Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende - J. H. Praßl - Страница 26

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Der Morgen danach …

Das Danach kam recht früh. Das Danach klang tödlich.

„Die Lage hat sssich verändert. Wir können unsss nicht an die Abmachung halten, die wir mit dem Tisssahnen getroffen haben.“

Siralen sog hörbar die Luft ein. Dem Weltgeist sei Dank wurde schnell deutlich, dass es schlimmer klang, als es war. „Ihr bleibt bei unsss im Lager, sssolange, bisss eure Leute abgezssogen sssind. Dann sssehen wir weiter.“

In den darauffolgenden Tagen, behielten die Scorpios sie, Chara und Irwin MacOsborn im Lager, wobei sie mit ebendiesem dem Abzug des zweiten Bataillon folgten. In der Zwischenzeit wurde jemand aus ihrem Volk gerufen, der offenkundig in der Position war, darüber zu entscheiden, was weiter mit ihnen geschehen sollte. Über dessen Entscheidung informierten sie ihre Gefangenen hingegen nicht. Schließlich stellte sich der Rote, der mit ihnen kommuniziert hatte, als Schendru vor und suchte weiterhin das Gespräch mit ihnen. Während sie dem zweiten Bataillon auf dem Weg Richtung Küste folgten, klemmte sich Chara an seine Fersen und versuchte, weitere Informationen aus ihm herauszubekommen. Was sich als nicht eben einfach erwies – das mit ihm Schritt halten, nicht das Reden … Mit seinen acht Beinen war der Scorpio einfach schneller. Aber er war gesprächsbereit.

Schendru war der Meinung, dass Chara und Siralen unmöglich alle Blaks in die Heimat mitnehmen könnten. Es wären Millionen. Und obwohl er davon ausging, dass sie ohnehin keine Möglichkeit hätten, diese zu überzeugen, wollte er wissen, wie sie, im gegenteiligen Falle, auch nur einige Hunderttausende von ihnen nach Amalea schaffen wollten.

Chara erzählte ihm von dem Dimensionstor, von dem Al’Jebal in Tamang berichtet hatte. Sie erklärte die Funktion des Tors so, dass auch ein rigoroser Verstand wie der eines primitiven Wüstenkriegers daraus schlau wurde. „Man kann es passieren – von eurer Heimat in unsere Heimat, aber nicht von unserer Heimat in eure. Durch das Tor kamen die Blaks zu unserem Auftraggeber. Sie tun es wahrscheinlich immer noch. Und genauso werden sie auch jetzt zu ihm kommen.“ Sie ließ aber wohlweislich unter den Tisch fallen, dass sie keinen blassen Schimmer hatten, wo sich dieses Dimensionstor befand. Schendru fragte zu ihrem Glück nicht nach. Danach erzählte Chara von der Allianz und dem Chaosbündnis, von den bekannten Fakten der Geschichte Amaleas, nur um am Ende erneut auf die Blaks zu sprechen zu kommen.

Der Zweifel der Scorpios war gesät. Die Sorge, die Blaks könnten sich doch der geheimnisvollen Allianz unter dem Tisssahnen anschließen, gärte in ihren Herzen.

„Ihr könnt den Blaksss nicht vertrauen“, wiederholte sich Schendru. „Sssie haben unsss verraten und sssich mit den Tisssahnen verbündet. Sssie werden auch euch verraten.“

„Ich dachte, ihr hättet die Tisssahnen gemeinsam vertrieben.“

Schendru schwieg und beschleunigte seinen Schritt, sodass Chara allmählich aus der Puste kam.

„Wir haben sssie vertrieben. Die Blaksss verhalfen ihnen zssur Flucht, nachdem sssie sssich auf die Ssseite der Tisssahnen gessschlagen hatten.“

Die Blaks und die Scorpios hassten einander. Es war nicht zu überhören, dass sie einander schlimmster Feind waren, wenn man mal von der Feindschaft zu den Thanatanen absah, die zumindest die Scorpios hegten. Angeblich hatten sich die Blaks also mit den Thanatanen verbündet, nachdem sie gemeinsam mit den Scorpios gegen diese gekämpft hatten. Die Geschichte wirkte so dermaßen mystisch, fast schon unglaubwürdig. Wieso gab es allem Anschein nach nur diese beiden mit Vernunft begabten Völker auf diesem nicht gerade kleinen Kontinent? Zwei Völker, beide ihres Zeichens nahezu unbesiegbare Krieger, beide von ähnlicher Stärke. Und sie standen im Krieg miteinander. Sie aßen einander …

„Wann war das?“, versuchte sie noch einmal alle neuen Daten in eine verständliche Ordnung zu bringen. „Wann haben die Blaks euer Volk verraten und sich mit den Tisssahnen verbündet?“

„Vor fünfhundert und einem Erinnerungssszssyklen und sssiebzssehn Sssonnenläufen…“

Und ein Erinnerungszyklus umfasst 100 Sonnenläufe, erinnerte sie sich an das letzte Gespräch. Chara rechnete nach. Und fühlte, wie es unter ihrer Haut zu kribbeln begann.

„Wieso habt ihr euch damals mit den Blaks verbündet?“

„Sssie teilten dasss gleiche Ssschicksssal.“

Schendru blieb stehen und sah sie an. Und zum ersten Mal sah sie etwas wie Betroffenheit in den groben Zügen seines Gesichts. „Die Tisssahnen haben unsssere beiden Völker unterdrückt und zssu Sssklaven ihresss Willensss gemacht.“

Chara hielt den Atem an. Schendru setzte seinen Weg schweigend fort. Für’s Erste hatte sie genug gehört.

Auch in den folgenden Tagen blieb Schendru ihr Mittler und Chara an ihm dran. Nachdem zwei andere der roten Scorpios, offensichtlich ein Paar aus Männlein und Weiblein, den Scorpios zu einer Entscheidung bezüglich ihrer Gefangenen verholfen hatten, erklärte er ihnen, dass es eine neue Vereinbarung zwischen den Scorpios und der Allianz geben sollte.

Die Scorpios wollten, dass „die Fremden aus dem Norden“ zwischen ihnen und den Blaks einen Friedensvertrag aushandelten. Denn genau das war es, was die Scorpios tatsächlich erreichen wollten: endlich Frieden. Sollten sie diesen Pakt wider Erwarten herstellen, würden die Scorpios ihrerseits wenigstens fünfzigtausend ihrer Krieger als Verstärkung für die Allianz stellen. Allerdings gab es dafür ein paar Bedingungen:

Erstens, die Blaks müssten ein ebenso großes Heer nach Amalea schicken. Zweitens, die Tisssahnen mussten garantieren, dass sie nie mehr einen Fuß auf diesen Kontinent setzen würden. Drittens, der Friede zwischen den Blaks und den Scorpios musste für immer gelten.

„Nichts leichter als das“, hätte Chara am liebsten gesagt. Sie zögerte auf jeden Fall keinen Augenblick mit ihrer Zustimmung, was Siralen heftige Kopfschmerzen verursachte.

„Wir haben keinerlei Garantie, dass wir auch nur eine der Bedingungen erfüllen können“, wandte sie leidenschaftlich ein, nachdem die Verhandlungen längst vorbei waren. Diplomatin, die sie nun mal war, hatte sie während des Gesprächs kein Wort über ihre Bedenken verloren. Es hätte ja auch sehr wahrscheinlich ihrer aller Tod bedeutet. Doch ihre Liebe zur Wahrheit wehrte sich vehement gegen die Tatsache, dass sie etwas versprachen, das sie sehr wahrscheinlich nicht einhalten konnten. Chara sah wiederum nur den Sieg des Augenblicks. „Jetzt und hier brauchen und haben wir eine Lösung“, warf sie zurück. „Den Rest überlegen wir uns später.“

Schließlich hatte ihnen Schendru den Weg zu den Blaks erklärt, und sie vereinbarten einen Treffpunkt. Der Scorpio wollte sie wiedersehen – an der Grenze zwischen den Gebieten der beiden verfeindeten Völker.

„Diessse Grenzsse zssieht sssich durch die Mitte desss Kontinentsss“, erklärte er. „Sssie trennt die Wüssste vom Dssschungelgebiet, das die Blaksss bewohnen. Die Grenzsse issst ein Gebirgssskamm. Ein weitesss, flachesss Tal ssspaltet den Gebirgssszssug in zsswei Teile. In diesssem Tal liegt der Ort Kuir.“

„Was ist das für ein Ort?“, wollte Chara wissen.

„Wir nennen ihn auch den Ort der Qualen.“

Und da war sie wieder, diese Betroffenheit in seinen Kriegeraugen. Er sagte, dass die Scorpios alle einhundert Sonnenläufe dort hinwanderten, um sich „zu erinnern“. Woran sie sich erinnerten, und warum sie ihn den Ort der Qualen nannten, erläuterte er nicht weiter. Er behauptete nur, dort auf sie zu warten, nachdem sie mit den Blaks Kontakt aufgenommen und über ihr Friedensangebot verhandelt hatten.

Am zehnten Tag nach der Schlacht im Wüstenkessel erreichten sie endlich die Küste. Sie verabschiedeten sich von Schendru und traten den Weg zum Strand an, wo sie zum Hauptstützpunkt zurückkehrten.

Vor über fünfzigtausend Sonnenläufen … Solange war es also her, dass sich die Scorpios und Blaks verbündet hatten – gegen die Thanatanen, wohlgemerkt, die sie versklavt hatten.

Fünfzigtausend. Diese Zahl hatte sich in Charas Verstand gebrannt. Diese Zahl war mittlerweile legendär. Vor ungefähr fünfzigtausend Jahren gab es eine Einwanderungswelle nach Amalea – aus dem Osten, wo es laut Al’Jebal noch eine unentdeckte Landmasse geben soll. Vor ungefähr fünfzigtausend Jahren sollten Landbewohner, „Zweibeiner“ wie die Menschen, laut Großkönig der Fischmenschen, den schwarzen Fluss im Meer erschaffen haben, der sich wie ein Gürtel um die angeblich runde Welt schloss. Und zwar nach einem Krieg auf einem Kontinent, der, man höre und staune, im Osten lag. Diese Welt war tatsächlich gewaltig. Und dann auch wieder nicht. Denn es sah fast danach aus, als wären die Thanatanen überall gewesen.

„Endlich zurück zur Meerjungfrau“, schnaufte Irwin, als er mit den Expeditionskommandanten den Militärstützpunkt durch das Haupttor verließ. Der halbtägige Marsch durch die Wüste war erwartungsgemäß viel strapaziöser gewesen, als es einem Barden guttat. Die Hitze hatte Irwin MacOsborn den letzten Rest Muße aus dem Leib gebrannt. Er war also ganz und gar darauf angewiesen, von der Muse geküsst zu werden, und zwar buchstäblich.

Bepackt mit seinem Rucksack schlurfte Irwin träge über den Strand auf das Drachenboot zu. Siralen neben ihm war da schon von erheblich flotterer Sohle. Die Elfe flog förmlich Richtung Strand. Wahrscheinlich hatte sie Sehnsucht nach ihrem Admiral. Chara ließ sich wiederum Zeit. Und das, obwohl ihr Betthäschen ebenfalls auf dem Kommandoschiff war und sich wahrscheinlich nach ein bisschen Flok-Sex sehnte.

Oje, oje … bei dem Gedanken wurde ihm ganz anders. Seltsam eigentlich, wo er doch so überhaupt kein Angsthase war, wenn’s um’s andere Geschlecht ging. Aber die Flok? Die war schon noch mal ein anderer Brocken.

Irwin bremste sich ein und ließ sich zu Chara und Kerrim zurückfallen. Der Blutsbruder war freilich auch mit von der Partie.

„… werde mit Telos sprechen müssen. Seine Beliebtheit unter den Priestern könnte hilfreich sein.“

Vorsichtshalber nahm Irwin wieder etwas an Geschwindigkeit auf. Die zwei Assassinen mussten ihn ja nicht unbedingt gleich bemerken. Abgesehen von seinen Pflichten als Barde hatte er nämlich auch noch eine Verpflichtung dem Brigadier gegenüber. Oder auch nicht …

Ein Stich im Herzen erinnerte ihn daran, dass der Brigadier nicht länger unter den Lebenden weilte. Und der neue war weder sein Freund, noch war er ihm verpflichtet. Andererseits konnte es nicht schaden … Es war nur rechtens, dass er einen Einblick hatte. Der, der das Expeditionskommando in Sachen Ansehen und hin und wieder auch in militärischer Angelegenheit beriet, sollte auch alles wissen, was das Kommando wusste. Wie sollte er als Berater sonst effizient arbeiten?

„Du waißt aber schon, dass Laurin MacArgyll ist derjenige, der sprechet für die Priesterschaften, Chara. Telos ist mittlerwaile die Nummer Żwai.“

Ein scharfer Blick und ein anschließend breites Grinsen in seine Richtung, und Irwin zuckte zusammen. Mist, Ben Yussef hatte seine Augen und Ohren aber auch überall.

Andererseits, er hatte genug gehört. Chara hatte wieder mal Ärger mit den Priestern, insbesondere mit dem Obersten von ihnen. Wenn er sich recht erinnerte, hatte MacArgyll die Flok kürzlich sogar besucht. Genau. Als er Charas Kajüte verlassen hatte, hatte Laurin MacArgyll wirklich nicht besonders sonnig ausgesehen. Allerdings war seine Miene auch sonst immer wie eingefroren. Wahrscheinlich war er gar nicht dazu in der Lage zu lächeln. Jetzt sah die Sache allerdings anders aus. Offensichtlich hatte es einen Streit zwischen Chara und dem Monochpriester gegeben.

Der Tod stand ihr gut. So oder so ähnlich könnte ein Liedchen über die Flok und den Eispriester heißen. Die Muse war zurückgekehrt. Irwin MacOsborn wollte augenblicklich zur Laute greifen, sobald er zurück in seiner Kajüte war.

Ein paar Gedanken später hatte Irwin den Drachen bestiegen, der ihn zur Meerjungfrau bringen sollte. Er trat gerade unter die Plane des Zeltes, das an Deck des Drachenboots aufgestellt war, da fuhr es ihm kalt ins Gebein. Und das hatte nicht das Geringste mit dem Monochpriester und seinem Eisgott zu tun. Als er nämlich die Frau sah, die sich mit ihren Kriegerkameraden unter der Plane des Zeltes vor der Sonne schützte, und deren Gesicht sich zu seinem Leidwesen normalerweise unter einem Visier verborgen hielt; eine Frau, deren weibliche Emanationen sogar durch eine Plattenrüstung noch heiße Schauer durch seinen Körper jagten, wurde ihm sofort warm ums Herz. Na sowas, wo kamen denn die plötzlich wieder her?

Chara hielt inne, als sie unter das Zelt trat und ihn dort stehen sah. Im Kreise der anderen MacDragul.

Da war er also wieder, hatte auf sie gewartet. Dabei hatte sie gehofft, er hätte sich längst wieder in seine Schlafkoje verzogen.

Die Vampire … hier auf dem Drachen, der sie zum Kommandoschiff rudern sollte. Das war nicht gut.

Wieso war er ihr bis zum südlichsten Punkt der Welt gefolgt?

Chara durchquerte das Zelt, ohne Lomond eines weiteren Blicks zu würdigen. Er würde ihr über kurz oder lang sowieso wieder zu nahetreten. Von Nok und Iti begleitet – zwei der Dad Siki Na, welche die Schlacht gegen die Scorpios weitgehend unverletzt überlebt hatten – begab sie sich direkt zum Bug des Drachen.

„Wieso bist du hier?“, fragte sie leise, als sie spürte, wie er hinter sie trat.

Lomond schwieg. Chara verschränkte die Arme vor der Brust. Sie spähte auf das Wasser, das im Licht der Mittagssonne glitzerte wie tausend Kristalle. Lomond sah freilich sie an. Das Glitzern der Sonne war wahrscheinlich eine Beleidigung für seine schwarzen Augen hinter geschlossenem Visier. Überhaupt schien ihn nichts anderes zu interessieren als sie. Und dabei ging es ihm wahrscheinlich darum, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Damit sie fiel und er sie fangen konnte. Darin war er ja gut. Wirklich gut …

„Das weißt du“, erwiderte er schließlich. „Du weißt, wie es in mir aussieht.“

Ja, richtig. „Dann sag es mir noch einmal, Lomond. Wie sieht es denn aus, tief in dir drin?“

Es waren Lomonds Worte. Sie hatte sie zum ersten Mal in einem Traum in Valland gehört.

„Lass mich dein Lakai sein.♫“

Chara stöhnte auf. „Was soll das überhaupt heißen?“

Sein Helm streifte über ihre Wange. Diesmal bewegte sie sich keinen Deut weit. Wich nicht, wie sonst, zurück, schaffte es, die diabolische Mischung aus kalter Angst und heißer Leidenschaft auf den Boden nüchterner Berechnung hinunterzupeitschen. Lomond war gefährlich. Für sie, für ihre Ziele, für diese Mission …

Der MacDragul war sich wiederum seiner Sache sicher. Das war Chara mehr als bewusst. Er wusste, dass ihr diese Art von Wortwechsel, dieses Rätsel raten, dieses Mein Traum, dein Traum, unser Traum-Gerede unter die Haut ging. Es war ihre kleine Welt. Niemand war dort, abgesehen von ihr und dem MacDragul. Und dann war da noch die Tatsache, dass Lomond wusste, was sie brauchte. Nicht nur den Kampf, den sie mit ihm ausfechten konnte, das Kräftemessen, das Ringen … Niemand war Charas Lakai. Sie war ein Lakai für jemanden. Lomond bot ihr an, ihr zu gehören. Das war ein reizvolles Angebot. Selbst für jemanden wie sie.

„Ich will auf dich achtgeben, dir nahe sein, dich riechen, dich …“ Das Lächeln unter seinem Visier wurde erneut spürbar. „… schmecken.“

„Mein Blut retten …“

„Wenn du so willst.“

Genau das war es. Seine seltsame Art, ihr nahezutreten und doch wieder nicht. Nah und fern, zu nah, zu wenig nah …

Seine Hände wollten sie greifen. Warum taten sie es nicht? Warum diese halbherzigen Berührungen, dieses tänzelnde, spielerische Hin und Her? Mal heiß, dann wieder kalt, mal Tier, dann wieder Mensch … tot und lebendig, liebend und hassend, getrieben und stoisch.

Chara blickte zurück unter die Zeltplane, wo die anderen Vampire saßen und sich der Nachmittagssonne entzogen. Sie konnte spüren, wie sie sie anstarrten, wie sie Lomond und sie unter ihren Helmen aus Metall studierten. Wie sie nach dem Blut seiner Beute lechzten. Doch Nok und Iti schirmten sie ab, als wäre das Sandkorn in akuter Lebensgefahr. Dabei hätte Lomond niemals einen seiner Brüder oder auch Schwestern an sie rangelassen. Das wusste sie. Er war soviel Tier wie er ein Mensch war. Seine Beute teilte er nicht. Er erlegte und genoss sie alleine. Die Dad Siki Na gingen trotzdem auf Nummer Sicher.

Im gegenüberliegenden Zeltausgang stand Irwin MacOsborn. Er stand da schon eine ganze Weile und starrte die neunzehn MacDragul an. In seinem Gesicht spiegelte sich eine vertraute Mischung aus Furcht und Leidenschaft wider. Er war sichtlich hin- und hergerissen, zwischen dem Wunsch, näherzutreten, und dem Selbsterhaltungstrieb, der ihn dringend davor warnte. Da ging es ihm also nicht viel anders als ihr.

Warum musste ausgerechnet der MacDragul alle Karten in der Hand haben, um sie ins Wanken zu bringen? Seelisch, körperlich, geistig. Anders als Lindawen. Sicher. Nicht so nachhaltig – eher plötzlich, intensiv, umfassend für den Augenblick. Damit gefährdete er aber nichtsdestotrotz das Verhältnis zwischen dem Lichtjäger und ihr. Und das ging nun mal über ein kleines Techtelmechtel hinaus. Lindawen und sie hatten eine Beziehung in vielerlei Hinsicht – privat und professionell. Auch darum konnte sie es sich nicht leisten, dem Vampir die Tür zu öffnen. Heute weniger denn je.

Das Kommandoschiff rückte langsam näher. Das Platschen der Ruder hatte etwas Beruhigendes. Rings um die Meerjungfrau dümpelten die anderen Schiffe der dritten Flotte im Sonnenglast auf dem Wasser und erinnerten Chara daran, wieso sie alle hier waren.

„Wieso hat Mordo Haugan MacDragul sich mit seinem Clan der Allianz angeschlossen?“ Die Frage brannte ihr schon länger auf der Zunge. Und sie erlaubte es ihr, über etwas Unverfängliches zu sprechen.

Lomond schien darüber nachzudenken, ihr eine Antwort schuldig zu bleiben.

„Blut …“, antwortete er schließlich doch.

„Bei euch dreht sich alles um Blut, was?“

In der Dunkelheit seines Helms blitzte ein gelbliches Glimmen auf. „Im Grunde … ja.“ Sein Kopf kam wieder näher. „Und nein.“

Ein leises Zähnefletschen erinnerte sie an das Tier im Mann. Und es erinnerte sie an ihre Nacht mit beidem – dem Tier und dem Mann. Eine Nacht, die sie heimgeholt hatte. Eine Nacht, die sie nie vergessen würde.

Während ich schlafe, ändert Liebe ihre Tonart. Ich leere meinen Geist, und eine Erinnerung verblasst. … Nahm Lomond ihr übel, dass sie dieser Nacht irgendwie den Rücken gekehrt hatte?

„Egal, wer diesen Krieg gewinnt – wir oder die andere Seite – es wird immer Blut geben, von dem ihr euch ernähren könnt“, hielt sie dagegen.

„Wenn die andere Seite gewinnt, wird keine Nahrung für uns mehr da sein.“

„Dieser Krieg mag ein Weltkrieg sein, aber irgendjemand wird ihn überleben. Diejenigen, die den Krieg gewinnen.“

„Nicht nach diesem Krieg. Nicht, wenn das Chaos siegt.“

Chara versteifte sich. Lomonds übliche Ironie hatte sich gerade verabschiedet. Es sah ganz danach aus, als meinte der Vampir es ernst.

Sein von Stahl ummantelter Körper rückte wieder näher. Kurz fuhr ihr die wohlvertraute Angst in die Eingeweide. Dann war da plötzlich ein Panzer, einer wie der Lomonds, nur unsichtbar – einer, der ihr neu und fremd war.

Chara drängte ihre Sinne, ihre Seele in den Panzer und fühlte, wie sich dieser um ihre aufgestachelten Gefühle schloss. Endlich konnte sie wieder frei atmen. Endlich konnte sie ihm durch das Visier seines Helms in die Augen sehen. Das Glimmen war verschwunden. Seine Augen waren so schwarz, wie sie es von dem MacDragul gewohnt war.

„Was willst du von mir?“, flüsterte sie.

„Was willst du von ihm? Diesem … Elf?“ Es klang wie ein Schimpfwort.

Und plötzlich war alles klar.

„Schlaf schön, Lomond.“ Chara ließ ihn einfach stehen und hielt durch das Zelt voller Vampire auf MacOsborn zu. Lomond hatte sie schnell eingeholt. Mit seinen Blicken hielt er seine Brüder und Schwestern davon ab, sich ihr auf mehr als zwei Schritte zu nähern. Sie gehorchten alle ihrem Anführer. Ihre Nähe, ihr Geflüster und Gemurmel nahm Chara nur rudimentär wahr. Sie hatte ihren Panzer. Und langsam begann sie zu begreifen, woraus er gemacht war.

Es war bedeutungslos, was Lomond wollte. Bedeutungslos, wonach es den Vampir verlangte. Es ging einzig und alleine darum, was sie wollte, wonach es sie verlangte.

„Während ich schlafe, geht mein einz’ger Wunsch verloren. Einmal gebraucht, wird ein neues Spielzeug alt. Während ich schlafe, verliert ein Name seine Wirkung. Ohne Worte wird ein warmes Lächeln kalt.“

Der Panzer wurde fester. Chara fühlte, dass sie nicht sein wollte, was die MacDragul waren. Untotes Leben, seelenlose Kreatur … Das ist das Ding, das durch den Wind geht …

Gleichzeitig fühlte sie sich von ihnen angezogen, von ihrer Verdammnis, ihrer Nacht, ihrer Kälte, ihrer … Lust.

Ich bin ein Krieger der Nacht, bin ohne Tagtraum geboren. Ich geh dem Licht aus dem Weg, in dunklem Schatten verloren …

Richtig, die MacDragul hatten ihr aus der Seele gesungen. Und doch, heute wollte sie kein Teil von Lomonds Welt sein. Heute hatte sie andere Pläne. Und ihr Panzer bewahrte sie davor, von jenem Vampir kontrolliert zu werden, der sie einst aus einem anderen Panzer befreit hatte.

Chara brachte den Weg durch das Zelt hinter sich. Es stand ihr glasklar vor Augen: Der Panzer bestand aus vier Worten und der Entschlossenheit in den schmalen Augen jenes Mannes, der alles über sie wusste. Jenes Mannes, der sogar ihre größte Angst kannte. Der diese Angst selbst fühlte, doch besiegt hatte …

„Ich liebe dich, Chara.“

Oachdag, 2. Trideade im Bärenmond / 349 nGF

Die Tür fällt leise klickend ins Schloss. Einen Moment lang starre ich auf die Stelle in meinem Bett, an der Tauron gerade noch gesessen hatte. Ich spüre einen unnatürlichen, dumpfen Schmerz tief unter meiner Haut. Unnatürlich für mich. Unnatürlich für jemanden, der ein Leben ohne Gefühl als den einzig wahren, den einzig möglichen Weg erkannt hatte.

Ich schlucke, merke, wie ich mich selbst verachte – jetzt, in diesem Augenblick.

„Was ist deine größte Angst?“ Gefühle … „Was deine größte Schwäche?“ Gefühle …

Und so bin ich auch, Lindawen. Meine größte Angst – die Liebe. Meine größte Schwäche – das Gefühl. Der klare Gedanke, ein geordneter Verstand ist es, der uns erfolgreich durch dieses Leben gehen lässt. Das Gefühl ist es, das uns in die Wirren unserer Seele entlässt und dafür sorgt, dass wir stolpern und fallen.

Doch ich starre auf die Stelle in meinem Bett, wo Tauron gerade noch gesessen hatte, und spüre diesen Schmerz unter meiner Haut. Und ich weiß, dass ich fühle, ich weiß, dass ich lebe, ich weiß, dass ich schwach werde.

Fast hätte ich mein Ziel verraten und Tauron fortgeschickt, damit er weitermachen kann wie bisher. Vor meinen Augen wurde der Admiral, der fähige, stolze Admiral zu einem kleinen, hilflosen Stück Mensch, das keinen Ausweg wusste – ein verzweifeltes, ängstliches Kind, das hoffnungsvoll nach der Hand greift, die es durch diesen kleinlichen Alptraum führt. Und ich wurde schwach. Warum? Weil es mir Schmerzen bereitete, dass der Mann vor mir Schmerzen litt. Ich hätte ihm fast die Hand gereicht, nach der er verzweifelt suchte.

Das ist er, der Grund dafür, warum der Skrupellose immer gewinnt. Und der Mitfühlende stets verliert. Die Scorpios wissen um diese Schwäche. Die Anteilnahme am Leid unseres Gegenübers zwingt uns in die Knie, macht uns schwach und besiegbar. Ein starkes Volk merzt alles Schwache aus. Das tun die Tulurrim. Das tun die Scorpios. Und nach allem, was wir wissen, auch die Blaks. Die schwarzhäutigen Kinder, die Al’Jebal in Aschran gefunden hatte, waren alle krank oder hatten sonst irgendwelche körperlichen Defizite. Also weg damit!

Al’Jebal ist ein Gewinner. Er war und ist skrupellos. Ich hätte ein Gewinner sein können, der für Al’Jebal in den Krieg zieht. Ich war eine Waffe ohne Gewissen. Doch ich bin es nicht mehr. Vielleicht war ich es nie.

Al’Jebal ist längst nicht mehr ein erstrebenswertes Ideal, er ist die Frage, die ich zu beantworten versuche. Er ist das Rätsel, das ich lösen werde. Er ist der Thanatane, der mir früher oder später erklären wird, weshalb er tat, was er getan hat, und woraus das Band gemacht ist, das uns verbindet. Bis dahin werde ich meiner Wege gehen und ein neues Ziel zu meinem Alpha und Omega erheben: Wahrheitsfindung. Wissen. Und dann tun, was ich für richtig halte. Ich, nicht irgendjemand, den ich dazu auserkoren habe, der Weisheit letzter Schluss zu sein. Ich werde die Wahrheit finden und nach ihr handeln. Ob mit oder ohne Gefühl.

Hatte ich das Recht, Tauron ein Ultimatum zu setzen? Nein.

Aber – und das ist die Widersinnigkeit intuitiver Entscheidungen – ich habe dennoch richtig entschieden. Der Admiral hat heute etwas gelernt: Angst ist ein schlechter Berater, wenn es um die Liebe geht. Die Angst treibt uns fühlende Wesen auseinander. Sie schlägt eine Bresche zwischen denen, die sich lieben. Sie zerstört die Liebe. Das weiß ich, obwohl ich es im Grunde nicht wissen kann. Ich weiß es einfach.

Tauron redet nicht, weil er Angst hat. Er hat Angst davor, dass Siralen ihn verlässt, wenn sie erst weiß, was er treibt. Angst davor, von ihr verachtet zu werden … Angst vor der echten, der einzig wahren Nähe, die nur durch absolute Offenheit, absolute Seelenblöße möglich ist. Wo wir uns nicht öffnen, gibt es kein Erkennen. Und ohne Erkennen lieben wir ins Nichts. Wo wir uns verschließen, sind wir mit uns alleine. Ist das der Grund, warum ich Lindawen mein kleines, schwarzes Buch gab? Ich wollte nicht mehr allein sein … Vielleicht wollte ich sogar geliebt sein.

Es wird der Tag kommen, an dem ich vergessen habe, Al’Jebal zu fürchten. Doch sollte ich je lernen zu lieben, so weiß ich nicht, wohin mich dieses Gefühl am Ende treiben wird. Ob zu einem Thanatanen, einem Elfen, einem Vampir … zu mir. Und ich weiß nicht, ob das Band zwischen dem Thanatanen und mir je aus Liebe gemacht sein wird.

Wie auch immer, Tauron ist auf dem Weg zu Siralen, um ihr zu gestehen, warum ich ihn nach meiner Ankunft auf Roella Kalladans Schiff suchen musste, wo ich ihn völlig überrumpelt und mit verwüstetem Äußeren in deren Kajüte vorfand. Er ist aber nur deshalb auf dem Weg zu Siralen, weil ich ihm sagte, ich wüsste über ihn und Roella Bescheid (was eine Lüge ist), und würde Siralen sein Geheimnis verraten, wenn er es ihr nicht beichtet (was ebenfalls eine Lüge ist). Fakt ist, ich weiß nicht, was Roella und Tauron getrieben haben, es liegt nur auf der Hand. Und ich würde nie irgendjemanden auffliegen lassen. Das geht gegen eines meiner dürftigen Prinzipien. Aber ich weiß, dass Tauron und Siralen nur eine Chance haben, wenn sie der Wahrheit eine Chance geben. Siralen denkt, es wäre ihr egal, was zwischen Tauron und Roella läuft. Aber das ist eine Lüge. Ich kann es in ihren Augen sehen. Ich kann sehen, wie sie sich fragt, ob Roella zu einer Bedrohung für sie und Tauron werden kann. Darum müssen sie miteinander reden. Darum habe ich Tauron ein Ultimatum gestellt, obwohl ich kein Recht dazu hatte.

Der Schmerz lässt nach. Meine Augen wandern von meinem Bett zur schwarzen Rose. Immer noch blüht sie. Sie tut, als gäbe es einen guten Grund, am Leben zu bleiben. Und sie hat recht.

Neben der Rose liegt die Nachricht, die ich bei meiner Rückkehr in meiner Kajüte vorgefunden habe. Sie erinnert mich daran, dass ich langsam etwas tun muss.

Ich stehe auf und überlege, ob ich meine Rüstung ablegen soll. Doch dann lasse ich es. Es wird Zeit, sich meiner Wahrheit zu stellen.

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende

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