Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende - J. H. Praßl - Страница 22

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Trommeln in der Ferne

Ich trage die Verantwortung, viele tapfere Männer und Frauen zu kommandieren. Aber wer bin ich für sie? Eine Elfe, entrückt und fremdartig. Die erste und wichtigste Schlacht, die ich schlagen muss, findet in den Köpfen derer statt, die ich kommandiere. Doch nicht nur ihre Köpfe, auch ihre Herzen will ich gewinnen. Ich muss mich bewähren, sie zum Sieg führen. Dann werden sie mir eines Tages aus Überzeugung folgen. Nicht, weil sie keine Wahl haben, sondern weil sie es wollen.

Nun gilt es aber einmal mehr zu gewinnen – nicht die Gunst der Soldaten, nicht den Krieg, sondern das Vertrauen einer uns völlig fremden Lebensform. Noch kann ich nicht sagen, was da auf uns zukommt. Wie können wir sie überzeugen? Das „Ob“ ist hier ja im Grunde nicht die Frage. Das „Wie“ ist alles, was zählt. Denn wir müssen, wir haben gar keine andere Wahl. Ein Scheitern bedeutet unseren Niedergang.

(Aus dem Tagebuch von Siralen Befendiku Issirimen, 349 nGF)

Siralen musterte Chara nachdenklich, als sie sich nach dem Aufstehen gegenübersaßen. Beide ließen ihre Essensration links liegen. Keine von ihnen hatte Hunger. Sie wussten, was sie erwartete. Chara ebenso wie sie.

Es war noch dunkel. Die Assassinin hatte ebenfalls geträumt. Sie und Chara hatten vermutlich dasselbe geträumt, so, wie sie es bereits mehrmals getan hatten. Und möglicherweise nicht nur sie beide.

„Das ist das Ding, das durch den Wind geht, eines Tages, wenn am Horizont ein Stern steht“, murmelte Chara. „Das ist das Glas, durch das auch dein Sand rieselt … ohne Warnung.“

„Wir haben gemeinsam geträumt, Chara?“ Wer hatte den Traum noch?

„Wer von euch träumte von der Stimme aus dem Nebel?“, stellte sie die Frage laut und blickte in die Runde.

„Ich!“, platzte Irwin heraus, bevor Darcean schweigend nicken konnte. „Das ist ganz bestimmt eine Warnung“, schob der Barde hinterher. „Es ist … es ist ein Zeichen, dass wir umkehren müssen. Lasst mich nur noch schnell meine Sachen packen, und dann …“

„MacOsborn!“, donnerte Chara, und Irwin riss die Augen auf.

Sie alle saßen und standen auf dem Felsplateau, auf dem sie nach Einbruch der Dunkelheit ihr Lager aufgeschlagen hatten: der Brigadier der Landstreitkräfte O’Hara, der Zwergenhauptmann der Pioniere Blutstein, seines Zeichens ein KEZS, sowie Magus Secundus Minor Mirok Jamaharon, Stellvertreter Ahrsa Kasais. Und das Expeditionskommando samt bedeutender und weniger bedeutender Berater.

„Während ich schlafe, geht mein einz’ger Wunsch verloren,

einmal gebraucht wird ein neues Spielzeug alt,

während ich schlafe, verliert ein Name seine Wirkung,

ohne Worte wird ein warmes Lächeln kalt“, rezitierte nun Darcean und sah überraschenderweise Chara dabei an.

Mirok Jamaharon rümpfte seine auffallend platte Nase, was den Verdacht nahelegte, dass er seinen Vorgesetzten Kasai nachzuahmen versuchte. „Was soll das bedeuten?“ Er wandte sich an Chara.

„Frau Pasiphae-Opoulos, Magus Primus Major Ahrsa Kasai klärte mich darüber auf, dass Ihr den größten Erfahrungsschatz habt, wenn es um Bizarres geht. Er sagt, Ihr hattet schon häufiger solcherlei Träume. Also, was denkt Ihr, wer schickt uns diesen hier?“ Siralen fand, er machte Ahrsa Kasai tatsächlich Konkurrenz.

„Ich weiß es nicht. Ich glaube nur nicht, dass das Chaosbündnis diesen Traum geschickt hat.“

„Dann meint Ihr also, die Dragatisten stecken dahinter?“, schlussfolgerte Jamaharon, und seine Augen wurden schmal. Fast schien es, als wollte er Chara eine Falle stellen. Jeder wusste, dass sie Lask Cischs Rat in Erwägung gezogen hatte.

„Während ich schlafe, stürzt ein Engel ohne Flügel,

kopfüber in die Ewigkeit hinab.

Während ich schlafe, weben Spinnen ihre Netze,

die letzten Sucher finden leider nur ihr Grab …“, vollendete Chara die Botschaft aus dem Traum. Dann klopfte sie sich den Sand von ihren schwarzen Hosen und kam auf die Beine.

„Nein, ich denke nicht, dass es die Dragatisten waren. Es ist nicht ihre Sprache, nicht ihr Stil. Aber möglicherweise täusche ich mich. Und bevor Ihr fragt, ich habe keine Ahnung, wer es sonst gewesen sein könnte.“

Damit hatte Jamaharon erst mal keine weiteren Fragen.

Siralen stand ebenfalls auf und spähte Richtung Osten. Die neben ihnen jäh in den Himmel stürmenden Felsformationen waren wie ein Bollwerk, das sie nicht beschützen konnte, auch wenn sie den Anschein erweckten. Der Feind konnte die felsendurchwachsenen Hügel im Nordwesten jederzeit umgehen. Das steinerne Plateau, das zwischen dem Hügelland und dem sandigen Wüstenkessel unter ihnen lag, war ein halbwegs sicherer Platz für ein Nachtlager gewesen.

Die Diskussionen über den Traum verzögerten den Lagerabbau. Abgesehen von Chara, die bereits gepackt hatte, mussten noch alle ihre Schlafsäcke und ihre Ausrüstung zusammensammeln. In zwei Glas würde die Sonne aufgehen und die Hitze unerträglich werden.

„Hört ihr das?“, murmelte Irwin, als sie kurz davor waren aufzubrechen.

Siralen spürte ein kaltes Kribbeln im Nacken. Ja, sie hörte es. Das dumpfe Donnern, das auf sie zurollte, war unverkennbar. Und was zunächst noch leise war und die Hoffnung aufkommen ließ, dass es womöglich vorüberzog, wurde allmählich lauter und ließ jeden Hoffnungsschimmer verblassen.

Trommeln …♫ Sie kamen von hinter den Dünen jenseits des Talkessels im Osten.

Und dann sahen sie den Schatten. Er zeichnete sich auf der höchsten Düne am östlichen Rand des Talkessels ab. Er war gewaltig. Zu groß, als dass man hätte neue Hoffnung schöpfen können. Jedenfalls wenn man davon ausging, dass er nicht alleine war.

Al’Jebal hatte wahr gesprochen. Es gab sie also – jene Wesen, halb Mensch, halb Skorpion, von welchen einst eines in Amalea aufgetaucht war.

Scorpios …

Die von den Felswänden widerhallenden Trommelschläge endeten abrupt. Sämtliche Augenpaare waren jetzt auf den Schatten östlich des Wüstenkessels gerichtet. Alle Soldaten, Zauberkundigen und Pioniere starrten den Wüstenkrieger an, der sich von der Düne dort erhob wie von einem steinernen Fundament. Als verkörperte er das gesamte Ausmaß der Bedrohung. Eine, die noch nicht sichtbar war, aber die mit seinem Auftauchen ein allzu greifbares Gesicht bekommen hatte. Ein Todesbote …

Siralens Handinnenflächen waren feucht geworden. Ein Blick in die Augen der Soldaten und es stand außer Frage, dass die Männer und Frauen im Grunde nicht wissen wollten, was sie hinter den Dünen und der Gestalt, die sich auf einer von ihnen erhob, tatsächlich erwartete. Sie konnte es ihnen nicht verübeln.

Unwillkürlich spähte Siralen zu Chara. Die Assassinin schien wie gebannt, ja fasziniert von diesem Wesen, das jedem von ihnen einen vernichtenden Eindruck seiner Verletzlichkeit vermittelte. Doch selbst Chara durfte allzu klar sein, dass Diplomatie hier der bessere Ratgeber war.

Egal, wie viele ihnen nun tatsächlich hinter den Dünen auflauerten, sie saßen in der Falle. Für eine Flucht war es zu spät. Diese Tatsache stand in sämtliche Gesichter geschrieben, die das gewaltige Wesen musterte, das sich dort auf dem weißen Sand abzeichnete.

Erneut wurden Trommelschläge laut. Das stumme Warten hatte ein Ende. Ein an den Nerven nagender rasselnder Laut zerriss den Morgen und fügte sich nach und nach in den aufdringlichen Rhythmus der Trommeln ein. Auf dem schmalen Grat der Düne tauchten drei weitere Gestalten anderer Größe und Farbigkeit auf. Rot, Braun, Sandfarben … Ein Anführer und seine drei … ja, was? Berater? Kommandanten? Schildmänner? Oder einfach nur drei weitere Kreaturen, die darauf aus waren, sie zu töten.

„Drei Fragen“, murmelte Chara an Siralens Seite.

„Wie bitte?“

„Gibt es etwas Fesselnderes als den Augenblick vor einem Kampf?“

Realisierte Chara überhaupt, dass sie neben ihr stand?

„Ist es möglich, dass wir am Ende dieses Tages noch leben?“

Chara nahm ihren Rucksack ab und ließ ihn auf den staubigen Boden fallen. Dann verfiel sie in Schweigen.

„Und drittens?“, fragte Siralen.

„Hm?“

„Du sagtest, es wären drei Fragen …“

„Ach so …“ Chara spähte zu Lindawen, der sich zusammen mit Kerrim vom Norden her näherte. „Vergiss es.“

Siralen runzelte die Stirn und folgte Charas Blick. Nach allem, was sie wusste, hatten der Lichtjäger und der Assassine schon in der Nacht die Gegend abgesucht, aber keine verstörenden Berichte über anrückende feindliche Armeen abgegeben. Ihre Warnung wäre aber auch eindeutig zu spät gekommen.

„Und, hast du Antworten auf deine ersten beiden Fragen?“, murmelte sie.

Chara lächelte, obgleich ihr zum Schreien zumute hätte sein sollen.

„Wir könnten sterben.“

„Wir werden.“ Seltsam, aber auf einmal war auch Siralen zum Lächeln zumute.

Chara sah sie an. „Befreiend, nicht wahr?“

„Auf eine exzentrische Art, ja.“ Unfassbar! Ein unsterbliches Wesen wie sie … Die Gewissheit, dass sie sterben würde, hinterließ doch tatsächlich eine Art heilsame Belustigung. Da standen sie nun, die Assassinin und die Elfenkriegerin, und lächelten sich im Angesicht des Todes zu. Zum ersten und vielleicht letzten Mal.

Werde ich vor meinem Tod noch die Gelegenheit haben, Lindawen zu sagen, was er mir bedeutet?

Die Trommeln wurden lauter. Hinter den Dünen tat sich etwas. Alle vier Scorpios hatten sich Richtung Osten gewandt. Waren es Späher? Kommandanten? Wartete ihre Streitmacht hinter den Dünen auf weitere Befehle?

Jetzt geriet der Dünenkamm sichtbar in Bewegung. Chara fühlte die Nervosität wie kleine, feine Stiche unter ihrer Haut. Sie stieg mit jedem Atemzug. Ein gutes Gefühl.

Ja, die Scorpios hatten gewartet. Oder besser, sie hatten sie erwartet. Und nun rollte die Armee des Gegners wie schweres Gerät über den Grat der Sanddünen und offenbarte ihre Monstrosität in den vier Farben ihrer Anführer.

Die Trommeln verstummten, und ein messerscharfes Rasseln erklang. Dann hoben auch die Trommeln wieder an und verfielen nun in einen scharfen, harten Rhythmus.♫ Die vier Scorpios auf den Dünen gaben etwas an ihre Truppen weiter: Kommandos. Schwarze, braune und sandfarbene Skorpionkrieger bezogen in drei Blöcken Position. Es waren Hunderte der fremdartigen Wesen, die kleinsten davon – es waren die sandfarbenen – etwa dreimal so groß wie ein Mensch und mit ihren Chitinpanzern ungleich robuster.

Beim Anblick der gegnerischen Streitmacht ging ein aufgebrachtes Murmeln durch die Menge der Soldaten. Dann erscholl der Befehl O’Haras. Das zweite Bataillon marschierte in vier Blöcken zu je hundertsiebzig Mann Infanterie einschließlich Bogenschützen und Späher bis an den Rand der Felsplattform. Die Zauberkundigen und KEZS hielten sich abseits der hinteren Reihen. Das Allianz-Heer bezog Stellung.

Chara ließ ihre Fingerknöchel knacken. Die Soldaten des zweiten Bataillons wandten sich nun wie ein Mann der feindlichen Streitmacht zu. Zum ersten Mal begriff Chara, dass die Motivationsreden vor einer Schlacht ihren Sinn hatten. Es bedurfte einer wohlgestalteten Illusion, um selbst die hartgesottensten Männer bei einem solchen Gegner aktiv werden zu lassen. Und plötzlich hätte sie gerne geredet. Sie wollte, dass die Männer und Frauen des zweiten Bataillons den Augenblick als das begriffen und erlebten, was er tatsächlich war: Der Moment vor einer großen Schlacht. Möglicherweise vor einer großen Niederlage. Aber in jedem Fall ein denkwürdiger. Einer, den sie mit Leib und Seele spüren sollten. Sie sollten erkennen, dass sie im Augenblick noch lebten und dass der Tod nur ein weiterer Gegner war, den es zu bezwingen galt. Sie wollte, dass sie diese Erregung fühlten, die der Ausblick auf einen Kampf in ihren eigenen Körper pflanzte. Sie wollte, dass sie begriffen, dass das Chaos einen entscheidenden Teil eines Kriegers ausmachte, der erst im Angesicht des Todes wirklich zu sich selbst fand. Sie wollte, dass sie den furchtlosen Krieger als eine Schöpfung des Chaos begriffen und verstanden, dass es das Chaos war, das sie in Situationen wie diesen mit dem Gesang des Todes auf den Lippen auf das Schlachtfeld stürmen ließ. Aber es waren nicht ihre Männer. Es war nicht ihre Schlacht. Denn sie alle standen, kämpften und fielen für die Ordnung.

Und wofür kämpfte sie?

Lindawen und Kerrim tauchten neben ihr auf.

„Wie viele?“, fragte Chara.

„Eh … Ich glaube, dich nicht wirkelich interessiert die genaue Żahl, Schwesterchen.“

Kerrim hatte recht. Wen interessierten schon Zahlen. Die Prognose für Morgen stand sowieso fest.

Nachdem die beiden auch Siralen keinerlei Bericht gaben, machte sich die Elfenkriegerin auf zum Brigadier. Es war klar, was jetzt kam. Sie würden verhandeln. Und so sehr es Chara auch reizte, einfach zu kämpfen, Siralen traf die richtige Entscheidung. Es würde nur sehr wahrscheinlich nichts bringen.

Nach einer Weile kehrte Siralen zurück. Sie hatte sich von dem Gelehrten Garan Lefnui einen Slarpon anlegen und sich vom Brigadier eine Eskorte aus zehn Soldaten aufschwatzen lassen. Das ganze Prozedere dauerte fast ein halbes Glas lang – Zeit, die benötigt wurde, um den Slarpon behutsam an die Veränderung seiner neuen, organischen Umgebung heranzuführen und damit der Gefahr vorzubeugen, dass er sich dauerhaft und gewaltsam mit seinem Wirt verband. Viel Zeit für Chara, wenig für alle, die eine Konfrontation mit dem befremdlichen Gegner verhindern, oder doch zumindest hinauszögern wollten. Und der Gegner wartete. Er griff nicht an. Er gab ihnen Zeit zu kapitulieren, oder anders, das Weite zu suchen.

„Gehen wir?“, fragte Siralen endlich.

„Gehen wir.“

Siralen ließ das Bild der Soldaten aus ihrem Blick gleiten – alles entschlossene Gesichter, eiserne Selbstdisziplin in ihren Blicken, die Hände an den Waffen. Dann sprang sie, begleitet von ihrer Zehn-Mann-Eskorte, vom Felsplateau. Angewidert rückte sie den schleimigen Kopfkörper des Slarpons auf ihrer Schulter zurecht und ignorierte das unangenehme Ziehen der feinen Stacheln unter ihrer Haut, mit Hilfe derer der Schwanz des Slarpon an ihre Wirbelsäule angedockt hatte. Möge mir der Weltgeist die rechten Worte in den Mund legen. Die Augen auf die unheimliche Streitmacht geheftet, die jenseits des Tals gigantische, schwarze Flecken in den Sand malte, bewegten sie sich unaufhaltsam auf den Feind zu. Die Infanterie der Scorpios – oder sollte sie sagen, Kavallerie? – hielt Position und bewegte sich keinen Schritt weit, was fast noch unheimlicher war als ein Vormarsch. Ihre Kämpfer waren allesamt bewaffnet. Als hätten sie Schwerter, Beile und Kriegsflegel nötig. Sie waren doch von der Natur bestens ausgestattet, mit ihren Panzern, Zangen und Stacheln. Die Wüste schickte ihnen ihre stärksten Krieger.

Aus dem Augenwinkel sah Siralen, dass Chara, ihre zehn Leibwachen, Lindawen und Kerrim aufgeschlossen hatten. Niemand sagte ein Wort. Niemand hielt einen guten Rat bereit. Hinter sich spürte sie die Anwesenheit ihrer bewaffneten Soldateneskorte. Sie war nicht allein und war es doch.

Der herausfordernde Klang der Trommeln war längst verstummt, nicht aber das nervenzerfetzende Rasseln und Zischen, mit dem die Kreaturen ihre Befehle weitergaben, die überirdisch großen Hybride … Alles das ließ jeden vernünftigen Gedanken wie ein Atemwölkchen an einem kalten Morgen verpuffen. Stattdessen war da dieses Gefühl von Hysterie. Was tat sie hier? Wie kam sie auf die Idee, dass diese Wesen ihnen zuhören würden? Es überhaupt konnten? Wieso bestimmte ausgerechnet sie, eine Befehlshaberin, gegen die gerade gemeutert worden war, was an diesem trostlosen Punkt der Welt zu geschehen hatte?

Die erste Reihe des mittleren Blocks setzte sich nun vom Rest ab. Wie Spinnen bewegten sich die Wüstenkrieger rasch und lautlos über die Düne nach unten, direkt auf sie zu. Sie waren bewaffnet. Womit konnte Siralen auf die Distanz nicht ausmachen.

„Wartet!“, schrie sie so laut sie konnte. Sie betete im Stillen, dass der Slarpon bald übersetzte. Er konnte es erst, wenn er die Sprachen eine Weile in sich aufgenommen hatte. „Wir sind hier, um euch vor einem großen Unglück zu warnen!“ Es war das Erste, was ihr einfiel, das Erste, das nach einer friedlichen Absicht klang und zugleich eine gewisse Dringlichkeit verlauten ließ.

Die Wüstenwesen blieben stehen, aber eine Antwort bekam sie nicht. Stattdessen erklang ein neuer, rasselnder Befehl, und einen Wimpernschlag später rasten spitze, kleine Geschosse auf sie zu. Mit einem lauten Knirschen klappten die Schilde der Zehn-Mann-Eskorte vor ihr und den anderen zusammen und bohrten sich mit einem Krsch in den Sand.

„In Deckung!“, erscholl es, und Siralen, Chara und der Rest der Gesandtschaft der Allianz-Armee ließ sich hinter der Schildwand auf den Boden fallen. Kleine, scharfkantige Steine ratterten hagelkörnergleich über das Metall und erzeugten ein leises Echo. Die scharfen Geschosse hätten ihnen blutige Löcher ins Fleisch gerissen, wären ihre Soldaten nicht so perfekt gedrillt.

„Die sind nicht zum Reden aufgelegt“, fluchte Chara.

Siralen setzte sich auf und schlug sich eine Strähne ihres schweißnassen Haars aus der Stirn. „Sie müssen. In einem Kampf gegen sie haben wir keine Chance.“

Chara hatte recht. Die Scorpios wollten nicht reden. Sie wollten nur eines – die Fremden, die mit ihren Schiffen aufgetaucht und ihr Land besetzt hatten, so schnell wie möglich wieder loswerden.

„Und jetzt?“

Die Vorhut der Scorpios machte sich bereit zum nächsten Schuss.

Chara sprang von ihren Knien in die Hocke und trat einen der Schilde zur Seite. „Schangra!“, rief sie den Scorpios zu. „SSSCHANGRA!“

Der Ruf kam zu spät. Die nächste Salve war bereits im Anflug. Die Steinchen rissen einem der Goygoa und einem der Soldaten blutige Wunden in Arme und Beine. Dann senkten sich die Waffen, und Siralen hielt den Atem an. Eine Weile herrschte Totenstille. Kannten diese Bestien etwa ihren Artverwandten, der, Al’Jebal zufolge, vor mehr als zehn Jahren in Amalea aufgetaucht war? Wenn ja, musste Schangra ein namhafter Vertreter ihres Volks gewesen sein.

Der Schwarze auf der Düne ließ ein langgezogenes, rasselndes Zischen vernehmen. Die Trommeln hoben erneut an, und die Scorpios rückten vor.

Endlich gellten auch die Befehle O’Haras über den Talkessel. Die rechte und linke Flanke aus Bogenschützen setzten sich in Bewegung und bezogen Stellung im Talkessel.

Kerrim versetzte Chara einen Schlag gegen die Schulter. „Wir müssen verschwinden von ħier!“

Weit waren sie mit ihrem Versuch der Kontaktaufnahme nicht gekommen. Am Ende hatte Ata einen durchschossenen Ellbogen und einer von Siralens Begleittrupp mehrere Einschusslöcher in seinen Beinen. Sie kehrten im Laufschritt zurück zu ihrer Position auf dem Felsplateau und bezogen vor O’Haras Soldaten Position. Alles auf Anfang.

Chara spähte zu Lindawen. Sie wollte reden, doch der Moment verstrich, ohne dass ihre Lippen sich bewegten – wieder einmal.

„Zauberkundige vor!“, brüllte Brigadier O’Hara. Hinter der linken Flanke aus Fernkämpfern verließen nun auch die Magier die sichere Erhebung und rückten in den Wüstenkessel vor – sie und etwa hundert Plänkler, die den Auftrag hatten, die feindliche Blockformation aufzubrechen und im Idealfall zu zerstreuen. Wieder verstummten die Trommeln und die Skorpionkrieger blieben stehen.

Die Zauberkundigen, Bogenschützen und Plänkler hatten im Talkessel gerade Schussdistanz erreicht und machten sich zum Angriff bereit, als sich plötzlich der Boden in Bewegung setzte. Der Sand unter ihren Stiefeln begann zu rieseln, dann zu brodeln. Es sah aus, als würde er sich verflüssigen. Gelbgrauen Schemen gleich gruben sich Körper an die Oberfläche und nahmen allmählich Gestalt an. Zangen, Stachelschwänze, Spinnenbeine, muskelbewährte Torsi … und im Gegensatz zu ihren Artverwandten auf den Dünen nur leicht gerüstet.

Perfekt an ihre Umgebung angepasst, perfekt gestaltet, perfekte Krieger. Die Scorpios, die vor ihren Augen aus dem Boden krochen, waren sandfarben, etwas kleiner als der Rest und sehr, sehr schnell. Sie tauchten aus dem Wüstensand und stießen zu wie ein Schwarm wütender Hornissen. Ihre eigenen Leute hatten keine Chance. Von allen Seiten wurden sie von den sandfarbenen Skorpionmenschen attackiert. Sie töteten mit ihren Stacheln und zerrissen Körper mit ihren Scheren. Und als wäre das nicht genug, hatten sie auch noch Klingen dabei. Wie Menschenkrieger ihre Kettenwaffen schwangen, schwangen sie ihre giftigen Schwänze, und ihre Scheren arbeiteten sich wie die Sensen eines Schnitters durch die Bogenschützen und Plänkler. Danach waren die Zauberkundigen an der Reihe, die gerade mal genug Zeit gehabt hatten, um ein paar Feuerbälle und Blitze auf sie zu werfen. Ein paar Chitinpanzer fingen Feuer. Ein rasselndes Kreischen kündete von einem, zwei, drei Treffern und möglichen Schmerzen der getroffenen Kreaturen. Ein paar von ihnen brachen zusammen und schienen kampfuntauglich zu sein. Es waren zu wenige.

Schreie drangen aus dem Wüstenkessel. Irgendwo hinter sich vernahm Chara Jamaharons Stimme:

„Ich hätte es wissen müssen. In die Wüste gehen und Kontakt herstellen … Ein ganz und gar ausgereifter Plan. Nicht auszudenken, wie viele fähige Zauberkundige heute ihr Leben lassen.“

Er hatte recht. Von hier oben sah es aus, als würde keiner der Vorhut überleben. Es war das reinste Gemetzel. Keine Chance für alle auf zwei Beinen. Die Achtbeiner machten Hackfleisch aus ihnen.

Hilflos standen sie auf dem Felsvorsprung und sahen zu, wie der Sand dort unten immer neue Skorpionkrieger ausspuckte.

„Und ich sah, wie sich der Schatten teilte. Es wurden derer viele. Sie alle krochen aus dem Wüstenboden. Und sie alle waren mehr als bloße Dunkelheit …“

Wie wahr. Wie treffend es Saadira Haaland formuliert hatte. Wie einmalig dieses Bild und die lebende Entsprechung, die vor Charas Augen ihre tödliche Macht entfaltete. Köpfe fielen. Bunte Magierroben fielen in sich zusammen, als wären sie nichts als leere Hüllen. Bögen und Armbrüste wurden in den Sand geschleudert und bildeten mit den blutroten Flecken ein seltsam abstraktes Muster auf dem blassgelben Grund.

Dort unten im Wüstenkessel hauchte ein Alliierter nach dem anderen sein Leben aus. Die, die O’Hara nach vorne geschickt hatte, starben, ausnahmslos alle.

Das Blut in Charas Adern begann zu kochen. Sie fühlte, wie sie der Wahnsinn packte, konnte sich kaum noch davon abhalten, die sichere Plattform zu verlassen und sich in den Kampf zu stürzen. Doch die warnende Stimme in ihrem Kopf ließ sich nicht beirren. Warte! Halte still! Es ist der falsche Zeitpunkt! Der falsche Gegner! Der falsche Kampf!

Ein Blick zur Seite offenbarte ihr Siralens blasses Gesicht. Die Elfe sah aus, als hätte sie gerade begriffen, dass hier allein der Kampf noch einen Reiz hatte. Die Vorsicht der Diplomatin verlor sich im Zorn der Kriegerin. Die fein gezeichneten Züge der Elfe erhärteten, die Narbe auf ihrer Wange gewann an Schärfe. Als wäre sie Teil einer Kriegsbemalung …

Es wurde wieder still im Wüstenkessel. Dort unten sah es jetzt aus wie auf einem Hackbrett: zerrissenes Fleisch neben einem Schwarm von Insekten. Nur waren es keine Fliegen, die sich dort unten tummelten, sondern riesige Skorpione mit menschlichen Torsi.

Chara blickte über das Schlachtfeld hinweg und verfolgte, wie der große Schwarze auf der höchsten Düne neue Kommandos rief. Dann vernahm sie ein Flüstern und stellte fest, dass sich ihre Lippen bewegten: „Kommt schon. Kommt her!“ Sie umklammerte ihre Zweililie so fest, dass das Leder des Griffs schweißnass wurde. „KOMMT ENDLICH!“ Jetzt schrie sie und Siralen fiel in ihren Schrei ein: „KOMMT HER UND KÄMPFT!“

Und sie kamen. Der dunkle Teppich aus Chitinpanzern schob sich die Dünen hinab über den Talkessel auf sie zu. Schwarz, sandfarben, braun … Die Kreaturen der Wüste rollten heran wie ein tödliches Unwetter. Die Scorpios zogen ihre Waffen, die sie nicht brauchten, und zischten ihre demoralisierenden Parolen, die niemand verstand.♫

„Jaaa“, lechzte Chara. Wie Lava schoss das Blut durch ihre Adern. Eine Schweißperle löste sich von ihrer Stirn und tropfte auf ihre Hand. Siralens Schwertarm berührte ihre linke Schulter.

„Wir werden sterben“, flüsterte die Elfenkriegerin.

„Ja. Aber bei den Dämonen, eines von diesen Viechern nehmen wir mit.“

Siralen nickte. „So sei es. Einer von ihnen wird mit uns ins Alleine gehen.“

In diesem Augenblick ging die Sonne hinter den Dünen auf und ihr gleißendes Licht traf wie tausend Lanzen auf Siralens und Charas Augen.

Irwin MacOsborn zitterte, als herrschten Temperaturen um den Gefrierpunkt. Der Fels, hinter dem er kauerte, war nicht groß genug, um sich erfolgreich dahinter zu verstecken. Sie würden ihn finden, und dann würden sie ihn töten. Es sei denn … Vielleicht siegten sie ja. Immerhin hatten sie ein paar unglaubliche Krieger in ihren Reihen. Man dachte nur an Chara und Ragna MacGythrun … Letzterer durch einen einzigen Faustschlag von der Flok ins Jenseits befördert. Monoch möge ihn in seinen Eishallen willkommen heißen! Dann waren da noch die vielen Soldaten, allesamt bestens ausgebildet. Die KEZS und die erhöhte Position, von der aus sie kämpften … Aber besonders jemand, der wie er ein bisschen vom Militär und von der Kriegsstrategie verstand, wusste, dass sie verloren waren.

Die ersten Reihen der Skorpionmenschen erreichten das Felsplateau, und Irwin machte sich so klein, wie es irgend ging, ohne ganz die Sicht zu verlieren. Ein Knirschen ertönte unterhalb der Plattform. Irwin sah die riesigen Gestalten vor der aufgehenden Sonne, sah, wie Chara sich kampfbereit machte und ihre Zweililie hob. Unmittelbar vor ihr tauchte eine der gewaltigen Kreaturen auf. Er war kein Alp aus einem Traum. Er war ein Gegner aus Fleisch und Blut – mit langen, dunklen Haaren, einem Gesicht, das sogar ziemlich gut aussah, muskelbewährten Schultern und Armen, schwarzer Haut und einem Schwert, das so groß war wie Chara.

Sein schwarz-grauer Panzer sprang über die Kante der Plattform. Irwin hielt den Atem an. Dann schlug die Flok zu, und um sie herum kam Bewegung in die Truppen. Die Soldaten des zweiten Bataillons warfen sich in den Kampf. Genauso wie Siralen, Lindawen und Kerrim Ben Yussef. Und die Leibwachen, die an Charas Seite kämpften. Irwin sah, dass sie in den Kampf der Flok zwar nicht eingriffen, aber sie würden es ganz bestimmt tun, sobald ihren Schützling die Kraft verließ.

Charas erster Schlag krachte auf die gewaltige Klinge des Gegners. Der Konter des Scorpios kam mit voller Wucht und unerwartet schnell. Es war die Wucht, die Chara den Atem aus den Lungen presste, als sein Schwert gegen den Schaft ihrer Zweililie krachte. Von Irwins Position aus wirkte es, als hätte ihr der Schlag die Schulter aus dem Gelenk springen lassen. Stöhnend taumelte sie zurück, hielt die Klinge des Skorpionkriegers aber eisern auf Abstand. Soweit Irwin es sagen konnte, war noch alles an ihr dran.

Das nächste, was die Flok zu kontern bekam, war eine riesige Zange, die auf sie zuschoss. Für die Länge ihrer Stangenwaffe war die Distanz zu knapp. Chara ließ die Zweililie fallen und sprang. Die Zange zerschnitt knapp unter ihren Stiefelsohlen die Luft. Im selben Atemzug holte die Kreatur mit ihrer Rechten aus und ließ ihr Schwert auf sie niedergehen. Sie schaffte es gerade so, dem Schlag auszuweichen. Die schwere Klinge krachte in den Felsen und splitterte. Ein gewaltiger Stoß gegen ihre Brust ließ sie erneut zurücktaumeln. Der riesige Stachel des Skorpionkriegers donnerte wie eine Ramme gegen ihren Brustkorb. Chara keuchte, schnappte gierig nach Luft. Das Bild des mächtigen Schwarzen vor der zurückweichenden Flok schien einzufrieren. Einen Herzschlag war Irwin, als ob die Zeit stehenbliebe. Dann zuckte der Stachel zurück.

Allmählich dämmerte es ihm, dass die Flok diesem Gegner hilflos ausgeliefert war. Doch sie hatte mehr Glück als Verstand. Ihre Rüstung, obgleich nur aus Leder, verhinderte, dass der giftige Stachel in ihr Fleisch drang. Jedenfalls sah es so aus, als hätte der Brustpanzer ganze Arbeit geleistet. Wahrscheinlich war die Rüstung magisch hergestellt. So etwas hatte er schon gesehen.

Der mächtige Panzer der Kreatur sackte nach unten, als würde er zu einem Sprung ansetzen, und Chara schreckte hoch. Noch bevor der Scorpio den Sprung ausführen konnte, rammte sie seinem menschlichen Oberkörper ihren stahlkappenbewährten Stiefel in den Rippenbogen. Ein Knacken und ein wüstes Knurren bestätigten den Erfolg ihres Angriffs. Und das war’s dann auch schon mit den Erfolgen der sagenumwobenen Flok.

Als Nächstes spürte sie sehr wahrscheinlich einen beißenden Schmerz in ihrem rechten Oberarm, denn die gewaltige Schwertklinge riss ihr eine saftige Wunde. Oh ja, das hatte gesessen. Charas Schwertarm baumelte kraftlos an den wenigen Sehnen, die nicht durchtrennt waren. Die Flok versuchte zwar, mit der Linken weiterzukämpfen, doch sie kam nicht an den verwundbaren, menschlichen Teil ihres Gegners heran. Ein Hieb seiner Zange gegen ihre linke Hüfte warf sie von den Beinen, ein weiterer Schwerthieb brach ihr das linke Schlüsselbein. Irwin biss sich auf die Lippe. Zu ihrem Glück hatte der Scorpio sie nicht richtig erwischt. Ansonsten hätte er ihr vermutlich den Torso gespalten – bis hinunter zwischen ihre Beine.

Chara schaffte es, noch im Fallen ihre Zweililie vom Boden hochzureißen. Sie zog die Waffe durch und zerschnitt dem Feind die Nieren. Dunkeloranges Blut spritzte über sie hinweg, und wieder vernahm Irwin das Knurren, das von starken Schmerzen kündete.

Als Chara auf ihren Knien landete, zerfetzte ihr die Zange des Schwarzen den Brustpanzer und schnitt sich durch ihren Oberkörper. Wieder spritzte Blut. Diesmal das der Flok. Chara sank in sich zusammen und fiel zur Seite. Benommen beobachtete Irwin, wie Siralen den Schwarzen angriff und mitsamt der Bestie zu Boden ging. Er verfolgte, wie die mächtigen Zangen des Scorpios nach der Elfe schnappten. Danach regte sich keiner der beiden mehr. Siralens Schwert lag reglos im Sand – die Klinge orange und glänzend wie die Morgensonne.

Irwin schluckte und spürte, wie ihm kalter Schweiß auf die Oberlippe trat. Das konnte doch nicht Charas Ernst sein. War das etwa alles? War das der legendäre Einsatz des Sandkorns? Wie sollte er dazu eine Ode an die Helden der Allianz dichten? Da ging sich bestenfalls ein kleiner Lobgesang für die Tapferkeit aus. Den Göttern sei Dank konnte man immer auf den Mut ausweichen, wenn die Leistung nicht stimmte. Die Flok hatte kein zwanzigstel Glas durchgehalten. Ganz zu schweigen von den meisten Soldaten, die abnippelten wie die Kinder in den Armenvierteln von Anbar. Ein bisschen mehr hätte man sich schon erwarten können, wenigstens vom Kommando. Siralen, Versprechen des Blitzes? Gefallen. Darcean Zweiauge? Gefallen. Lindawen, wie auch immer? Gefallen. Kerrim, Meisterassassine … der kämpfte doch tatsächlich noch. Aber wie lange?

Irwin ließ ab von den grausamen Bildern auf dem Felsplateau und verkroch sich in seinem Versteck. Wie sollte er sein Bardenleben retten, hier, an diesem schrecklichen Ort, wo die Kraftverhältnisse so dermaßen aus den Fugen geraten waren? Nervös kaute er an seinen Nägeln und betete um ein Wunder. Wenn das so weiterging, würde es bald niemanden mehr zwischen ihm und diesem abartigen Feind geben. Die Scorpios würden über ihn herfallen und ihm mit ihren Riesenzangen alle Glieder ausreißen.

„Wieso?“, wimmerte er und rollte sich zusammen wie ein Embryo. Wieso hatte Chara versagt? Er hatte so sehr auf das Sandkorn gezählt.

Ein Lärm brach los, der Charas sterbendem Körper ein letztes Zucken abrang. Zuerst wusste sie nicht, was sie da hörte. Dann drang immer deutlicher eine Melodie in ihren Geist. Es war ein raukehliger Gesang.

Mühsam öffnete Chara ihre Augen. Kriegsbeile, schwere Kriegshämmer, Morgensterne, Leder, Ketten und blaue, rote, schwarze Haarkämme tauchten in ihr Blickfeld – wilde Kriegsbemalungen in derben Gesichtern. Hatten sie sich bisher auch im Hintergrund gehalten, jetzt zogen sie geschlossen in den Kampf. Die KEZS – Jagan Kermes verrückte Zwergentruppe.

Die Krieger prallten wie Geröll auf die Formation der Scorpios und schlugen tatsächlich Löcher in ihre gepanzerte Mitte. Furchtlos stürzten sich Kermes Elite-Zwergensöldner in die Schlacht gegen die mehr als zehn Mal so großen Gegner. Chara hätte sie angefeuert, hätte sie noch einen Hauch von Kraft in ihrem sterbenden Leib gehabt. So dachte sie nur, dass jede Art ihren Reiz hatte und jeder Krieger seine Waffe.

„Wir sind die, die durch’s Feuer gehen …“♫, sangen die KEZS. Und genau das taten sie. Einer nach dem anderen gab den Löffel ab, doch sie schienen daran eine fast schon ekstatische Freude zu haben, und jeder einzelne von ihnen riss eine schmerzende Wunde in den Leib der feindlichen Streitmacht. Kermes Elite-Zwergensöldner machten ihrem Namen alle Ehre. Und doch, auch sie würden am Ende fallen.

Chara schloss die Augen. Erneut zog ein heftiger Schwindel auf und wirbelte sie in eine tiefe Dunkelheit.

Als Chara erneut zu sich kam, hielt sie Lindawens Hand. Sie drehte den Kopf zur Seite und sah, dass der Lichtjäger neben ihr lag. Er hatte die Augen geschlossen. Das Blut, das seine Kleidung nass an seiner Haut kleben ließ, konnte von ihm sein, von ihr, von denen, die, von seinem Schwert durchstoßen, an seinem Körper hinabgeglitten waren. Er atmete schwach. Vielleicht atmete er auch gar nicht mehr …

Keiner von ihnen war den Scorpios gewachsen. Nicht die Soldaten, nicht die KEZS, nicht Lindawen oder Kerrim oder sie oder Siralen. Auch nicht die Dad Siki Na.

Zwei der Dad Siki Na waren an ihrem eigenen Blut erstickt. Chara hatte gesehen, wie sie mit zerrissenen Körpern zu Boden gingen. Ein paar Schritte weiter erkannte sie die schwarzen Umrisse ihres Bruders. Kerrim stand noch immer und kämpfte. Doch auch er würde am Ende tot sein. Und auch ihm hätte sie noch das Eine oder Andere zu sagen gehabt.

Die einzigen, die den Scorpios das Wasser reichen konnten, waren die Schwarzen Assassinen. Die beiden fremdartigen Wesen, schwarzhäutig und gelbäugig die einen, animalisch und gewaltig die anderen, bekämpften einander, als wären sie ebenbürtige Gegner, annähernd. Es war ein eindrucksvolles Schauspiel. Wären die Scorpios nicht dermaßen in der Überzahl, wäre der Kampf wahrscheinlich ausgeglichen gewesen, vielleicht sogar ein Sieg für Al’Jebals Spezialwaffe.

Irgendetwas an den beiden ungleichen Kämpfern … Chara kniff die Augen zusammen. Mit einem schmerzvollen Stöhnen richtete sie sich auf. Da war etwas Seltsames, in den Reaktionen der Schwarzen Assassinen. Jedes Mal, wenn sich einer der Scorpios auf sie zubewegte, zuckten sie zusammen. Befremdlich irgendwie, als wären diese Wesen ihnen bekannt. Außerdem hatte sie noch nie gesehen, dass ein Schwarzer Hatschmaschin Angst vor irgendetwas hätte. Es musste sich um eine Art Reflex handeln, eine instinktive Witterung von Gefahr. Dann war nichts mehr von dieser Urangst zu sehen gewesen. Danach hatten sich die beiden außergewöhnlichen Kämpfer ineinander verbissen, als wären sie einander vertraute Feinde.

Chara ließ sich zurück auf den harten Boden sinken. Sie war ausgeblutet. Wie ein lebloses Stück Fleisch lag sie an Lindawens Seite und hielt seine blutverkrustete Hand. Der Morgen ging in den Vormittag über. Das Sonnenlicht wurde allmählich gleißend hell und knallte heiß auf ihren zerschundenen Körper hinab. Chara hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib zu verfaulen.

Vor ihren Augen überrannten die Scorpios Stück für Stück das etwa siebenhundert Mann starke zweite Bataillon. Ihre Zahl war schier endlos. Als Chara ihren Blick über das Felsplateau und den Wüstenkessel wandern ließ, hatte sie das Gefühl, kein Krieger des Wüstenvolks war gefallen. Doch da waren ihre Kadaver, nur eben bei weitem nicht so viele wie die der Allianzkrieger.

Das Klirren der Waffen wurde seltener. Das zweite Bataillon war geschlagen.

Charas Kopf rollte zur Seite. Ihr Blick blieb an Lindawens geschlossenen Augen haften. Es war ihre letzte Gelegenheit, dem Lichtjäger zu sagen, was sie für ihn fühlte. Wenn er sie denn überhaupt noch hören konnte. Andererseits, einem Toten öffnete man sein Herz leichter.

Sie machte den Mund auf. Doch der langgezogene Klang eines Horns veranlasste sie dazu, ihn wieder zu schließen … Das Signal war ihr bekannt.

Irgendetwas in Charas Kopf legte sich um. Irgendetwas warnte sie, wie zuvor die Schwarzen Assassinen vor den Scorpios. Nur war es keine Warnung vor dem Gegner. Es war eine Warnung vor denen, die mit ihr kämpften.

Es war kein Horn, es war eine Muschel. Der weiche Klang, der wie ein melodisches Schlachthorn von den Felswänden zurückgeworfen wurde, war von den Dad Siki Na. Chara hatte ihn in Cunair Tarr gehört. Dreimal kurz, einmal lang …

Tis la Siki …

Ein weiteres Mal schaffte sie es, sich hochzustemmen. Sie suchte und fand den Dad Siki Na, der die Muschel in der Hand hielt, und der sie nun fallen ließ. Wenn sie sich nicht täuschte, war es Og. Und er hatte sich selbst gerade den Todesstoß versetzt.

Die Hand, die gerade noch die Muschel gehalten hatte, verkrampfte sich, fing haltlos zu zittern an. Ogs ganzer Körper wand sich mit einem Mal unter heftigen Krämpfen. Es war ein kurzer, offensichtlich qualvoller Schmerz, und er zwang den Dad Siki Na auf die Knie. Seine sonnengebräunte Haut splitterte wie Glas, platzte auf wie die Haut eines Reptils. Der Körper des Goygoa wuchs. Hände wurden zu Pranken, Menschenhaut zu Schuppen unter schütterem Haar; ein Schwanz, der in einen dornenbewährten Knoten überging, ein Maul ähnlich dem einer Echse, rasiermesserscharfe Zähne, raubkatzenhafter Leib …

Die Verwandlung ging so schnell, dass man sie kaum nachvollziehen konnte. Einmal geblinzelt, und Og hatte sich in eine der tödlichsten Kreaturen Amaleas verwandelt – den schier unbezwingbaren Dämon der Kabugna-Inseln. Siki Ka Tri Ida Di.

Kaum, dass er sich wie ein Wolf unter Lämmern inmitten der Scorpios materialisiert hatte, fing er auch schon an zu töten. Und dabei machte er keinen Unterschied zwischen Freund und Feind. Den Mächten sei Dank gab es keine Verbündeten in seiner näheren Umgebung. Dafür hatte Og gesorgt, als er noch bei Verstand gewesen war. Wie schon im Pass von Cunair Tarr brach Siki in die Front der Feinde wie ein Rammbock durch morsches Holz. Seine Zunge zuckte durch Schädelplatten und schlürfte Gehirne aus Köpfen. Endlich fielen die Krieger der Wüste in ermutigender Zahl. Und doch, würde es reichen? Selbst Siki konnte diesen endlosen Ansturm nicht aufhalten. Wann, wo sollte er sich regenerieren?

Chara spürte einen Stich im Herzen. Dort wütete die furchtbarste Bestie, die ihr je untergekommen war, und doch fühlte sie einen seltsamen Schmerz angesichts der Tatsache, dass sie heute und hier sterben würde. Og hatte sein Leben für ihres geopfert. Er ging an seinem Schicksal zugrunde. Die Dad Siki Na starben für das Sandkorn. Siki war ihre Bestimmung. Und er war Charas Begleiter, vielleicht sogar der treueste, den sie je haben würde. Immer mehr begriff sie die Tragweite der Opferbereitschaft ihrer Leibwachen. Sie war etwas Ähnliches für die Dad Siki Na, wie Al’Jebal für sie.

Von dem Morden ihres Dämons seltsam in den Bann gezogen, beobachtete Chara, wie sein breiter Schädel in alle Richtungen schnellte und Scorpio-Köpfe knackte, wie sein Schwanz ganze Skorpionkrieger von ihren acht Beinen warf und sie mit seinem gewaltigen Knoten einfach zerschmetterte. Als hätte jemand das Tor in die Unterwelt geöffnet und seinen Wachhund ins Diesseits gejagt – auf alles, was sich hier bewegte …

Sollte jemand wider Erwarten diese Schlacht überleben, würde diese garantiert in die Geschichte eingehen. Chara blinzelte und spähte zu dem Felsen, von dem sie wusste, dass Irwin MacOsborn dahinter kauerte. Wenn sich der Barde schon derart ins Beinkleid machte, dass er sich verstecken musste, konnte er wenigstens irgendwann noch mal einen sinnvollen Beitrag leisten.

Träge wälzte sie den Kopf auf die andere Seite. Kaum noch dazu in der Lage, die Augen offen zu halten, sah sie wieder Lindawen an. Doch als sie endlich den Mund aufmachen wollte, lenkte erneut etwas ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Chara horchte in den Schlachtlärm hinein …

… und versteifte sich.

Ich bin ein Krieger der Nacht, bin ohne Tagtraum geboren.

Ich geh dem Licht aus dem Weg, in dunklem Schatten verloren,

meine Seele ist zerrissen, und mein Geist, der ist verdammt,

und so zähle ich die Leben, bis das Ende endlich kommt.

Näher und näher und näher.

Komm, süßer Tod …♫

Es war das Lied vom Tod. Es sang vom Schlaf, vom Vergessen und dem Ende aller Qual. Es erzählte von Charas Sehnsucht, von ihrer Liebe zum Niedergang. Die Stimme sang ihr aus dem Herzen. Und sie wurde lauter. Doch das war es nicht, weshalb sich ihr Körper versteift hatte.

Chara holte zitternd Luft. Ihre Lider schlossen sich. Irgendetwas sagte ihr, dass es nicht ihre eigene, innere Stimme war, dass es diesmal nicht ihr vorlautes, zweites Ich war, das sich Gehör verschaffte. Wenn sie genau hinhörte … sicher, es war nicht eine, es waren viele Stimmen.

Ich hab aus Sehnsucht getötet, den Zorn der Götter erregt,

hab mich mit ihnen, den Engeln und mit mir selbst angelegt,

meine Seele ist zerrissen, und mein Geist ist verdammt,

und so zähle ich die Leben,

bis das Ende endlich kommt,

näher und näher und näher …

Charas Pulsschlag beschleunigte sich.

Komm, süßer Tod. Komm, süßer Tod.

Wo kamen diese Stimmen her?

Nimm mich zu dir, ich bin nicht im Hier.

„Erlöse mich.“

Es ist an der Zeit, keine Liebe, kein Leid.

„Hol mich zu dir.“

Erschöpft öffnete Chara ihre Finger, und Lindawens Hand fiel auf den Boden. Eine kaum wahrnehmbare Bewegung an ihrer Seite, ein Lufthauch an ihrer Wange, und Chara atmete zitternd ein.

„Muss ich wieder dein Blut retten?“

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende

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