Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende - J. H. Praßl - Страница 19

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Die Bürde des Kommandanten

Wenn Dunkel und Licht einander berühren, gibt es keine Synthese. Wenn das Licht das Dunkel berührt, gibt es keine Einheit. Wo der Tag der Nacht begegnet, sehen wir nichts, erkennen wir nichts, verstehen wir nichts. Wir sehen nichts, weil dort nichts ist. Wir erkennen nichts, weil dort die Antinomie herrscht. Wir verstehen nichts, weil das Paradoxon den Verstand verschlingt.

Der Tag verdrängt die Nacht, die Nacht verdrängt den Tag. Wenn Licht und Dunkel einander berühren, gibt es nur ein Entweder-Oder. Dann ist es hell oder es ist dunkel. Entweder gewinnt das Licht oder es gewinnt das Dunkel, aber niemals gewinnt beides.

(Aus den privaten Aufzeichnungen von Chara Pasiphae-Opoulos, 349 nGF)

Chara saß auf ihrer Lagerstatt im Kommandozelt und wog die schwarze Rose in ihrer Hand. Sie hatte das Gewicht einer gewöhnlichen Rose, sah aus wie eine gewöhnliche Rose, blühte wie Rosen eben so blühten. Nur, sie verblühte nicht, und ihr Geruch war einzigartig – herber als das Aroma üblicher Rosen. Und es war keine gewöhnliche Rose. Es war ein Geschenk Al’Jebals. Es war wie das Wort des Namais, dem sie heute noch genauso folgte, wie es die einstige Hatschmaschin getan hatte. Kehre zu mir zurück …

Es war so offensichtlich, dass selbst eine Blindgängerin wie sie es nicht übersehen konnte: Al’Jebal kontrollierte sie noch immer. Und er kontrollierte sie bewusst. Er gab ihr, was sie brauchte, um sein Wort zum Alpha und Omega zu erheben, wie es in ihrer einstigen Heimat Chryseia hieß.

Und doch, der Meister war verletzbar. Sie hatte die Narbe an seinem Hals gesehen. Sie hatte gesehen, dass selbst der Alte vom Berg fehlbar war. Aber wollte sie es glauben? Was wäre, wenn es niemanden gäbe, der es besser wusste als der Rest? Was wäre, wenn niemand wusste, was es wirklich mit dieser Welt auf sich hatte? Ob sie gerettet werden musste, ob das überhaupt möglich war? Oder ob es nicht besser wäre, sie zu vernichten …

Al’Jebal war nicht hier, um ihr Antworten zu geben. Und vielleicht hatte er auch keine. Fakt war, dass sie auf sich gestellt war.

Chara hob die Rose an ihre Nase und sog den seltsamen Duft ein. Dann steckte sie Al’Jebals Geschenk in die wasserdichte Lederrolle und schob sie in ihren Rucksack.

Nicht ganz. Sie hatte Kerrim, und sie hatte Lindawen. Aber selbst wenn die beiden hinter ihr standen, hatte ihr keiner von ihnen je einen Rat erteilt. Und auch wenn Lindawen jene drei Worte gesagt hatte, die sie nie über die Lippen würde bringen können, stand er im Abseits. So jedenfalls fühlte es sich an. Vielleicht sah er das anders. In letzter Zeit taten sie sich etwas schwer damit, miteinander zu reden. Oder sich auch nur nahe zu sein. Wieso, wusste Chara ebensowenig wie eine Antwort auf die Frage, was genau sie hier eigentlich sollte. Überhaupt gab es viel zu viele Fragen und viel zu wenig Antworten. Aber immer mehr setzte sich zumindest ein Gedanke durch. Er weckte sie morgens auf, wenn sie wider Erwarten doch noch eingeschlafen war, und er ließ sie nachts entspannt die Augen schließen, auch wenn der Schlaf sich trotzdem fernhielt. Der Gedanke war heilsam. Der Gedanke war das Steuer, das sie durch jede Ungewissheit, jede Verwirrung führte, weil sie es in der Hand hatte. Unabhängig von allen Akteuren, die sonst noch in dieses Spiel verwickelt waren …

Alles, was hier oder in Amalea passierte, alles hatte eine zugrundeliegende Ursache. Manche nannten diese Ursache Wahrheit.

Es gibt eine Wahrheit, die zum Wegweiser werden kann. Und diese Wahrheit konnte man suchen und finden.

Siralen ließ die Stirn auf ihre über dem offenen Tagebuch gefalteten Hände sinken und schloss die Augen. Tauron Hagegard liebt Siralen Befendiku Issirimen. Es kam noch besser: Tauron Hagegard, Menschensohn und Piratenadmiral, wollte Siralen Befendiku Issirimen aus dem Geschlecht der Elfen, Tochter eines Verräters am eigenen Volk, zur Frau nehmen. Ein Pirat, der für seine launenhaften Affären bekannt und bewundert wurde, wollte sich für sein restliches, zweifelsohne kurzes Leben an nur eine Frau binden. Und diese Frau war sie.

Gleich, welche Gefahren dort draußen lauerten, gleich, wie sehr ihr die Verantwortung zusetzte, die sie auf sich geladen hatte, oder wie viel der Entbehrung sie alle, die sie hier einer schier unmöglichen Mission folgten, ertragen mussten, der Alleine hatte sie mit einem Wunder gesegnet. Tauron würde sie heiraten. Es würde eine Hochzeit werden, die Menschen- und Elfenherzen gleichermaßen erstrahlen ließe. Ja, wenn es nach ihr ginge, sollten auch die Zwerge ihre Freude daran haben. Und wie sie ihren zukünftigen Mann kannte, teilte er ihre Meinung. Tauron machte keinen Hehl daraus, dass es ihm völlig einerlei war, ob Elf, Zwerg, Kentaur, Fee oder Vogelmensch … ob Wirtsfrau, Kriegsveteran, König, Bootsmann oder Meisterdieb …, wenn er oder sie das Herz nur am rechten Fleck hatte.

Langsam kam Siralen auf die Beine, schloss das Tagebuch auf der Truhe, vor der sie gehockt hatte, blickte sich im Zelt um und stellte fest, dass sie ihren Leinensack für die Rückkehr auf die Meerjungfrau bereits gepackt hatte. Sie würden erst in ein paar Tagen ihren Gang in die Wüste antreten, dann, wenn der Brückenkopf fertig ausgebaut und weitere Truppen angelandet waren.

Ihre Hand glitt zu ihrem Hals und ertastete die Kette mit dem in Silberranken eingefassten Samenkorn. Für einen nichtigen Moment schloss sie die Augen. Sie sah sich mit Tauron am Bug des Kommandoschiffs stehen, während die anderen Besatzungsmitglieder grölend den Jahreswechsel feierten, und vernahm die Worte, die das Eis in ihrem Herzen zum Schmelzen gebracht hatten: „Es ist ein Symbol für die aufkeimende Bindung zwischen uns.“

Schön und gut, jetzt mussten sie erstmal die Verbündetensuche vorantreiben. Tauron hatte ebenso alle Hände voll zu tun wie sie und Chara. Schon die logistische Herausforderung, alle Teilflotten der Reihe nach in Küstennähe vor Anker gehen zu lassen, sodass alle Schiffe aufgerüstet und mit dem spärlich vorhandenen Wasser versorgt werden konnten, war Auftrag genug. Dazu kamen all die ungelösten Probleme. Die Angriffe der Schwarzen Schiffe, die laufende Bedrohung durch die noch unbekannten Verräter von Chaosbündnisseite, das Auftauchen der Dragatisten, Lask Cisch und seine schmutzigen Manifeste, die auch jetzt noch für Unruhen im Flottenverband sorgten …

Der Landgang war wie die Rettung aus der Isolation, in die sie der endlose Ozean gezwungen hatte. Der Wermutstropfen? Wüste! Totes Land. Aber wie Siralen es bereits gesagt hatte: „Es mag eine Wüste sein, aber wir werden Leben in ihr finden.“

Amieprain! Sie hatten es gefunden. Mochte es auch tödlich sein. Nichts, das den Tod bringt, ist gefeit vor der Sehnsucht nach dem Leben.

Siralen hob den Kopf und entspannte ihre Schultern. Tauron hatte sie mit seiner fraglosen Liebe wiederbelebt. Und nun empfand sie selbst nichts als Liebe. Mochte sie der Alleine davor bewahren, dass ihre Liebe wie jene des Vaters Tote forderte.

Mit einem leisen Seufzen trat sie neben das Lager und hob ihr Gepäck auf. Sie warf sich den Leinensack über den Rücken, nahm das Schwert in der Lederscheide von der Mittelzeltstange und schob die Zeltplane zurück. Der Morgen graute und empfing sie mit dem ersten Licht der Sonne, deren Strahlen über den Ozean Richtung Ufer gierten …

… und von einem Meer aus Metallhelmen zurückgeworfen wurden.

Siralen zwinkerte und machte einen Schritt zurück. Was, beim Alleinen …

Kaum einen Steinwurf entfernt standen in einem Karree aus rund siebenhundert Kriegern die schwer bewaffneten Truppen des zweiten Bataillons auf dem freien Platz zwischen den Kommandozelten. Finstere Blicke nahmen sie in Empfang und ließen ihren Magen auf die Größe eines Gerstenkorns schrumpfen.

„Kommandantin!“, schmetterte ihr erbarmungslos die Stimme des Brigadiers Ragna MacGythrun entgegen. „Hiermit fordere ich Euch auf, Euer Amt als Befehlshaberin der Landstreitkräfte zurückzulegen!“

Siralens Rucksack rutschte von ihrer Schulter und landete mit einem leisen Flap auf dem Boden. Sie blickte über die angetretenen Soldaten hinweg und erspähte Chara. Die Flottenoberkommandantin schritt gerade mit vier ihrer Leibwachen die linke Flanke der Einheit entlang, die sich hinter Ragna MacGythrun formiert hatte. Während die Dad Siki Na ihre Stabkeulen bereithielten, blieb die Assassinin stehen. Sie befand sich jetzt genau an der Ecke des Karrees aus Soldaten.

Siralen kämpfte darum, ihr polterndes Herz zu beruhigen. Einen Lidschlag lang hatte sie geglaubt, Chara würde auf Seiten des Brigadiers Position beziehen. Doch …

„Siralen wird nichts dergleichen tun“, sagte die Flok stattdessen und fixierte den Brigadier mit ihrem Blick. Dann blickte Chara langsam über die Köpfe der Soldaten hinweg. Sie stand exakt an der Flanke der ersten Reihe, sodass sie freie Sicht auf Ragna MacGythrun hatte. Hinter den Männern und Frauen der dreißig Kompanien, darunter zehn Schützenkompanien, stand das Strandtor offen und Chara vernahm das leise Glucksen der Wellen in der Ferne.

Es war erst gestern Abend gewesen, dass der Brigadier sie aufgesucht und ihr erklärt hatte, er wünsche Siralens Rücktritt. Was eigentlich recht anständig von ihm war. Nicht, dass er Siralens Abdankung wollte, sondern dass er sie, Chara, vorgewarnt hatte. Im Gegenzug hatte sie ihm ihr Wort gegeben, sich aus dieser Angelegenheit herauszuhalten. Es war eine Angelegenheit des Militärs und damit Siralens Sache. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Chara die Elfenkriegerin noch vor so etwas gewarnt. „Man kann es nicht allen recht machen.“

Ja, man musste es sich verdammt gut überlegen, wem man den Löwenanteil seiner Aufmerksamkeit schenkte. Die Landstreitkräfte bildeten neben den Seefahrern die größte Fraktion innerhalb der Expedition. Und offensichtlich fühlten sie sich von ihrer elfischen Kommandantin ans Bein gepinkelt. Warum? Sicher nicht, weil Siralen das Wohl ihres eigenen Volks über das der Menschen stellte. Die Elfe hatte bewiesen, dass sie mit Menschen ebenso zurechtkam wie mit ihresgleichen – jedenfalls mit den Zivilisten. Aber die menschlichen Militärs suchten nach einem Anführer, der den Kampf suchte, liebte und in der Schlacht verkörperte. Elfische Krieger waren da ganz anders. Sie beugten sich jedweder Autorität, die vom Elfenrat in ihr Amt gehoben worden war. Siralen hatte in den letzten Monden erkennen lassen, dass sie keine Kriegerin war, jedenfalls nicht vom Format, wie es ein Vollblutkrieger wie Ragna MacGythrun von seiner Befehlshaberin erwartete. Sie hatte die Kriegerin in ihr in den Schatten der Diplomatin gestellt. Leider wollten die Soldaten keine Diplomatin als Anführerin. Und das hier war der Beweis dafür: siebenhundert unzufriedene Soldaten, darunter genug Elfenhasser, die unter einem verstimmten Brigadier zu meutern beabsichtigten.

Ragna MacGythrun hatte sich zusammen mit der Offizierin Sislin Frejasdöttir und dem Brigadiersanwärter Agawen O’Hara vor seinen Truppen aufgebaut und wartete nun darauf, dass Chara ihre Einmischung erklärte …

Leider hatte Ragna MacGythrun die Sache gerade zu einer des öffentlichen Interesses gemacht. Das war nicht abgemacht gewesen. Eine offene Rebellion gegen ein Kommandomitglied war gleichbedeutend mit Meuterei gegen das gesamte Kommando.

Bestandsaufnahme: Die Seefahrer hätten vor nicht allzu langer Zeit beinahe gegen die Flottenoberkommandantin gemeutert, mit anderen Worten gegen sie, Chara. Es kam nicht dazu, weil Roella Kalladan sie rechtzeitig warnte, sodass sie, Chara, die Meuterei abwenden konnte. Jetzt meuterte der Brigadier gegen seine Kommandantin. Wenn er damit durchkam, war für jedermann ersichtlich, dass es erstens sehr angesehene unzufriedene Mitglieder in der Allianzflotte gab und zweitens die Möglichkeit zur Rebellion bestand. Man musste sich nur mit den richtigen Leuten verbünden. Schlussfolgerung: Es wird keine Meuterei geben. Weder heute, noch irgendwann.

Chara registrierte einen Schatten, der förmlich mit der Seitenwand des Kommandozeltes verschmolz, das sich neben Siralens Zelt befand. Es waren höchstens zwanzig Schritt, welche die Gestalt, die sich dort verbarg, vom Brigadier trennten. Wenn sie richtig sah, hatte der Schatten einen Bogen gespannt und auf den Brigadier gerichtet. Und wenn sie den Schützen richtig einschätzte, war die Pfeilspitze vergiftet.

„Ich würde mich an Eurer Stelle zurückziehen, Frau Flottenoberkommandantin“, holte sie die Stimme Ragna MacGythruns in die Wirklichkeit zurück. „Wenn die Kommandantin der Landstreitkräfte von ihrem Posten zurücktritt, werden meine Leute ihre Waffen stecken lassen und die Sache hat sich erledigt.“

Chara ließ Lindawen aus ihrem Gesichtsfeld gleiten und sah den Brigadier an. Doch bevor sie antworten konnte, zog etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie vernahm das leise Platschen von Rudern in der Ferne. Auf dem Meer jenseits der Palisade tat sich etwas …

„Leider kann ich mich nicht zurückziehen“, erwiderte sie und lauschte angestrengt auf die Rudergeräusche. Tatsächlich. Da näherten sich Boote. Wie viele? Welche Männer? Unter wessen Kommando? „Was Ihr da angezettelt habt, ist Meuterei!“

„Achtung!“, brüllte Ragna MacGythrun. „Zum Strandtor ausrichten!“

Wie ein Mann schwenkten die Soldaten des zweiten Bataillons herum und standen erneut still – dieses Mal mit Blick zum Tor und bedeutend angespannteren Gesichtern als noch vor einem Augenblick. Jetzt hörte man den dumpfen Aufschlag vieler Stiefel, die im Sand landeten. Dann das Knirschen von Sand und das leise Rasseln von vereinzelten Kettenhemden. Wenig später drangen die Geräusche bewaffneter Männer durch die Schleuse des Torbereichs. Und dann tauchten sie auf. Mit gezogenen Krummsäbeln, Schwertern, Äxten und Messern drängten sie zwischen den offenen Torflügeln hindurch auf den freien Platz. Es war davon auszugehen, dass es sich nur um einen Teil der Seemänner handelte. Der andere besetzte sehr wahrscheinlich die Schiffdecks, um die Ballisten und Hornissen zu laden und zum Stützpunkt hin auszurichten.

An der Spitze der Piraten erkannte Chara die beiden Anführer. Es war der Admiral höchstselbst, und der riesige Vallander und Vizeadmiral der ersten Flotte Alwin Hjellgard.

Das bewaffnete Gefolge der beiden Seebären bestand aus einfacher Piraten. Doch dann … Chara sah genauer hin. Jetzt erkannte sie die eigentliche Zusammenstellung: Vallander. Tauron Hagegard und Alwin Hjellgard führten ausschließlich Vallander in den Kampf. Ähnlich wie Ragna MacGythrun. Und jeder wusste, dass Vallander sich seit der Eroberung Vallands durch die Tulurrim höchst ungern gegenseitig bekämpften. Natürlich hatte das, wie alles, eine Vorgeschichte. Kurz bevor die Tulurrim in Valland einfielen, hatten sich die bis aufs Blut verfeindeten Stämme der Freden, Aeglier, Godren und Veidaren widerwillig zusammengerauft, um ihr Volk zu retten und, Al’Jebal sei Dank, ein neues Leben in Aschran zu beginnen. Fast wären sie alle draufgegangen. So etwas schweißt bekanntlich zusammen. Bargh wäre stolz gewesen, hätte er die Verbrüderung seiner Landesgenossen noch erleben dürfen. „Ganz und gar nicht barbarisch“, hätte er gesagt und von einem zum anderen Ohr gegrinst.

Schweigend beobachtete der Brigadier, wie Tauron und Alwin Hjellgard samt ihren Männern über den Platz auf seine Truppen zuhielten. Zugegeben, es waren um einige weniger als die Krieger des Brigadiers. Doch es reichte, dass Ragna MacGythrun seinen Männern befahl, die Waffen zu ziehen. Kurz darauf standen sich Vallander und Vallander Auge in Auge gegenüber – Piraten gegen Soldaten.

Tauron spähte zu Siralen, dann suchte er Chara in der Menge. Irgendwie musste der Admiral Wind davon bekommen haben, was MacGythrun plante. Vielleicht steckte aber auch Kerrim dahinter. Vielleicht hatte der Bruder etwas aufgeschnappt, gezwitschert und Tauron … Offensichtlich wusste der Admiral mittlerweile, auf welcher Seite er stand. Wenn nicht auf ihrer, dann doch zumindest auf Siralens.

„Also Ragna!“, lenkte Chara ihr Augenmerk erneut auf den Brigadier. „Die Lage hat sich geändert.“

Ragna MacGythruns Gesicht blieb hart wie Granit. „Mag sein. Meine Entscheidung aber nicht.“ Genauso sah er auch aus – wild entschlossen. Gerade wollte Chara ihn daran erinnern, dass auf Meuterei die Todesstrafe stand, da kam ihr Siralen zuvor.

„Ich werde nicht zulassen, dass wir einander bekämpfen wie gemeine Gegner auf dem Schlachtfeld. Wir sind des Friedens Willen hier. Frieden für jene, die in unserer Heimat dem Chaos entgegentreten müssen. Frieden für uns, die wir seit mehr als einem Jahr ums nackte Überleben kämpfen. Wir sind hier, um Frieden mit den Einwohnern dieses Landes zu schließen. Und es ist so gewiss wie der Wille des Weltgeistes, dass ich um des Friedens willen keinen Kampf in den eigenen Reihen toleriere.“ Sie trat unter dem Vordach ihres Zeltes hervor und blickte dem Brigadier gerade in die Augen. „Wenn es Euer und der Wunsch des Regiments ist, trete ich von meinem Posten als Kommandantin der Landstreitkräfte zurück.“

„Dieses Pferd hast du verpasst, Siralen“, warf ihr Chara entgegen. „Die Meuterei, die du verhindern willst, ist bereits in vollem Gange.“

„Haltet Euch da raus, Frau Flottenoberkommandantin!“, grollte der Brigadier.

Chara öffnete ihren schwarzen Ledermantel und ein alarmiertes „Hoi!“ seitens Nok, Iti, Og und Ata durchbrach die Stille. „Das kann ich nicht. Ihr habt es zu meiner Angelegenheit gemacht.“

Eine knappe Bewegung im Schatten neben der Kommandozentrale ließ Chara einen schnellen Blick riskieren. Lindawens Pfeilspitze war exakt auf Ragna MacGythruns Kopf gerichtet. Der Lichtjäger spielte dasselbe Spiel wie Kerrim. Es hieß: Niemand weiß, wo ich bin, was ich plane und wann ich zuschlage. Der Assassine und der Lichtjäger …

Es war klar, was Lindawen ihr sagen wollte: Wenn der Brigadier den Befehl zum Angriff gab, würde es nicht nur Tote geben, es würde auch verdammt gefährlich für sie, Siralen und die Piraten werden. Und im Falle eines Sieges hätte der Brigadier alle Karten in der Hand, um das Expeditionskommando endgültig Geschichte sein zu lassen.

Langsam schüttelte Chara den Kopf und Lindawens Pfeilspitze senkte sich Richtung Erde – wenn auch sehr zögerlich.

„Ich werde jetzt von Fünf abwärts zählen“, rief ihr der Brigadier zu. „Wenn Eure Leute dann die Waffen nicht weggesteckt haben, gebe ich den Befehl zum Angriff.“

Chara nickte nur. Wenn ihr schon mal jemand so offen die Stirn bot, dann würde sie ihm ebenso offen entgegentreten. Hatschmaschin hin oder her. Und bei genauerer Betrachtung, sie war ja gar keine Assassinin mehr.

„Fünf!“, dröhnte Ragna MacGythruns Stimme über die blitzenden Helme seiner Soldaten hinweg.

Das Problem war, dass sie ihre Zweililie nicht dabei hatte.

„Vier!“

Genaugenommen hatte sie gar keine brauchbare Waffe mitgenommen.

„Drei!“

Die Dad Siki Na gingen in Kampfposition, und Chara maß die Distanz zwischen ihr und dem Brigadier. Etwa zehn Schritte. Das war weit.

„Zwei!“

Binnen eines Herzschlags hatte Chara sich ihres langen Mantels entledigt …

„Eins!“

… und sprang.

Siralen sah nur, wie Charas schwarzer Mantel fiel. Danach sah sie erst mal gar nichts. Aber als sich Charas Leibwächter in Bewegung setzten, wurde ihr klar, dass Chara den Brigadier gerade angegriffen hatte – mit einem gezielten Sprung. Einem Sprung, der sie zehn Schritt weit durch die Luft wirbeln hatte lassen. Siralen biss sich auf die Lippen. Und das Ganze meinetwegen.

Sie zog das Schwert aus der Lederscheide, aber an Angriff war nicht zu denken. Wen sollte sie angreifen? Chara oder MacGythrun? Wer machte hier gerade einen Fehler? Machte überhaupt irgendjemand einen Fehler, abgesehen von ihr, Siralen, der ungeeignetsten Befehlshaberin weit und breit.

Chara hatte Ragna MacGythrun einen Tritt gegen die Schulter versetzt. Der Brigadier geriet aus dem Gleichgewicht und taumelte zurück, sodass die Assassinin vor ihm auf dem Boden landete. Unvermittelt holte sie mit der Faust aus und schlug zu. Entsetzt verfolgte Siralen das eigentlich Unmögliche. Charas Schlag war so massiv, dass ihre behandschuhte Rechte durch Ragnas Brustpanzer krachte. Durch den Brustpanzer und …

Als sich Ragnas Augen vor Schmerz weiteten, wusste Siralen, dass Chara nicht nur das Metall der Rüstung durchschlagen hatte. Ragna spuckte Blut, sein Blick war starr auf seine Angreiferin gerichtet. Als diese ihre Faust zurückzog, klappte der Brigadier zusammen, als hätte er einen Schlag in den Magen bekommen. Leider war es viel schlimmer als das.

Der blutverschmierte Lederhandschuh an Charas Hand legte Zeugnis davon ab, dass die Flottenoberkommandantin buchstäblich ins Schwarze getroffen hatte. Jetzt stand sie da und blickte auf ihr Opfer hinab. Ragna MacGythrun griff zitternd nach seiner Brust. Seine Rippen waren zweifelsohne gebrochen. In der Lunge dahinter klaffte ein schwarzes Loch.

Es wurde still auf dem Platz. Die Truppen starrten auf ihren röchelnden Kommandanten, dann auf Chara. Niemand wagte es, zu handeln oder sich auch nur zu bewegen. Ohnmächtig verfolgte Siralen, wie Chara neben ihrem Gegner in die Hocke ging. Sie murmelte etwas, das Siralen nicht verstehen konnte. Ein Beben schüttelte MacGythruns starken Körper. Seine Augen flatterten. Dann schlossen sie sich.

Eine Weile bewegte sich Chara nicht. Dann stand sie auf und wandte sich zu den Soldaten um. Schockierte und verunsicherte Blicke streiften sie. Schließlich gellte ein neuer Befehl über den Platz. Diesmal stammte er vom Brigadiersanwärter Agawen O’Hara: „Bereit zum Angriff!“

Jetzt hoben sämtliche Soldaten des zweiten Bataillons ihre Waffen zum Kampf und fokussierten die Seemänner, die ihrerseits in Kampfposition übergingen. Doch nichts geschah. Wieder schien die Zeit stillzustehen. Siralen flehte, dass die Vallander ihren Patriotismus über ihren militärischen Gehorsam stellten. Im Augenblick sah es tatsächlich so aus. Die Luft zwischen den beiden Allianzfraktionen schien wie aufgeladen. Die Krieger befanden sich in einem ausgewachsenen Dilemma – ein militärischer Aufstand oder ein Kampf gegen die eigenen Landsleute? Was war wohl das schwerwiegendere Verbrechen?

„Euer Brigadier ist tot!“, rief Chara. „Beendet diese Rebellion und wählt einen neuen!“ Sie sah Agawen O’Hara an und wartete darauf, dass er ein Machtwort sprach. Doch nicht O’Haras Stimme, sondern die eines anderen Würdenträgers erhob sich über das Knirschen der Rüstungen des zweiten Bataillons. Die Stimme hatte einen warmen, freundlichen Unterton. Zugleich war sie kühn und entschlossen.

„Agramon will, dass ihr eure Feinde hämmert, nicht eure Freunde!“

Telos Malakin betrat den sandigen Boden des Platzes und steuerte im Geleit von fünf Ordenskriegern auf Chara zu, die sich mittlerweile erneut im Ring ihrer Leibwachen befand. Seine weiße Toga blähte sich im Wind, seine Rechte ruhte auf dem Kopf des Kriegshammers in seinem Waffengürtel, seine grauen Augen auf seiner alten Kampfgefährtin. „Im Namen der Priesterschaften beschwöre ich euch, diesen Kampf nicht auszufechten“, wandte er sich schließlich an O’Hara. „Wir befinden uns auf feindlichem Boden und könnten jederzeit von unseren Gegnern angegriffen werden, die uns noch dazu überlegen sind. Dies ist der falsche Zeitpunkt für eine Rebellion!“

Chara zog sich die blutverschmierten Handschuhe aus und warf sie zu Boden. Eine eindeutige Geste.

Nun gut. Siralen fasste sich ein Herz und trat zur Gänze aus dem Schatten ihres Sonnensegels. „Ihr habt Oberhohepriester Telos Malakin gehört. Ich schließe mich ihm an. Wir müssen uns auf einen Feind vorbereiten und sollten unseren Freunden nicht in den Rücken fallen.“ Entschlossen hielt sie auf Chara zu und positionierte sich an ihrer Seite. „Ich gebe euch mein Wort, dass ich mit eurem neuen Brigadier gemeinsam entscheide, ob ich das Kommando behalte oder dieses abgebe. Ich respektiere eure wie auch die Meinung Ragna MacGythruns. Wenn euer neuer Brigadier derselben Meinung ist und diese in eurem Namen vorbringt, werde ich sie hören und mich ihr beugen.“

Das war ein Angebot, das dem Brigadiersanwärter eigentlich gelegen kommen sollte. Seine Soldaten gehorchten im Augenblick nicht so, wie sie sollten. Die Priesterschaften, oder doch zumindest die Agramon-Priesterschaft, stellte sich auf die Seite des Expeditionskommandos, und die Aussicht auf den neuen Posten eines Brigadiers war verlockend genug, um auf der sicheren Seite zu bleiben. Dazu kam, dass noch immer eine recht beängstigende Zahl vallandischer Seekämpfer gegen die Rebellion stand, die Ragna MacGythrun angezettelt hatte.

Ich brauche einen Adjutanten, dachte Siralen und betete zum Weltgeist, er möge diese undankbare Situation beenden. Jemanden, der mir zeigt, was es bedeutet, ein menschliches Heer anzuführen.

„Waffen wegstecken!“, sprach O’Hara endlich ein Machtwort. „Wir haben Brigadier Ragna MacGythrun die letzte Ehre zu erweisen.“

Sedag, 1. Trideade im Bärenmond / 349 nGF

Die Welt ist keine Scheibe.

Sie besitzt kein Oben, kein Unten. Da ist kein Anfang, kein Ende, kein linker oder rechter Rand. Es gibt keine zwei Seiten, von denen eine brauchbar, die andere unbrauchbar wäre, weder eine, die zum Himmel zeigt, noch eine, die über dem Abgrund schwebt. In einer Welt wie dieser gibt es kein „wahr“ oder „falsch“. Es gibt keine klaren Grenzen oder die echte, absolute Freiheit.

Denn diese Welt hat keine zwei Seiten. Sie hat überhaupt keine Seite.

Es gibt nur ein Gesetz in dieser Welt, die keine Scheibe ist – den Wandel.

Es gibt nur einen wirkungsvollen Blickwinkel in einer Welt wie dieser, die keine simple, duale Sicht der Dinge zulässt. Jene Sichtweise, die so viel an Eindrücken zulässt, wie wir wahrzunehmen imstande sind. Wir können im Augenblick des Entscheidens nur versuchen, alles zu erkennen, was ist und um uns herum wirkt. Und während wir, von der Unzahl an Eindrücken geplättet, zu verstehen beginnen, dass wir unmöglich alles erwägen können, macht sich unsere Intuition bemerkbar. Sie ist die Rettung aus der Verwirrung, ein fassbarer Hinweis in einem unfassbaren Gewirr von Halbwahrheiten und Scheinerkenntnissen.

Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht, was richtig oder falsch ist, gut oder böse, sinnvoll oder unsinnig. Niemand von uns. Ob wir nun herrschend oder dienend sind, wegweisend oder gewiesen.

Worin besteht die Bürde eines Kommandanten?

Wo ein Licht leuchtet, dort fällt zweifelsfrei auch ein Schatten. Und weil es ein Wahr oder Falsch nicht gibt, wird der Kommandant stets von beidem begleitet – Hell und Dunkel. Seine Entscheidungen sind nie nur richtig und selten nur falsch. Meistens sind sie beides.

Ragna MacGythrun ist tot. Dies war meine Entscheidung. Es war einer dieser Momente, in denen mich meine subjektive Wahrnehmung ein Urteil fällen ließ, das relativ richtig oder relativ falsch sein muss, aber in jedem Fall nicht die ultimative Lösung des Problems darstellt, die es nicht gibt.

Ragna ist tot. Für ihn ist es irrelevant, ob sein Tod richtig oder falsch ist, oder ob irgendein Problem dadurch gelöst wurde. Die Probleme, die er zu lösen versuchte, sind für Ragna Vergangenheit, seine Sicht der Dinge hinfällig. Für Ragna gibt es kein Morgen mehr, das es ihm ermöglicht, einen Beitrag zu leisten – weder zum Guten, noch zum Schlechten. Und diese Entscheidung traf er nicht selbst.

Ich habe für ihn entschieden. Ich entschied, dass Ragna keinen Einfluss mehr haben wird. Weder auf mich, noch auf dieses Expeditionskommando, noch auf seine Leute oder diese Mission. Ragna MacGythruns Name wird verblassen. Er wird in all dem, was noch kommen wird, untergehen. Seine Spuren, Spuren, die zweifelsohne bedeutend für alles sind, was wir noch erreichen werden, sie werden verschwinden, als hätte es ihn nie gegeben. Dies ist die tragische Seite an Ragnas Tod.

Ragnas Tod ist weder noch. Dass eine Entscheidung wie jene, die ich traf, ein Alles oder Nichts für meinen Gegner bedeutete, ändert nichts daran, dass sie für den Rest genau genommen nichts bedeutet. Ob Ragnas Tod sinnvoll war, kann sein oder auch nicht sein oder beides. Ragnas Tod ist damit null und nichtig. Dass ich sein Leben beendet habe, ist unwichtig.

Ja, da ist es wieder – das Drama, das mich zum Lachen reizt.

Ich wollte nicht, dass es so kommt. Ich wollte nicht, dass der Mann, mit dem ich einen Tag vor seinem Tod noch klare Worte wechselte, durch meine Hand stirbt. Und doch, als Ragna fiel, durchströmte mich ein Gefühl bodenloser Euphorie. Ich war noch im Rausch des Kampfes, dem wild pochenden Verlangen, den Feind in den Boden zu rammen. Der dumpfe Aufprall seines Körpers vor meinen Füßen versetzte mich in Hochstimmung. Doch als ich mich über seinen zerschmetterten Körper beugte, verstummte das Hochgefühl. Mein Siegestaumel wich einer seltsamen Benommenheit. Und da begriff ich zum ersten Mal, dass ich mit meinen Entscheidungen Türen zuschlage, die sich nie wieder öffnen lassen werden.

Ich nahm Ragna die Freiheit, selbst zu entscheiden. Ich beendete sein Leben. Ich beendete alles, was für Brigadier Ragna MacGythrun noch möglich gewesen wäre oder hätte sein können.

In diesem Moment, da ich meinem Gegner in die Augen sah, verstand ich, was genau es bedeutet, ein Leben zu beenden: Den absoluten Stillstand. Alle Türen geschlossen, alle Wege versperrt. Für den Toten gibt es kein Morgen. Damit verblasst sein Gestern, sein Jetzt.

Denn wer erinnert sich am Ende dieser Mission noch an den Brigadier, der irgendwann einmal dafür sorgte, dass ein Brückenkopf errichtet wurde, oder der sich darum bemühte, dass seine Kommandantin, die Elfe, mit einem Mindestmaß an Respekt empfangen wird, als sie das erste Mal vor die Augen ihrer Soldaten trat – damals auf Siralens Archipel? Wer erinnert sich an einen Mann, dessen Name nie über seine Taten hinauswachsen konnte, weil er nicht „Held der Allianz“ geheißen wurde wie jene, die ihn tötete?

Das ist die Ironie in einer Welt wie dieser.

Ob die Entscheidung, jemanden bluten zu lassen, ihn über die Klinge springen oder sterben zu lassen, gut oder schlecht ist, wissen wir nicht. Wir wissen nicht, ob wir gute oder schlechte Kommandanten sind, denn wir sind weder noch. Wir wissen nicht, ob wir wahre oder falsche Ideale vertreten, denn kein Ideal kann als absolut bezeichnet werden. Also ist es weder noch.

Die Welt ist keine Scheibe. Es gibt keine zwei Seiten. Es gibt unendlich viele Seiten, unendlich viele Halbwahrheiten und ebenso viele Scheinerkenntnisse.

Also, warum fragen? Warum zweifeln?

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende

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