Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende - J. H. Praßl - Страница 27
Оглавление… ist besser als gar kein Morgen
Wir haben eine Abmachung. Wenn Ihr euch daran haltet, halten auch wir uns daran. Es gibt nur einen Weg, dass sich meine Leute unbehelligt in Eurer Flotte bewegen können. Ihr wisst, welcher das ist. Die Allianz muss sich für unseresgleichen öffnen.
Immer in Eurer Nähe, alte Freundin!
HKT
Siralen lächelte noch immer, als sie die Kapitänskajüte verließ und Tauron wie einen herrenlosen Hund einfach stehen ließ. Er verstand nicht, wieso. Er sah einfach nicht, wie amüsant die ganze Situation im Grunde war. Er sah nicht, dass sein Geständnis nichts als eine grenzenlose Erleichterung für sie bedeutete. Er wusste ja auch nicht, was in ihr vorgegangen war, als sie auf die Meerjungfrau kam und es hieß, Tauron wäre schon den ganzen Vormittag über bei Roella Kalladan.
Ihr Herzblut war völlig zerknirscht in ihrer beider Kajüte aufgetaucht, und hatte es kaum zuwege gebracht, ihr in die Augen zu sehen. Selbstverständlich hatte dies erst recht ihren Argwohn geschürt. Und ganz entgegen der elfischen Sitte, mehr als einen Partner zu haben, ja, dies sogar zu befürworten, hätte Siralen ihn am liebsten zur Raison gebracht. Nie hätte sie vermutet, dass sich ein derartig borniertes Besitzdenken in ihr entfalten könnte. Doch es hatte. Sie wollte, konnte Tauron nicht teilen.
Doch dann begann er stammelnd sein Geständnis vorzubringen, und langsam, ganz langsam fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Er war so offen, dass er ihr sogar anvertraute, dass Chara ihm auf die Schliche gekommen war und er im Grunde nur deshalb geständig war. Er schämte sich, ihr die Wahrheit zu sagen. Verständlich, er war Tauron Hagegard, anerkannter Frauenheld und Admiral einer tausend Schiff großen Flotte. Für ihn war es Folter, seine Männlichkeit in Frage stellen zu müssen. Aber genau darum ging es in seinem Geständnis. Tauron Hagegard, Pirat und Admiral der Allianzflotte, fürchtete, zu früh zu altern und seine Manneskraft zu verlieren. Denn er wollte sich mit einer Elfe vermählen, die nicht altern würde, und er wollte seine zukünftige Frau glücklich machen. Darum unterzog er sich einem über alle Maßen ekelerregenden und, mit Verlaub, mehr esoterischen denn magischen Ritual. Und Roella Kalladan deckte ihn dabei. Einmal pro Mond musste er in einer Substanz aus Fäkalien und sonstigem Unrat baden, weil dies angeblich jung und vital hielt. Magie hin oder her, Siralen hatte von derartigen Methoden noch nie gehört und bezweifelte, dass diese wirklich hielten, was sie versprachen. Aber Tauron bedeutete es viel. Er wollte alles tun, um ihr so lange wie möglich zu gefallen. Also gönnte sie ihm dieses hoffnungsfrohe Martyrium, damit er an ihrer beider Unsterblichkeit glauben konnte. Es gefiel ihr ja, dass er sich derartig ins Zeug legte.
Leider hatten sie nur eine Nacht gehabt, um ihr Wiedersehen gebührend zu feiern. Kaum, dass sie beide erwacht waren und Tauron mehr als bereit war, seine Manneskraft unter Beweis zu stellen, hatte Chara zu einer dringenden Besprechung gerufen. Es klang nach mehr als der üblichen Langweile der Assassinin. Deshalb war Siralen nun auf dem Weg in die Offiziersmesse. Seit Monden fühlte sie sich endlich wieder leicht und unbeschwert. Taurons Geständnis und die nahende Hochzeit hatten sie all ihre Sorgen vergessen lassen: die Feindseligkeit der Landstreitkräfte, die ihr durch die angekündigte Vorsprache des neuen Adjutanten erneut unangenehm auf den Magen geschlagen war, die hohen Verluste in der Wüste, das Problem mit den potentiellen Verbündeten, und so weiter und so fort …
Die Tür zur Messe quietschte leicht, als Siralen sie öffnete. Chara war bereits da, zusammen mit zwei ihrer tätowierten Leibwachen, die wie immer hinter ihrem Stuhl Position bezogen hatten. Und auch Darcean saß bereits am Tisch, auf seiner Schulter der unselige Slarpon, den er nie wieder würde abnehmen können, wenn der Weltgeist kein Wunder für ihn bereithielt. Armer Herzensfreund.
„Wo sind die anderen?“, fragte Siralen und lächelte Chara zu. Die Assassinin hatte immerhin dafür gesorgt, dass Tauron mit der Wahrheit herausgerückt war. Jetzt sah sie allerdings so aus, als hätte sie andere Sorgen.
„Wir sind vollzählig.“
„Ach ja?“ Siralen sah sich um. Als hätte sie in dem spärlich eingerichteten Raum jemanden übersehen können …
„Was ist mit Ahrsa Kasai, Herrn Ben Yussef, Lindawen …“
Chara bedachte sie mit einem durchdringenden Blick.
„Schön.“ Siralen setzte sich neben Darcean und legte ihre Hand wie selbstverständlich auf seinen Unterarm. Es war der einzige Trost, den sie spenden konnte. „Worüber willst du sprechen, Chara?“
Chara stand auf und verschwand zur heckseitigen Fensterreihe, wo sie ihnen den Rücken kehrte und auf das offene Meer hinausstarrte. Die Allianzflotte hatte gerade erneut Fahrt aufgenommen und befand sich auf Kurs Richtung Norden, um El’Chan zu umsegeln und die Westküste des Kontinents anzusteuern. Allerdings ohne die neunte Flotte. Diese hatte Befehl, unter ihrer vallandischen Admirälin Löghild Kunradottir Richtung Süden zu segeln, um diesen Teil des Kontinents auszukundschaften, bevor sie an der Westküste wieder zur restlichen Armada stoßen sollte.
„Es geht um eine Lösung für unser Verräter-Problem.“
Siralen horchte auf. „Gibt es denn eine Lösung? Wenn ja, es wäre …“
„Keine die euch gefallen wird.“
Selbstverständlich. Wie hatte sie nur annehmen können, dass Chara eine für alle akzeptable Lösung gefunden hatte.
„Die Lösung ist andererseits umfassend, nachhaltig.“ Jetzt wandte sich die Assassinin dem Tisch zu. „Die Lösung heißt Dragati.“
Siralen nahm nur am Rande zur Kenntnis, dass ihre Hand langsam von Darceans Unterarm rutschte und in ihren Schoß fiel.
„Wie bitte?“
„Nicht ganz“, relativierte Chara und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Die Lösung ist nicht der Gott selbst, es sind seine Gefolgsleute.“
„Die Dragatisten“, bemerkte Darcean emotionslos, und Siralen hatte noch immer das Gefühl, sich verhört zu haben. Ja, Chara hatte schon einmal den Vorschlag geäußert, mit den Dragatisten in Sachen Verräter zusammenzuarbeiten, damals, als Lask Cisch mit eben diesem Vorschlag Propaganda gemacht hatte. Aber das war nicht so ganz ernst gemeint gewesen. Zumindest hatte Siralen das angenommen. Jetzt sah es danach aus, als wäre Chara dem Schicksalskünder doch in die Falle gegangen.
„Das ist nicht dein Ernst … Chara?“
Charas Blick sprach Bände.
Einmal tief durchgeatmet, dann stand Siralen auf. Sie musste sich ein wenig die Füße vertreten, um ihren Geist in Schwung zu bekommen und den leichten Schwindel zu vertreiben, der sie befallen hatte. Hier ging es gerade um mehr als bloß um eine Meinungsverschiedenheit. Chara schlug allen Ernstes vor, mit dem Dragatisten-Pack gemeinsame Sache zu machen.
„Erstens ist es der blanke Wahnsinn, mit diesen Vergewaltigern, Massenmördern, geistlosen Fanatikern …“
„Wer sagt dir, dass sie das sind, Siralen? Was du da sagst, mag auf die Tulurrim zutreffen. Nicht aber auf die Dragatisten. Jedenfalls nicht zwangsläufig. Viele von ihnen sind zwar vom Stamm der Tulurrim, aber sie huldigen eben nicht mehr Togh Leva, sondern Dragati. Ich und Telos haben den Propheten Hadra kennengelernt, nicht den Gott. Er war damals ebenfalls ein Gefolgsmann Togh Levas. Über den Gott Dragati wissen wir im Grunde nichts. Jedenfalls zu wenig, um ihn oder seine Anhänger dieser Verbrechen zu bezichtigen.“
„Beim Alleinen, Chara! Es spielt keine Rolle, was wir über Hakkinen Dragati oder die Dragatisten zu wissen glauben. Es ist eine Tatsache, dass sie Chaosanhänger sind. Reicht dir das etwa nicht?“
„Sie sind nicht der Feind. Sie sind nicht das Chaosbündnis, das versucht, die Allianz zu besiegen und unsere Welt zu zerstören.“
„Du sprichst in Lask Cischs Worten.“ Siralens Stimme war scharf geworden, was sie selbst einigermaßen überraschte. Sie hatte nicht gewusst, dass sie so leidenschaftlich sein konnte, wenn es um Überzeugungen ging. Jetzt gerade war sie sogar versucht, etwas zu Bruch gehen zu lassen.
Darcean kam auf die Beine, und Siralen hoffte inbrünstig, er möge eine Argumentation parat haben, die Chara zur Vernunft bringen konnte.
Die beiden Goygoa links und rechts von Chara umfassten ihre Stabkeulen fester. Sie spürten den Anflug von Gefahr. Vielleicht war dieses Gefühl sogar berechtigt. Was Chara da von sich gab, roch viel zu sehr nach der Bereitschaft, Verrat an der Allianz zu begehen. Sollte sie ernsthaft daran festhalten, die Dragatisten mit ins Boot zu holen, musste sie jemand aufhalten.
„Woher weißt du, dass die Dragatisten kooperieren werden, Chara?“, stellte Darcean die berechtigte Frage. „Das behauptet doch nur der Schicksalskünder, und dem können wir kaum über den Weg trauen.“
Schweigen.
Über Darceans Nase bildete sich eine strenge Falte und seine schöne Stimme wurde beschwörend. „Chara?“
Fast hatte Siralen es erwartet – dieses schiefe Lächeln. Chara hatte die Neigung, in den unpassendsten Momenten zu lächeln.
„Weil ich mit einem ihrer Informanten geredet habe“, folgte die befürchtete Antwort.
„Geredet oder verhandelt?“ Darcean wollte es ganz genau wissen. Zu recht.
„Verhandelt.“
Jetzt konnte Siralen nicht länger an sich halten. „Worüber?“ Sie steuerte direkt auf Chara zu, ignorierte die beiden Leibwachen, die drohend ihre Stabkeulen hoben. „Was genau hast du mit ihnen verhandelt? Welches Angebot hast du ihnen gemacht, Chara?“
Die Antwort kam ohne Zögern. „Sicherheit innerhalb der Flotte. Möglicherweise eine Aufnahme in die Allianz.“
„Helolilejen!“ Siralen schlug sich die Hand vor den Mund. „Wofür, bei allen Weisen des Alleinen?“
Das halbe Lächeln auf ihrem Gesicht erlosch. „L’Incartos Aufenthaltsort … zum Beispiel.“
„Dann hatte Lindawen also recht, als er sagte, einer von euch beiden würde lügen. Dann kam die Spur nicht von den Assassinen …“
„Was?“ Chara sah aus, als hätte ihr jemand die Drogenpfeife aus dem Mund gerissen. „Was hat Lindawen gesagt?“
Siralen ließ resigniert die Schultern sinken. „Du oder Kerrim … Er sagte, einer von euch beiden würde lügen, als ihr behauptet habt, die Assassinen hätten Lucretias Aufenthaltsort gefunden.“
Zwischen Charas Augen tauchten selten gesehene Fältchen auf.
„Dann hast du also tatsächlich mit diesem Arkan Buruschaskij verhandelt, bevor er starb?“, hakte Siralen nach.
„Er starb, bevor ich den Handel abschließen konnte.“ Sie wandte sich ab. „Frag doch Lindawen, wie er starb. Ich bin sicher, er kann dir diesbezüglich genauestens Auskunft geben.“
Siralen spürte, wie die Last auf ihren Schultern von Augenblick zu Augenblick schwerer wurde. „Denkst du etwa, Lindawen hätte den Dragatisten Arkan Buruschaskij ermordet?“
„Ich kann’s nicht beweisen …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber es liegt auf der Hand.“
„Nachdem der Dragatist Arkan Buruschaskij nun tot ist, mit wem verhandelst du jetzt?“, mischte sich Darcean erneut ein.
Chara bedachte ihn mit einem fast schon mitleidigen Blick.
„Ich verstehe. Deinen Informanten gibst du nicht preis. Aber du erwartest von deinen Mitstreitern, dass sie dir und …“ Er brachte doch tatsächlich etwas zustande, das nach einem Schnauben klang … „Vergib mir meinen Zynismus … deinen Verbündeten, allesamt nichts Harmloseres als die fanatischen Anhänger eines Chaosgottes, vertrauen. Du willst von uns, dass wir in diesen hanebüchenen Handel einwilligen, uns einverstanden erklären, dass sich Dragatis sehr wahrscheinlich geistesgestörte Anhängerschaft offen und uneingeschränkt in unserem Flottenverband aufhalten und bewegen darf. Hab ich das richtig verstanden?“
„Ja“, lautete die einsilbige Antwort. „Nur so werden wir den verdeckt agierenden Chaosbündnis-Mitgliedern habhaft werden, die diese Mission jederzeit sabotieren können.“
Darcean nickte langsam. „Ich bin gar nicht so sehr geneigt, diesen Handel für blanken Irrsinn zu halten, wenn dieser das auch ist. Vielmehr sehe ich in ihm einen unverzeihlichen Vertrauensbruch dem restlichen Kommando gegenüber, und die Gefahr, dass du dir selbst eine Vormachtstellung in betreffendem Kommando einräumst. Du hast diese brandgefährliche Entscheidung getroffen, ohne Siralen oder ein anderes Kommandomitglied ins Vertrauen zu ziehen.“
Chara erwiderte nichts. Stattdessen machte sie sich, ihre Leibwachen im Schlepptau, auf den Weg zur Tür. Bevor sie wie ein Nachtschatten verschwand, hielt sie allerdings inne.
„Ich will, dass ihr beide in Ruhe über meinen Vorschlag nachdenkt. Am Ende spielt es nämlich keine Rolle, ob ich euch hintergangen habe oder nicht. Es zählt nur eines. Diese Mission wird unmöglich zu erfüllen sein, wenn wir Verräter unter uns haben, die sie jederzeit zum Scheitern bringen könnten. Und wir haben keine Alternative, um diese Verräter zu finden und unschädlich zu machen.“
Damit flog die Tür auf, und die Assassinin blieb ein weiteres Mal stehen. „Ach ja. Ich glaube, ich hab eine Möglichkeit gefunden, wie wir den Slarpon von deiner Schulter entfernen können, Darcean. Es ist allerdings eine, die voraussetzt, dass du andernfalls ohne jeden Zweifel draufgehst.“
„Kurz, es ist eine Möglichkeit, die tödlich enden könnte“, erwiderte Darcean.
„Nein, es ist eine, die tödlich enden wird. Jedenfalls vorübergehend.“ Der schwarze Mantel flatterte durch die Tür, diese fiel ins Schloss und Stille kehrte ein.
Siralen holte bebend Luft. Sie hatte ihre Entscheidung bereits getroffen. Es würde nicht einfach werden, aber es war an der Zeit, dass jemand Chara in ihre Schranken wies.
„Darcean …“ Sie setzte sich zurück auf ihren Stuhl und dämpfte ihre Stimme zu einem Murmeln.
Auf dem Weg zu ihrer Kajüte traf Chara Irwin MacOsborn, der gerade die Treppe von der Steuermannskajüte ins erste Unterdeck gehopst kam. Als er sie von den Mannschaftsunterkünften aus den Korridor betreten sah, blieb er abrupt stehen. Dann setzte er seinen Weg pfeifend fort. Er wollte gerade in seiner Kajüte abtauchen, da pfiff Chara ihn zurück.
„Na, MacOsborn? Was gibt’s Neues?“ Es war so offensichtlich, dass es sie förmlich ansprang. Irwin hatte mitbekommen, worüber in der Messe geredet worden war. Wahrscheinlich hatte er am Poopdeck rumgelungert.
„N… nichts“, stammelte er. Chara trat so nahe an ihn heran, dass ihrer beider Nasen fast einander berührten.
„Ich verrate nichts, versprochen!“, brach es aus Irwin hervor. „Ich werde den Mund halten, gaaanz sicher!“
„Worüber denn?“
„Über das, was Ihr über die Draga…“
Charas Hand glitt wie selbstverständlich an seine Kehle. „Ich sagte, wo-rü-ber, MacOsborn?“
„NICHTS! Über gar nichts!“
Chara lächelte und zog ihre Hand zurück. „Na dann …“ Freundschaftlich klopfte sie ihm auf die Schulter. „Bis bald, MacOsborn.“
Sie ließ den Propagandaspezialisten und Militärberater im Korridor stehen und verschwand in ihrer Kajüte. Ein Blick zum Bett, und sie fühlte die altbekannte Hilflosigkeit. Wieso konnte sie ihn nicht einfach vor die Tür setzen? Es würde alles einfacher machen.
Da saß er. Auf ihrem …, falsch, ihrer beider Bett. Sie bewohnten ja seit geraumer Zeit dieselbe Kajüte. Und bis heute hatte ihr dieses Arrangement gefallen. Wenn es im vergangenen Mond auch still zwischen ihnen beiden geworden war. Aber jetzt, da sie wusste, dass er Siralen gewarnt hatte … gewarnt vor ihr, Chara, und Kerrim. Andererseits, Lindawen hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er ihr nicht traute. Er hatte es ihr gegenüber sogar eingestanden. Und sie hatte ihn angelogen und beteuert, sie hätte ihre Informationen von den Assassinen. Eigentlich war er es, der zornig auf sie sein müsste. Doch stattdessen hatte er sie, als er ihrer geheimen Identität auf die Schliche gekommen war, gedeckt. Und, was noch absurder gewesen war, ihr seine Liebe gestanden.
Chara seufzte, öffnete ihren Waffengürtel und ließ ihn samt Dolchscheiden und Peitsche in die Ecke neben der Tür fallen.
„Ich nehme an, du warst in privater Angelegenheit in der Flotte unterwegs.“
Lindawen brachte ein unfertiges Lächeln zustande. „Ja.“
„Ging es dabei um mich oder um Elfenangelegenheiten?“
„Um dich.“
Chara nickte.
„Es ist schön, dich sicher zurück in der Flotte zu wissen.“ Er sagte es und meinte es.
Erst jetzt spürte Chara, dass er ihr gefehlt hatte. Als sie bei den Scorpios war. Als sie bei Lomond war. Als sie in der Messe gegen Darcean und Siralen angekämpft hatte …
Im Grunde war es ihr egal, weswegen er in der Flotte unterwegs gewesen war. Wichtig war, dass er jetzt hier war.
Allerdings könnte er ihr erneut einen Schritt voraus sein und bereits Bescheid wissen, was sie in Sachen Dragatisten plante. Immerhin hieß „privat“ bei Lindawen nichts anderes, als dass es um etwas ging, das seiner Meinung nach strengster Geheimhaltung unterlag. Kurz, es war alles andere als privat. Es ging nur ausschließlich ihn, seine Leute und den Elfenrat etwas an.
Langsam erhob er sich und zog einen Lederbeutel von dem kleinen Tisch gegenüber der Tür. Chara hätte die darauffolgende Stille gerne unterbrochen, aber irgendetwas in ihr genoss es, hier mit dem Mann zu stehen, der mehr als alle anderen über sie wusste, und ihn nur anzusehen. Genau das war es, was Lindawen auszeichnete. Seine Gegenwart versprach wie nichts und niemand sonst Ruhe – im Innen wie im Außen. So wie jetzt. Es war, als hätten sie diesen Augenblick, als hätten sie die Zeit in Besitz genommen.
Lin-da-wen. Da wurde sie ruhig, obwohl alles in ihr auf Hast eingestellt war. Da fühlte sie sich weniger allein, obwohl alles in ihr darauf geeicht war, alleine zu sein und es auch zu genießen. Da wollte sie mehr, obwohl sie gelernt hatte, nichts zu wollen.
Lin-da-wen. Da stand er und stand ihr dabei näher, als es Al’Jebal je könnte – auf seine Art. Denn er war hier.
Der Lichtjäger, der sie liebte, war nicht besonders groß, nur ein paar Fingerbreit größer als sie. Und sein Haar war blond, was ihr kaum gefallen konnte. Von den Schultern abwärts trug er es, warum auch immer, in zehn Zöpfe geflochten. Eine Haartracht, die eines echten Mannes nicht würdig war. Seine Kleidung war eher unauffällig. Hosen, Hemden und Umhänge in Grau- und Grüntönen. Bescheiden, wie Chara fand. Zu bescheiden für das, was er war. Immerhin war er der Oberste Lichtjäger. Nur selten, zu besonderen Anlässen, gestand er es sich zu, Farbe zu bekennen. Dann fand sich auch mal ein gewagter Rotton irgendwo in seinen Klamotten. Ein Pragmatiker, der es verstand, sich ab und an zu amüsieren.
Seinen Besitz trug er nicht zur Schau. Warum auch? Er war ja, wie gesagt, bescheiden. Aber es gab da den einen oder anderen Gegenstand, den er hütete wie sein Augenlicht. Das Buch, die alberne Tunika mit dem goldenen Baum Albions, um nur zwei von ihnen zu nennen … Was er liebte, behütete er.
Seinen Kampfstil kannten nur die wenigsten, weil er selten zu den Waffen griff, und falls doch, dann sah man ihn gewöhnlich nicht dabei. Griff er in einen Kampf ein, dann nur, wenn seine Hilfe unbedingt erforderlich war. Aber wenn er seinen Bogen, seine Messer, seine Axt zum Einsatz brachte, traf er in der Regel auch, und seine Treffer waren zweifelsohne tödlich. Ein Mann des Kalküls und der Treue.
Er konnte kochen, sogar für den Geschmack eines unzivilisierten Gaumens wie ihren. Keine Ahnung, was das über ihn aussagte. Vermutlich, dass er ein Genießer des Augenblicks war, sofern ihn der Augenblick nicht in die Pflicht nahm. Denn die Pflicht ging dem Genuss ganz klar vor.
Er hatte einen ausgeprägten Sinn für klare Gedanken, Pläne und Ziele. Gewöhnlich wusste er genau, was er wollte, warum er es wollte und auf welchem Weg er es erreichte. Wenn er sich selbst oder einem anderen ein Versprechen gab, dann hielt er sich daran, egal was es kostete. Und Gnade jedem, der sich ihm in den Weg stellte oder versuchte, seine Pläne zu vereiteln. Sie legte ihre Hand dafür ins Feuer, dass dieser Jemand tot war, noch ehe er „Obacht!“ schreien konnte.
Er redete nicht viel, genau genommen redete er fast gar nicht. Und wenn doch, dann könnte man die Befürchtung hegen, sein Wortschatz beliefe sich auf nicht mehr als zwei Worte. „Ich weiß“. Mehr hatte er in der Regel nicht zu sagen. Jener Mann, der vor rund elf Monden das Deck der Meerjungfrau betreten hatte. Der Elf, der ihr seit damals so treu zur Seite stand, wie es bislang nur die Stammeskrieger und ihr Bruder getan hatten. Doch während Kerrim im Auftrag Al’Jebals seine schützende Hand über sie hielt und die Stammeskrieger einer Prophezeiung folgten, folgte er ihr, weil er sich dazu entschieden hatte …
Was war sie doch blauäugig!
„Gerade wollte ich dich tadeln, aber glücklicherweise hast du den Fehler auch ohne mich gefunden.“
Was dich hier überflüssig werden lässt. Also mach einen Abgang.
„Tüdeldü!“
Seine äußerlichen Attribute waren beim besten Willen nicht der Grund dafür, dass Chara sich von Lindawen angezogen fühlte. Denn er sah nun mal aus wie ein Elf, und für Elfen hatte sie nie etwas übriggehabt. Schönheit hatte sie noch nie in Erregung versetzt. Was Lindawen zu einer kleinen – ach, was soll’s – einer großen Attraktion für sie machte, war sein unverwechselbarer Stil. Lindawen war, oberflächlich betrachtet, ein waschechter Elf. Innerlich aber schien er das genaue Gegenteil zu sein. Er war jemand, der gut und gerne als menschlicher Assassine hätte durchgehen können.
Alles das war ein Grund dafür, hier mit ihm zu stehen und zu schweigen. Zu fühlen, was sie fühlte, war allerdings schwierig. Sie wollte mehr. Sie wollte einen Schritt nach vorne machen, einen Schritt weitergehen. Sie wollte … eine Garantie. Gerade jetzt, gerade auch deshalb, weil Lomond überraschend wieder aufgetaucht war. Zwei gefährliche Liebschaften waren einfach eine zuviel. Besser, sich festzulegen. Besser, sich ganz und gar auf einen einzulassen und dabei einen klaren Kopf zu behalten.
Als hätte ihr jemand den letzten Funken Verstand aus dem Kopf geprügelt, schob sie sich die Ärmel ihres Hemdes hoch und entblößte die Dornenranken samt Rosen auf ihren Unterarmen. Ihre Fessel … ihre Befreiung.
„Lindawen …“
Er beobachtete sie.
„Ich will, dass es jeder weiß. Sie sollen wissen, dass du zu mir gehörst. Ich will, dass du mein Zeichen trägst.“
Sie ballte die Hände zu Fäusten und hob sie vor ihr Gesicht, als wollte sie ihn schlagen. „Die Dornenranke … ich will sie in deiner Haut sehen.“ Die Dornen wohlgemerkt, nicht die Rosen. Die gehörten ihr allein.
Lindawens Mund verzog sich zu einem Lächeln. Er wirkte tatsächlich amüsiert. Was, verdammt noch mal, war gerade witzig?
„Dann sind wir schon zwei.“ Er kam zu ihr, öffnete den Beutel und ließ den Inhalt in seine offene Hand fallen. Ein schlichter Silberring und eine silbern schimmernde Kette mit einem Kreuz als Anhänger … Ein runder, türkisfarbener Stein zierte die Mitte des Kreuzes.
Chara wollte den Anhänger berühren, da zog er die Hand zurück.
„Was ist das?“, fragte sie.
„Meine Art, dir zu zeigen, was ich fühle.“
„Könntest du dich klarer ausdrücken? Darin bist du doch sonst auch unschlagbar.“
Wieder ein Lächeln. „Ich habe den Schmuck selbst geschmiedet.“
Chara spürte das Misstrauen, das zaghaft an den Innenwänden ihres Gehirns kratzte.
„Ist er magisch?“
„Er ist einzigartig.“
Das war keine Antwort, jedenfalls keine richtige. Lindawen blieb also heute mal kryptisch. Chara war’s wiederum ungewohnt egal. Fast war es wie mit ihrem Schwarzen Buch. Damals war das Resultat ihres Vertrauens allerdings ein ziemlich bitteres gewesen. Lindawen hatte alles, sie hatte nichts dafür zurückbekommen. Doch, schon, aber sie hatte nichts davon gewusst und ergo nichts davon gehabt. Sie hatte die Finte hinter dem Kochbuch in Ilf nicht gerochen, und er hatte gewusst, dass sie das nicht würde. Damit blieben seine Geheimnisse eben genau das, geheim. Während ihr innerstes Selbst, bislang so akribisch behütet wie das Schwarze Auge Al’Jebals im tiefsten Keller Tamangs, an Lindawen ging … Einen Elfen.
„Wirst du dir die Dornenranke in die Haut stechen lassen?“
„Ja.“
Sie griff nach dem Schmuck.
„Chara?“, hielt er sie zurück.
„Ja?“
„Wenn du es trägst, werde ich dich finden, egal wo du bist.“
Obwohl er ganz offensichtlich in der rechten Stimmung für Euphemismen war, spürte sie, dass er es wortwörtlich meinte. Trotzdem griff sie sich Ring und Kette. Trotzdem steckte sie sich das Eine an den Finger und legte das Andere um den Hals. Die Kette mit dem Kreuz fiel über die kleine, gläserne Phiole. Zwei Seelen … auf und in ihrer Brust. Wenn sie ehrlich war, auch unter ihrer Haut, in ihrem Herzen. Lindawens Kreuz und Al’Jebals Blut – das klang fast schon metaphorisch.
Lindawen griff nach ihrer Hand, sah ihr in die Augen und wartete. Als sie nichts sagte, zog er den Ring von ihrer rechten Hand und streifte ihn über den Ringfinger ihrer linken. Der Ring war breit und schlicht, ohne jede Zier.
„Hier sitzt er richtig.“ Er zog sie an sich und küsste sie. Es fühlte sich an wie Nach-Hause-Kommen, nur heißer.
„Jetzt du“, flüsterte sie, als sie sich aus seiner Umarmung löste und sich zur Tür umdrehte. „Nok!“ Es dauerte keine drei Herzschläge, da stand der Dad Siki Na an ihrer Seite. „Di atato a?“ Sie deutete auf ihre Unterarme.
„Blu“, willigte er ein, was sich, wie gehabt, in einem Kopfschütteln äußerte – eine noch immer recht befremdliche Geste für eine Zustimmung …
„Ga Tuani!“, verlangte sie. Wie gesagt, die Rosen gehörten ihr. Niemand kannte ihre Bedeutung. Nicht einmal sie selbst, jedenfalls nicht so richtig.
Wieder schüttelte Nok den Kopf. Dann deutete er auf den Stuhl am Tisch, ging seinerseits vor diesem in die Hocke und leerte den Inhalt einer seiner Gürteltaschen auf den Boden. Lindawen setzte sich ohne Widerworte vor den Dad Siki Na. Und dann war es wieder still in der Kajüte. Nur das Schlagen des Holzkeils war zu hören, als Nok seine Knochennadeln in Lindawens Haut trieb.
Da saß er und war im Begriff, für die ganze Elfensippschaft offensichtlich zu machen, dass er zu ihr gehörte. Dass er und die Chaossympathisantin, die obendrein auch noch eine Assassinin Al’Jebals war, ein Paar waren. Dass sie zusammen waren … in … ja was? In Liebe?
„Na, sieh mal einer an. Da hat ja jemand dazugelernt.“
Jedenfalls bis zu ihrer Rückkehr nach Tamang. Was danach war, wusste niemand. Aber bis dahin, bis dahin sollte sie Lindawen gehören. Und er sollte ihr gehören. Auch wenn ihr ein klein wenig schwindelig bei dem Gedanken wurde.
War es falsch? Falsch, dieses Versprechen zu geben? Jetzt besaß er sie, besaß sie, wie Al’Jebal sie besessen hatte – mit diesem Ring, diesem Kreuz, dem Immer-Für-Sie-Dasein …
Sie würde versuchen auszubrechen. Sie kannte sich. Irgendwie würde ihr es auch gelingen. Verletzen würde sie dabei wahrscheinlich nur ihn. Dabei wollte sie ihn nicht verletzen. Schützen wollte sie ihn – schützen und halten. Mit ihm gemeinsam kämpfen wollte sie – mit ihm, neben ihm, hinter ihm, vor ihm.
„Du bist so einfältig, Chara!“, hatte er irgendwann zu ihr gesagt.
Wie einfältig es doch war, dass er dachte, über sie Bescheid zu wissen. Und trotzdem hatte er recht. Er wusste es eben besser. Wie einfältig es doch war, zu denken, man wüsste alles. Wie einfältig sie doch war, wenn sie dachte, er würde alles für sie tun. Sie sei wichtig genug – für ihn, für die Welt … Wie einfältig sie beide doch waren, wenn sie dachten, sie könnten gemeinsam durch die lange, tiefe Nacht gehen, die dieser Welt bevorstand, und wären dabei auch noch unbesiegbar. Waren sie aber. Sie beide und Kerrim. Schön einfältig, schön einträchtig, schön illusorisch. Tja, so musste es sein – illusorisch, utopisch … größenwahnsinnig. Ansonsten müsste sie hier und jetzt aufgeben. Und das konnte sie nicht.