Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende - J. H. Praßl - Страница 25

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Ein seltsamer Vermittler

„Wir werden euch töten.“

Siralen schloss fatalistisch die Augen. Dass der Rote es aussprach, machte die Befürchtung zu einer alptraumhaften Tatsache. Sie würden hier sterben – mitten in der Wüste – weit, weit weg von der Meerjungfrau und Tauron.

Sie waren erst seit wenigen Augenblicken zurück – der Rote und der Braune. Wenn der Beschluss nicht so vernichtend gewesen wäre, hätte sie so etwas wie Faszination gefühlt. Für die Tatsache, dass der Rote diesen auf Aschranisch vorgebracht hatte. Binnen kürzester Zeit hatte dieser Scorpio also ihre Sprache gelernt. Wie, das war ihr schleierhaft. Sie hatte angenommen, dass es sich bei diesen Kreaturen zwar um fähige Krieger handelte, nicht aber um geistig besonders gewandte Wesen. Wie so oft trog der erste Eindruck. Man dachte nur an die Fischwesen und ihre Art, sich zu artikulieren, die, der Weltgeist konnte es bezeugen, nicht eben auf eine besonders ausgeprägte Intelligenz hätte schließen lassen.

Siralen starrte den Roten an, ohne wirklich zu fühlen, was sie hätte fühlen sollen: Todesangst.

Vielleicht, weil sie noch nicht richtig realisiert hatte, dass sie sterben würde. Sie dachte nur an Tauron.

„Wir werden euch töten.“ Die Botschaft war eindeutig. „Ihr wissst nichtsss. Ihr ssseid nichtsss. Ssselbst über Ssschangra könnt ihr unsss nichtsss sssagen.“

„Wir haben euch gesagt, was wir wissen“, hörte sich Siralen stoisch antworten. „Und wenn ihr uns umbringt, löst ihr kein Problem. Ihr schafft euch eins. Bedenkt, dass man uns vermissen wird. Bedenkt, dass es jemanden gibt, der uns suchen, uns rächen wird. Es werden immer mehr von uns kommen. Uns zu töten, wäre nichts weiter als ein kleiner Zeitgewinn.“

Sie spürte förmlich, wie das letzte bisschen Gefühl aus ihrer Seele wich. Mit dem Verlust des Überlebenskampfes, den sie längst verloren hatte, verflüchtigte sich auch jegliches Gefühl in ihr. Trotzdem redete sie weiter, redete, als ginge sie das alles nichts mehr an: „Wir haben einen Weg in eure Heimat gefunden. Nicht nur unsere Seite, auch unsere Gegner wissen bald von diesem Ort. Es wird nicht aufhören.“

Einen Wimpernschlag schien es, als hätte sie nicht umsonst geredet. Die beiden Scorpios sahen einander an. Siralen spürte Charas Blicke auf sich, ignorierte sie aber.

„Dasss issst eine Lüge, um euer kleinesss, zssserbrechlichesss Leben zsssu retten“, rasselte der Rote.

Fatujen! Sie wusste ja selbst nicht, ob etwas an ihrer Aussage dran war. Es war möglich oder auch nicht, dass weitere Alliierte den Großen Abgrund überwanden. Und ob das Chaosbündnis dies zuwege brachte, war mehr als fragwürdig. Immerhin war Chara bis jetzt die Einzige, die einen Weg wusste, die Sturmfront zu durchbrechen. Sie und Sanduran der Seefahrer, von dem niemand wusste, ob er wirklich existiert hatte.

Aus dem Augenwinkel nahm Siralen eine Bewegung wahr und spähte zu dem Barden. Irwin hatte sich bei Ankunft der beiden Wüstenwesen hinter der Assassinin versteckt und griff jetzt unsicher nach Charas schwarzem Hemdzipfel. Als würde ihn die Tatsache beruhigen, die muskulöse Frau zwischen sich und ihren tödlichen Gastgebern zu wissen. Aber das war nicht der Grund dafür, dass Siralen ihn anstarrte. Tatsächlich war der Barde gerade dabei, sich in das Gespräch einzubringen. Und das überraschte sie einigermaßen.

„Ich glaube, ihr könnt es euch nicht leisten, das, was Siralen gesagt hat, in Frage zu stellen, oder?“, schob er hinterher. „Ihr könnt euch nämlich nicht sicher sein, dass sie lügt. Und wenn es die Wahrheit ist, werdet ihr in Zukunft immer in Gefahr sein. Wir dagegen …“ Er deutete theatralisch auf seine Brust, ohne Charas Hemdzipfel loszulassen. „… könnten euch garantieren, dass euch nach uns niemand mehr stört. Wäre das nicht viel besser als die Möglichkeit, ewig Angst zu haben? Vor Eroberern wie uns …“

Jetzt sah Siralen zu Chara. Die Assassinin sah aus, als könnte sie Irwins Worten etwas abgewinnen. Wieder folgte ein schweigender Blickwechsel zwischen den beiden Scorpios.

„Wir haben keine Angssst. Ihr riecht nach Angssst. Ihr ssseid nur Handlanger. Ihr dient. Ihr führt nicht an.“

Chara befreite ihren Hemdzipfel aus Irwins Umklammerung und machte einen Schritt auf den Roten zu. „Richtig. Wir dienen dem, dem die Blaks freiwillig folgen.“

Ein kurzes Zögern, dann: „Wir werden euch trotzsssdem töten. Ihr ssseid unbrauchbar. Ihr könnt unsss nicht sssagen, was wir nicht längssst wisssen. „

„Aber er könnte es.“

„Wer?“

„Unser Anführer. Der, dem auch Schangra folgte.“

Siralen musterte Chara argwöhnisch. Was redete sie da?

„Er issst nicht hier“, sprach der Rote Siralens Gedanken aus.

„Das stimmt.“ Chara sah aus, als würde sie angestrengt nachdenken.

„Aber es gibt einen Weg, wie ihr mit ihm sprechen könnt“, murmelte sie so leise, dass man sie kaum verstehen konnte.

Der Rote stieß ein verächtliches Zischen aus. Offenbar glaubte er Chara nicht.

„Wie?“

„Mit Hilfe von Magie. Wir können eine Verbindung zu unserem Anführer herstellen.“

War das etwa die Finte einer Assassinin?

„Dann ssstellt diessse Verbindung her“, folgte die erwartete Antwort.

Chara lächelte ihr halbfertiges Lächeln. „Ich habe den magischen Gegenstand nicht bei mir, den ich dafür brauche.“

Das Gesicht des Roten versteinerte. „Dann ssseid ihr nichtsss …“

„Aber ich habe ihn in unserem Lager. Ich kann ihn holen. Zusammen mit dem Mann, der ihn bedienen kann.“

Siralen stellte fest, dass sie Chara mit ihren Blicken förmlich durchbohrte. Sie konnte nur schwer glauben, was die Assassinin da von sich gab.

Schweigen erfüllte das Zelt wie zu dicke Luft. Eine Weile regte sich niemand, und Siralen fühlte die Blicke der Scorpios, die über sie, den Barden und Chara hinwegstrichen. Dann meldete sich erneut der Barde zu Wort.

„Was habt ihr schon zu verlieren?“ Seine Angst schien sich verflüchtigt zu haben. Er klang fast schon vorlaut, obwohl er seinen Kopf deutlich heben musste, um in das Gesicht des gewaltigen Scorpios zu blicken. Und das, obwohl Irwin wahrlich nicht zu den Kleinen gehörte. Vermutlich dachte er, Charas Angebot hätte eine solide Basis. „Wenn ihr Angst habt, dass Chara flieht …“ Er zuckte mit den Schultern. „Dann könnt ihr immer noch uns umbringen, oder nicht? Und danach kriegt ihr uns sowieso alle dran. Aber wenn sie die Wahrheit sagt, kriegt ihr eure Antworten. Über Schangra, die Tissahnen …“ Er öffnete einladend die Hände: „Na?“

Der Rote wandte sich seinem braunen Begleiter zu. Es wurde kurz gezischelt.

„Du hassst ein Sechssstel desss Sssonnenlaufsss“, sagte er schließlich. „Danach sssterben deine Freunde.“

Siralen knetete ihre Fingerknöchel. Das war kaum genug. Chara musste erst den ganzen Weg zum Lager zurück. Und das war ganz sicher deutlich mehr als einen Steinwurf entfernt. Danach musste die Assassinin noch etwas und jemanden finden und mitnehmen. Und doch, irgendwie fiel Siralen eine Last von den Schultern. Erst jetzt spürte sie, wie angespannt sie tatsächlich gewesen war. Sie hatte zwar keine Ahnung, was Chara vorhatte, ob sie nicht vielleicht einfach nur ihre eigene Haut retten wollte, aber zumindest hatten sie etwas Zeit gewonnen. Wenigstens würde man sie nicht sofort hinrichten. Und gleich, was über Chara geredet wurde, dass sie an ihrem eigenen Leben interessiert genug war, um eine solche Geschichte zu erfinden, war mehr als fraglich. Allerdings war es möglich, dass sie sich selbst für den Erfolg der Mission für unabdingbar hielt. Dann hätte sie in der Tat ein Interesse daran, ihr eigenes Leben zu schützen. Immerhin war sie nach Aussage des Fischkönigs ein Teil des Ursprungs …

Argwöhnisch verfolgte Siralen, wie die beiden Scorpios Chara in ihre Mitte nahmen und sie aus dem Zelt eskortierten. Die Assassinin drehte sich kein einziges Mal nach ihr und dem Barden um. Und das Gefühl, dass ihre Achtlosigkeit in Siralen auslöste, war alles andere als beruhigend.

„Helolilejen!“, seufzte sie und ließ sich auf die Knie fallen.

Chara rannte. Sie rannte so schnell, wie es ihre vom Sitzen und Liegen ungelenk gewordenen Beine erlaubten. Wie lange sie brauchen würde, konnte sie nicht einschätzen. Sie würde sich aber auch keine großen Gedanken darüber machen. Sie hatte ein klares, fassbares Ziel vor Augen und alles, was sie tun musste, um es zu erreichen, war schneller zu laufen, schneller zu packen und schneller zu reden. Darin war sie gut. Und alles andere interessierte sie erst, wenn es soweit war, also erst, wenn sie zurück im Lager der Scorpios war.

Die Geschwindigkeit, mit der sie durch die Wüste hetzte, trieb ihr den Schweiß von den Schläfen ins Haar. Dort oben stand, wie jeden Tag, die gleißende runde Scheibe und stieß ihre Strahlen unbarmherzig auf sie hinab. Unter ihren Stiefeln schien der Sand zu Treibsand zu werden. Sie war zu langsam. Die Schritte zu kurzgegriffen … Sap, sap, sap, machten ihre Stiefel im trockenen Sand. Die Zeit, die Zeit, die Zeit …

Seit Chara denken konnte, rannte sie gegen die Tatsache an, dass es zu spät sein könnte. Zu spät dafür, dass sie ihren Platz einnahm und ihren Beitrag leistete? Dass sie die ihr zugedachte Rolle spielte? Sie hatte immer daran geglaubt, dass des Einzelnen Wert sich an dem Zweck bemaß, den er erfüllte – für das Allgemeine –, aber zugleich glaubte sie, dass nichts eine Rolle spielte. Dass nichts, das getan werden konnte, je maßgeblich für irgendetwas und schon gar nicht für das große Ganze wäre. Die Assassinin in ihr lehnte jegliche Sinnhaftigkeit ab. Aber was war mit Chara? Und was war mit …

Eine wohlbekannte Felswand schob sich in ihr Gesichtsfeld. Die Gesteinsformation stieß nicht weit von ihr aus dem Sand – in ihrem Schatten das Plateau, auf dem sich das Allianzlager befand. Chara beschleunigte ihren Schritt. Erst als sie Kerrim und Lindawen erspähte, die am Rande des Plateaus auf- und abpatrouillierten und offenbar so etwas wie Wache schoben, bremste sie ab. Kerrim und Lindawen sahen sie nicht, jedenfalls nicht gleich. Aber dann fuhr Lindawen herum und Kerrim zog alarmiert ein Wurfmesser. Als er Chara sah, grinste er. Lindawen grinste nicht.

Und was ist mit …, nahm Chara den gedanklichen Faden wieder auf, wurde aber erneut unterbrochen.

„Na, sieh mal ainer an, main Schwesterchen ħat geschafft es żu fliehen.“

Chara lief bereits den Hang zur Plattform hoch. Als Lindawen auf sie zutrat und ihr eine der schweißnassen Strähnen aus dem Gesicht strich, griff sie wie selbstverständlich nach seiner Hand. Er half ihr über einen Felsvorsprung hinauf und sie kam neben Kerrim zum Stehen.

„Nicht ganz. Die haben mich gehen lassen.“

Lindawen ließ ihre Hand nicht los. Es fühlte sich gut an.

„Und wieso hätten sie das tun sollen?“, fragte er.

„Weil sie darauf hoffen, Antworten zu finden. So wie jeder andere, der keinen Plan hat.“

Lindawen musterte sie forschend.

Und was ist mit …, kehrte sie gedanklich wie auf vorgezeichnetem Weg zurück und wurde noch einmal unterbrochen.

„Und waiter?“, wollte Kerrim wissen.

Chara wand sich sachte aus Lindawens Griff und zog Kerrim ins Abseits. „Ich brauche dich. Du musst mit mir zurück zum Lager der Scorpios kommen.“

„Nichts lieber als das, Schwesterchen. Aber wieso?“

Chara zögerte. „Wir müssen mit Al’Jebal Kontakt aufnehmen.“

Kerrim zog den Kopf zurück, als wäre ihm ein übler Geruch in die Nase gestiegen.

„Du willst, dass ich vor aller Augen żu unserem Namai …“

„Er ist nicht mehr mein Meister.“

„Aber mainer. Die Möglichkhait, żu nehmen auf Kħontakt mit Al’Jebal ist ain streng gehütetes Gehaimnis. Das waißt du noch, oder?“

„Ich habe keine andere Wahl. Er muss mit den Scorpios reden.“

„Wieso?“

„Weil nur er ihre Fragen beantworten kann.“

„Wieso sollte er das tuen, Chara?“

Chara zuckte mit den Schultern. „Al’Jebal will die Scorpios als Verbündete …“

„Ich waiß, aber …“

„Na schön. Er will, dass ich lebe, richtig? Wenn er sich weigert, wird das Gegenteil passieren.“

„Was ist mit …“, vernahm sie Lindawens Stimme von dort, wo sie ihn stehen hatte lassen.

„… Siralen und Irwin?“ Chara sah ihn an. „Leben noch. Aber nicht mehr lange.“

Lindawen nickte. „Ich nehme an, du wirst zu den Scorpios zurückkehren.“

„Ja. Und ich muss mich beeilen. Noch haben mich die Dad Siki Na nicht gesehen.“

„Dann werde ich dich begleiten.“

„Nein, das tut schon Kerrim.“ Chara blickte Kerrim eindringlich an.

Schließlich nickte der Bruder. „Von mir aus. Aber wehe, du wainest nachher, wail Al’Jebal dir leset die Leviten. Du waißt ja, was passieret, wenn man ignorieret saine Befehle.“

Er dampfte ab. Chara spähte ihm hinterher. Und was ist mit …

„Bist du in Gefahr?“, vernahm sie Lindawens Stimme neben sich.

„Jetzt nicht mehr.“ Und ohne, dass sie es wollte, zog eine andere Gestalt ihren Blick auf sich – Lomond. Er stand im Abseits und musterte sie. Sie fühlte seine Blicke, auch wenn sein Gesicht nach wie vor unter dem Helm verborgen war. Sie fühlte ihn.

„Der MacDragul wollte dich retten“, vernahm sie Lindawens Stimme neben sich. „Er hätte dich gefunden. Behauptet er.“

„Und wieso hat er es nicht getan?“

„Kerrim beteuerte ihm, du wärst nicht in Lebensgefahr.“

Chara nickte. Der Blutsbruder in Kerrim spürte es, wenn sie lebensgefährlich verletzt war. Und Lomond war vermutlich schnell genug, um rechtzeitig am Ort des Geschehens zu sein. Kerrim hatte sich wahrscheinlich gedacht, besser, wir lassen Chara und den anderen noch ein bisschen Zeit, um zu tun, was immer sie gerade zu tun in der Lage waren.

Chara schüttelte sachte den Kopf. Als könnte sie die Gedanken an Lomond damit loswerden.

Und was ist mit …

Lindawen trat näher, und sein Schatten fiel auf ihr Gesicht. „Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe, Chara.“

Chara atmete tief ein, und ihr Blick kehrte zu dem Elfen zurück.

„Es hat sich nämlich nichts daran geändert.“

Und was ist mit Lask Cisch?

Irwin konnte es nicht fassen. Da war sie, die Flok, zusammen mit ihrem Bruder in Schwarz. Er hatte schon irgendwie daran gezweifelt, dass er sie je wieder zu Gesicht bekommen würde. Wieso sollte sie auch zurückkommen? Wegen ihrer hübschen, spitzohrigen Kollegin? Ganz bestimmt nicht. Wenn, dann einzig deshalb, weil, wenn er, Irwin MacOsborn, Sieger des Sängerwettstreits zu Haelgarde, unter ihrer Verantwortung sein Leben gelassen hätte, Chara ein Problem haben würde, und zwar ein richtig großes.

„Ist es wahr, was du erzählt hast, Chara?“, fragte er und beobachtete Chara dabei, wie sie Kerrim in den hinteren Zeltbereich begleitete, während die beiden Scorpios, wie schon vorher, im Eingangsbereich stehenblieben. Zu seiner grenzenlosen Empörung bekam er keine Antwort. Vielleicht lag es daran, dass er Chara die höfliche Anrede verweigerte. Dabei tat er das gar nicht absichtlich. Er fand nur, dass sich jemand, der sich auf Augenhöhe befand … na ja, außerdem verstanden sie sich ja ganz gut, sie beide.

„Wo issst euer Auftraggeber?“, zischte der rote Scorpio.

„Immer langsam mit den kħlainen Assassinen“, grummelte Kerrim, zog irgendeinen kugelförmigen Gegenstand aus seinem Umhang und setzte sich auf den Boden.

Irwin spürte, wie sein Herz schneller schlug. Aha. Die zwei Assassinen hatten also eine hübsche Kugel dabei. Kerrim stellte ein kleines Holzgestell auf, auf dem er das gläsern anmutende Ding platzierte. Chara war neben ihm und schien gedanklich in andere Dimensionen abgedriftet zu sein.

„Ihr blaibet am besten, wo ihr said“, meinte Kerrim und bedachte Irwin mit einem warnenden Blick.

„Ja doch“, knirschte er. Siralen nickte, und die beiden Scorpios machten ohnehin keine Anstalten näherzukommen und blieben nahe des Zelteingangs. Irwin versuchte trotzdem, sich zu den beiden Assassinen zu stehlen, wurde aber mit einem barschen „Was ich ħabe gesagt Euch, MacOsborn?“ abgemahnt.

Irwin schlurfte zu Siralen und ließ sich missmutig auf den Boden plumpsen. Und dann hieß es warten, was er gar nicht leiden konnte. Es passierte nämlich rein gar nichts. Vorerst. Aber dann …

Ein seltsam geisterhaftes Leuchten breitete sich im hinteren Zeltbereich aus. Guten Tag, da passierte anscheinend wirklich etwas Interessantes. Leider sah er rein gar nichts, weil Kerrim ihm und Siralen den Rücken kehrte und das Artefakt abschirmte.

Es knisterte leise, und eine tiefe, ziemlich angenehme Stimme erklang.

„Chara.“

Irwin erkannte die Stimme sofort. Er hätte sie sogar im Traum wiedererkannt. Der Sprecher der Allianz hatte nur einmal mit ihm geredet. Das war, als er den Sängerwettstreit gewonnen hatte. Es reichte auf jeden Fall, um sich in ein osborn’sches Gedächtnis zu brennen. Und das gelang beileibe nicht jedem.

„Al’Jebal.“ Charas Stimme. Na klar, wessen sonst? Chara saß Kerrim gegenüber und hatte damit einen Blick ins Zeltinnere. Komisch, Irwin hatte immer geglaubt, Assassinen würden den Alten vom Berg mit „Mein Meister“ ansprechen.

Al’Jebal sagte irgendetwas zu Chara, das Irwin nicht verstand. Der Alte hatte seine Stimme gedämpft. Wieso denn bloß? Sinn der Sache war doch, dass die Scorpios ihn verstanden. Und das würden sie bestimmt nicht, wenn er so leise redete.

„Ssschangra war rot“, wandte sich Chara an den Roten beim Zelteingang und beantwortete damit die erste Frage der Scorpios, wobei sie den Namen genauso aussprach wie Al’Jebal, der ihn wiederum exakt so aussprach wie die Scorpios.

„Er kämpfte an der Seite meiner Leute aus Freundschaft“, fuhr Chara fort und wiederholte damit wortwörtlich, was Al’Jebal sagte. „Dann wurde er schwach, krank und starb. Seine Lebensdauer war kurz.“

„Wasss war er?“, hakte der Rote nach.

„Er war ein Krieger. Er war einer eurer Anführer. Alle roten Scorpios sind Anführer. Ssschangra war stärker als die meisten von euch.“

Von Kerrim war nichts zu hören.

„Wasss ssseid Ihr?“

Irwin beugte sich vor. Er hörte gerade noch, wie Chara fragte, ob Al’Jebal die Frage verstanden hatte. Die Antwort des Allianz-Sprechers hörte er nicht.

„Ich bin ein Thanatane. In eurer Sprache, ein Tisssahne.“

Ach sooo.

Irwin spähte zu Siralen. Ein fassungsloser Blick seitens der Elfe. Sie wusste genauso wenig wie er. Und sie war genauso verwirrt wie er, als sie Al’Jebals Antwort hörte.

„Doch ich bin ein Ausgestoßener. Ich habe mich von allen Thanatanen Amaleas abgewandt. Ich habe mein eigenes Gebiet, meine eigene Allianz.“ Chara sah dem Scorpio unverfroren in die Augen. Fast, als wäre sie es, die die Antworten lieferte.

„Wir wollen Eure Leute hier nicht“, beharrte der Rote, und Chara sah wieder auf das Ding zu ihren und Kerrims Knien.

Der arrogante Ton, den der Rote ihnen gegenüber angeschlagen hatte, hatte sich verflüchtigt. Seine Stimme war respektvoll, jedenfalls ein bisschen. Allerdings hatte sich auch so etwas wie Zorn eingeschlichen. Oder war es Verachtung? Irwin war sich nicht sicher.

„Dann tötet sie“, kam Al’Jebals Antwort aus Charas Mund. „Doch beenden werdet ihr damit nichts. Es werden mehr von ihnen kommen. Aber das haben euch meine Leute ja bereits gesagt.“

Chara blickte auf, direkt in das Gesicht des Scorpios. „Lasst ihr sie am Leben, garantiere ich euch hingegen Sicherheit. Niemand meiner Allianz wird Fuß auf euren Boden setzen. Wir lassen euch in Ruhe.“

Der Braune und der Rote schossen Blicke hin und her. Draußen heulte der heiße Wüstenwind.

„Und die anderen? Die, die gegen euch kämpfen?“, nahm der Rote die Fragerei wieder auf.

„Mein Angebot gilt nur für die Allianz“, gab Chara Al’Jebals Worte weiter. „Für unseren Feind kann ich nicht sprechen.“

Der Rote rümpfte die Nase, und kurz sah es aus, als würde er sich über sich selbst ärgern. „Mit euren Feinden werden wir fertig.“

Das sagte er, sein Gesicht erzählte etwas anderes. Er wirkte aufgewühlt. Genauso wie sein brauner Freund. Die beiden tuschelten zischelnd miteinander. Irwin stieß ein verzweifeltes Seufzen aus. Wieso gaben sie nicht einfach nach? Was hatten sie denn davon, wenn sie ihre Gefangenen töteten?

„Weshalb hast du mich da hineingezogen, Chara?“

Chara stierte in die metallischen Augen, die ihren Blick einmal mehr in einen Sog zwangen. Wieso wusste Al’Jebal, was sie mit den Scorpios gesprochen hatten? Er hatte alle Antworten parat gehabt, als wäre er dabei gewesen, als sie und Siralen dem Verhör unterzogen worden waren.

„Wenn ich dich nicht miteinbezogen hätte, wäre ich jetzt tot.“

„Du hättest auch ohne meine Hilfe überlebt.“

„Dieses Mal nicht.“

Chara griff sich an die Phiole, die sie an einem Lederband um den Hals trug. Der „Lauschangriff“ ihres ehemaligen Namai musste damit zu tun haben. Das mächtige Artefakt, das er in einem unterirdischen Raum Tamangs versteckte, konnte es jedenfalls nicht sein. Seine Ausdehnung beschränkte sich, soweit sie wusste, auf Amalea.

Al’Jebal sah aus, wie sie ihn seit ihrem letzten Gespräch in Erinnerung hatte. Nur die schreckliche Narbe an seinem Hals war verschwunden. Al’Jebal … Nalsa La’Labej … Der Richter, wie ihn seine ehemaligen Freunde von Chaosseite nannten, heute der Alte vom Berg, Sprecher der Allianz und Anführer aller, die der Ordnung huldigten … Chara fragte sich, ob ihr ehemaliger Meister auch eine Chaostätowierung hatte, so wie Hakkinen Dragati, Garon Kostolem, der Magier in Cair Urd und verblüffenderweise sogar der konfuse Fusulos Konfusius, Zauberkundiger und Sprengstoffexperte in Al’Jebals Elite, offensichtlich ehemaliger Anhänger des Chaos. Und falls Al’Jebal keine mehr hatte … Wie hatte er sie wegbekommen?

Ein leises Rasseln riss sie aus ihren Gedanken.

„Lasst meine Leute gehen“, reagierte Al’Jebal. Chara wiederholte seine Forderung. „Ihr gewinnt damit Sicherheit.“

Der Rote schloss die Augen. Der Braune musterte ihn. Klar, nach allem, was Al’Jebal gesagt hatte, hatte der Rote das Sagen.

Chara war, als würde die Luft im Zeltinneren an Dichte gewinnen. Eine Schweißperle trat ihr auf die Stirn. Sie sah Al’Jebal an. Er sah zurück. Sein Blick sprach zu ihr. Sie verstand nur nicht, was er ihr sagen wollte. Doch es fühlte sich an, als läge darin etwas Versöhnliches. Immerhin war ihr letztes Gespräch nicht ihr bestes gewesen. Sie hatte aufbegehrt, er hatte sie freigesprochen. Danach, „Ende der Durchsage“. Doch jetzt, jetzt sah es aus, als würde ihr Al’Jebal erneut ein Versprechen abnehmen.

Komm zu mir zurück.

Chara atmete tief ein, und kurz war ihr, als würde sie seinen unverwechselbaren Geruch wahrnehmen. Das werde ich.

Der Rote nickte und hob seine gewaltigen Hände, als wollte er ein Angebot unterbreiten. Was er dann genaugenommen auch tat. „Wir lasssen Eure Leute gehen.“

Al’Jebal sagte nichts. Wahrscheinlich, weil er wusste, dass der Scorpio noch nicht fertig war.

„Aber sssie müsssen sssofort unssser Land verlasssen. Sssie bekommen fünf Sonnenhälften Zssseit. Dann müsssen ihre Ssschiffe verssschwunden sssein.“

„Danke“, erwiderte Al’Jebal schnörkellos, und Chara wiederholte für den Rest. „Dafür … und dafür, dass ihr unseren Feind bekämpfen werdet, wenn er zu euch kommt.“

Aha …

„Im Gegenzug habt ihr mein Wort, dass die Allianz euch in Ruhe lassen wird. Für immer.“

Erneut wirkten die Scorpios beunruhigt. Aber das war ja auch Sinn und Zweck der Übung. Damit waren die Verhandlungen zu Ende. Chara fokussierte ihren ehemaligen Namai.

„Es liegt nun an dir. Finde einen Weg, sie zu Verbündeten zu machen.“ Al’Jebal sah sie an, als gäbe es nur noch sie beide in dem riesigen Zelt. „Beobachte sie. Erkenne sie. Lerne von ihnen.“

„In fünf Tagen?“

„In fünf Tagen.“

Chara nickte. Das Bild über der Kugel flackerte. Dann zog Kerrim die Hand zurück und der Kontakt riss ab.

„Verdammet!“, knirschte er. „Ich kħrieg jedes Mal ain staifes Genick, wenn ich soll wieder mal straichelen diese Kħugel aine ħalbe Ewigkait.“

Chara ignorierte ihn. Sie hatte Siralens Blick aufgefangen und sah das Fragezeichen zwischen den schmalen Augen der Elfe.

„Ihr könnt jetzssst gehen und euren Leuten sssagen, dasss sssie auch gehen sssollen“, wandte sich der Rote an Kerrim. „Die hier bleiben alsss Geissseln vorläufig hier.“ Er wollte sich gerade aufmachen, dem Braunen aus dem Zelt zu folgen, da tastete sich zögernd etwas an Charas Gehirnwänden entlang. Sie spürte, wie ihr Verstand danach fischte, den Gedanken aber nicht richtig zu fassen bekam. Er wurde drängender, zupfte und zerrte an ihren Nerven. Dann rastete er ein.

„Wartet!“

Beide Scorpios drehten sich um.

„Die Blaks. Wo können wir sie finden?“

Der Rote machte kehrt und zischte irgendetwas Unverständliches, woraufhin der Braune die Augen zusammenkniff: „Wasss wollt ihr von den Blaksss?“

Volltreffer. Chara zuckte mit den Schultern. „Dasselbe, was wir von euch wollten. Sie sollen für unseren Anführer kämpfen. Zusammen mit uns.“

„Dasss werden sssie nicht.“

„Ihre Artverwandten in unserer Heimat tun es.“

„Die sssind andersss. Sssie sssind ssschwach.“

„Sind sie das …“ Chara unterbrach sich selbst. „Inwiefern?“

„Sssie sssind keine richtigen Blaksss. Die Blaksss werden sssie töten, weil sssie ssschwach sssind. Sssie töten ihre Ssschwachen und Kranken.“

Siralen mischte sich ein und wirkte einigermaßen entsetzt. „Wieso?“

„Die Ssschwäche desss Einzsselnen überträgt sssich auf sssein Volk. Je mehr ausss einem Volk ssschwach sssind, desssto ssschwächer dasss Volk.“

Kerrim schulterte den Beutel mit dem Artefakt und blickte auf.

„Und ihr?“

„Wir sssind ssstark. Nur die Ssstarken überleben. Wir kennen keine Angssst.“

„Und Schangra?“, fragte Chara.

„Ssschangra war einer unssserer Ssstärksssten. Er führte unsssere Armee gegen die Blaksss in den Krieg. Vor dem Sssieg verssschwand er.“

„Wollt ihr Krieg?“

„Wir wollen keinen Krieg. Aber er macht unssser Volk ssstärker.“

Chara spürte, wie ihr die Fragen ausgingen, und sah, wie Siralen angestrengt nachdachte, um weiterzumachen, wo sie nicht mehr weiterwusste.

„Wenn ihr so stark seid, wie ihr behauptet, wen müsst ihr dann überhaupt fürchten?“

Der Rote schoss einen gefährlichen Blick in Siralens Richtung, und kurz dachte Chara, dass sie garantiert keine Antwort auf diese Frage bekommen würden. Doch dann:

„Die Tisssahnen.“

Stille.

„Wann hattet ihr Kontakt mit den Tisssahnen?“, hakte Chara nach.

„Vor über 501 Erinnerungssszssyklen.“

„Wieviele Sonnenläufe sind das?“, wollte Siralen wissen.

„Hundert Sssonnenläufe sssind ein Erinnerungssszssyklusss.“

Chara holte Luft. „Also waren sie hier auf diesem Kontinent. Und wo sind Tisssahnen jetzt?“

„Wir haben die einen getötet und die anderen vertrieben.“

„Dann seid ihr ihnen offensichtlich überlegen. Wieso fürchtet ihr sie dann?“

„Wir haben unsss mit den Blaksss verbündet, um sssie vertreiben zsssu können. Die Tisssahnen waren wenige, wir viele.“

Sie waren hier gewesen! Wie? Wieso? Was taten sie hier in dieser öden Gegend?

„So oder so, wir werden die Blaks aufsuchen und sie fragen, ob sie unserem Auftraggeber folgen wollen“, setzte sie unbeirrt fort. „Also, wo finden wir sie?“

„Ihr könnt euch auf dasss Wort einesss Blaksss nicht verlasssen. Ssselbssst wenn sssie sssagen, sssie helfen euch, werden sssie euch bei der ersssten Gelegenheit in den Rücken fallen. Esss sssind Verräter.“

„Die Blaks, die unserem Anführer dienen, sind nie wortbrüchig geworden. Ich gehe davon aus, dass das Lügen nicht ihrer Natur entspricht.“

„Sssie dienen einem Tisssahnen.“

„Und?“

„Tisssahnen unterwerfen ihre Gefolgsssleute.“

„Nicht Al’Jebal.“

„Alle Tisssahnen. Sssie können nicht andersss, alsss nach Macht zssu ssstreben. Sssie nennen sssich selbssst Gottra.“

Chara zog die Stirn in Falten. Dann schoss es ihr ein, was der Scorpio ungefähr meinen könnte.

„Was bedeutet Gottra?“, fragte sie nichtsdestotrotz.

„In Eurer Sssprache … Götter im Diessseitsss.“

Chara schwieg, hielt aber dem Blick des Scorpios stand. Sie mimte Überzeugung, obwohl da keine war. Genaugenommen hatte sie keine Ahnung, was das Volk der Thanatanen im Inneren ausmachte, oder wozu diese Blaks fähig waren. Die Schwarzen Assassinen verband wohl kaum noch etwas mit ihren Blutsverwandten hier am südlichsten Punkt der Welt.

Der Rote durchbohrte sie mit seinem Blick. „Werdet ihr die Blaksss trotzssdem aufsssuchen?“

„Sicher.“

Ein Laut, der ein Seufzen sein mochte, dann wechselten die beiden Scorpios erneut Blicke und der Rote wandte sich Kerrim zu.

„Ihr kehrt zssurück und informiert eure Leute, dasss sssie abzssiehen müsssen. Wir müsssen unsss besssprechen. Danach werden wir sssehen, ob wir unsss an unssser Wort halten können.“

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende

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