber, als zu kämpfen.“
Wenn sie Chara nicht besser gekannt hätte, hätte sie die Aussage als Beleidigung aufgefasst. Chara hatte aber nicht beabsichtigt, sie zu beleidigen. Sie sagte nur, was sie dachte – unverblümt und direkt, wie immer.
„Aber die wirklich essentielle Frage ist“, lenkte Siralen das Gespräch in die richtige Richtung, „wieso wissen diese Wesen etwas über die Thanatanen? Hier, auf diesem südlichsten aller Kontinente?“
Chara tastete nach ihrer Drogenpfeife und wurde fündig. Als sie den Beutel mit den Drogen suchte, stöhnte sie entnervt auf. „Vergessen“, knirschte sie. „Und ja, von Al’Jebal haben wir nur den Hinweis über die verbrannten Menschen und Schangra bekommen …“
Irwin gab es unterdessen auf, auf Hilfe zu warten. Er schälte sich angewidert aus seinen Beinkleidern und seiner Tunika und band sich Letztere umständlich um die Hüften. Er war ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, hatte sich kein einziges Mal in die Unterhaltung eingebracht.
„Also, was haben wir, womit wir die Scorpios überzeugen können?“
Chara ließ den Kopf in den Nacken rollen. „Absolut gar nichts.“
Der Morgen danach begann so ernüchternd wie der vergangene Tag. Abgesehen davon, dass man ihnen Wasser gebracht und seltsame Pilze zu essen gegeben hatte, von denen Chara in dieselbe missliche Lage geraten war, in der sich Irwin tags zuvor befunden hatte. Das Zeug war nicht gerade giftig, wie sie selbst ja ganz gut beurteilen konnte, aber doch eine ungewohnte Mahlzeit für einen Menschen aus Amalea. Siralen ging es sogar noch schlechter. Überraschenderweise schickte man ihr einen Scorpio, der sich als der Heilung kundig herausstellte und ihr eine nicht zu identifizierende Flüssigkeit einflößte. Es sah ganz danach aus, als wollten die Wüstenkrieger nicht, dass man sie der Nachlässigkeit bezichtigte. Ihre Gefangenen hinzurichten oder im Kampf zu besiegen war das Eine, sie durch einen Unfall zu verlieren etwas ganz Anderes. Das Ergebnis war auf jeden Fall eine Elfe, die sich bester Gesundheit erfreute und eine Assassinin, die keinerlei Anlass sah, sich die Beinkleider nach vollbrachtem Geschäft wieder hochzuziehen, wo doch feststand, dass der nächste Latrinengang nicht allzu lange auf sich warten lassen würde. Zu Irwins grenzenloser Enttäuschung trug sie ein knielanges Hemd.
Chara wollte einfach keine Idee kommen, wie sie sich aus ihrer misslichen Lage befreien konnten. Besonders zermürbend war ihre Erinnerung an eines der letzteren Gespräche mit Al’Jebal.
„Wir brauchen diese Skorpionmenschen als Verbündete.“ Ein recht unmissverständlicher Auftrag, wie sie fand. Leider saß sie in diesem staubtrockenen, öden Lager fest – als Gefangene wohlgemerkt, nicht als willkommener Gast. Und das Ganze auch noch ohne Drogen, die sie leider im Lager vergessen hatte, ohne einen Vampir, der sie bei Laune hielt, ohne die Aussicht auf einen netten, kleinen Kampf, der hier glatter Selbstmord gewesen wäre. Ja, sogar ohne ihre Leibwachen. Und ohne Lindawen …
Gedankensprung. Besser, sie konzentrierte sich auf das Hier und vergaß das Dort, mitsamt den grünen Augen, dem Mund, der sich öffnete, um genau jene Worte zu entlassen, die sie nicht hören wollte, nie hören wollte, und die doch so viel in ihr bewegten. Lin – DA – Wen … DA wurde sie ruhig. DA hielt sie still. DA fiel es ihr leicht, die fast schon schmerzhafte Hitze in ihrem Gemüt zu lindern …
Und Lomond …Verdammt.
Chara drehte sich um und spähte zu Siralen. Die Elfe war schweigsam in letzter Zeit. Sie wurde von Tag zu Tag schweigsamer, wenn sie es sich recht überlegte. Vermutlich vermisste sie jemanden. Und möglicherweise machte ihr die ganze freudlose Situation hier zu schaffen.
War es freudlos hier? Irgendwie befand Chara sich in einer widersinnig euphorischen Stimmung. Sie hatte das Gefühl, dass sie endlich vorankamen, obwohl es ganz und gar nach Stillstand aussah. Alles um sie herum schien in Bewegung geraten zu sein. Dinge waren ans Licht gekommen, die sie nach noch mehr Wissen hungern ließen: Die Scorpios kannten das Volk der Thanatanen. Wie? Woher? Namen hatten sich ins Spiel gebracht, von deren Träger sie nicht gedacht hätte, dass sie sie je wiedersehen würde. Jemand war ihr näher gerückt, ein anderer hatte sich entfernt. Wieder ein anderer hatte sie einmal mehr aus der Fassung gebracht, weil er besser und ausdauernder kämpfte, als man es ihm zutrauen würden. Lomond, Lindawen, Kerrim … In dieser Reihenfolge.
Chara war zu einer neuen Einsicht gekommen: Diese Welt war groß. Viel größer, als sie erwartet hatte. Und sie selbst war kleiner, als sie es sich je hätte erhoffen können. Sie und all die anderen, die mit ihr auf der Suche waren … Selbst Al’Jebal mochte klein sein im Vergleich mit der Welt. Chara schloss die Augen. Die Narbe an seinem Hals. War der große, der überaus mächtige Al’Jebal in Gefahr?
Der Angriff, von wem auch immer durchgeführt, hätte tödlich für Al’Jebal enden können. So sah die Verletzung auf jeden Fall aus. Und doch, Al’Jebal war ein Thanatane. Er war mächtig. Mächtig genug, dass sich ein Wesen, das unendliche VALM von Amalea entfernt lebte, Gedanken über ihn und seinesgleichen machte. Aber was machte diese Tatsache mit ihr? Wieso spielte es eine Rolle, wie mächtig ihr einstiger Namai war? Wieso noch immer?
Charas Blick fiel auf den leise schnorchelnden MacOsborn im hinteren Winkel des Zeltes. Die Gegenwart des Barden hob ihre Stimmung. Die Welt durch die Augen eines Kleingeistes wie ihn zu sehen, war eine willkommene Abwechslung. Irwin hatte ganz offensichtlich Spaß an der Freude, solange er sich nicht in akuter Gefahr befand. Das bewies nicht nur sein exzessives Feiern während des Festes auf Siralens Archipel. Chara verwettete ihren Arsch darauf, dass er, abgesehen von seinen Liedchen und seinem Gejammere, noch das Eine oder Andere auf Lager hatte, das Nok ein überraschtes „Oi“ entlocken würde. Leider war er ein Schlappschwanz.
Was kam ihr noch in den Sinn? Worüber konnte sie noch sinnieren?
Ach ja. Sie dachte nicht nur zu viel in letzter Zeit, sie redete auch zu viel. Wo war das Werkzeug, das ausschließlich funktionierte? Stumm und effizient …
Chara trat zum Zelteingang und linste durch die halb geöffnete Plane. Wie tags zuvor standen zwei Wachen vor dem Zelt. Dahinter herrschte rege Betriebsamkeit. Was auch immer die Scorpios planten, wie auch immer sie sich den Tag gewöhnlich so totschlugen, sie waren in Aufruhr. Ihre steinernen Mienen wirkten angespannt, ihre Bewegungen teilweise hastig, teilweise emsig, teilweise wachsam. Als stünden sie kurz vor einem Aufbruch. Vielleicht fühlten sie es auch, so wie sie – fühlten die Veränderung, fühlten, dass sich irgendetwas in Bewegung setzte, das nicht mehr aufzuhalten war.
Aufgescheucht, wachgerüttelt. Und wieder war sie dort, wo sie nicht hinwollte. Lin-da-wen und Lomond.
„Reiß dich zusammen, Chara“, flüsterte sie und lenkte ihren Blick zurück auf die beiden Schwarzen vor dem Zelt.
Das Gespräch mit dem Roten war gar nicht mal so übel verlaufen. Immerhin lebten sie noch. Und jetzt konnte sie es kaum erwarten, bis der Scorpio zurückkam und sie das Gespräch fortsetzen konnten. Es war an der Zeit, dass sie die Angelegenheit über die Bühne brachten – tot oder lebendig.