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ОглавлениеScheiß Strömung
Arina
Das Segelboot ist gekentert! Das Kind ist im Wasser. Ich habe noch keinen klaren Gedanken gefasst, da stoße ich mich bereits von der Boje ab und mit allem, was meine Arme und Beine hergeben, schwimme ich zu dem havarierten Boot. Die Motorboote hauen derweil ab.
Ich erreiche die Stelle, wo das Kind ins Wasser fiel. Seine Rettungsweste treibt oben. Aber nur die Rettungsweste! Wo ist das Kind?
Aus der Schwimmbewegung heraus tauche ich ab. Das Kind ertrinkt. Jetzt muss es schnell gehen. Mit einem tausendfach geübten Griff ziehe ich mein Notatemgerät aus seinem Holster. Und schon ist das Mundstück in meinem Mund. Nun habe ich 80 Liter Luft zur Verfügung. Gute 45 Atemzüge. Weniger nach der Anstrengung des schnellen Schwimmens. Weniger, je tiefer ich runter muss.
Wie zieht die Strömung heute genau? Wie tief kann das Kind gesunken sein?
Hektisch sehe ich mich um.
Zwei Meter. Kein Kind.
Drei Meter. Kein Kind.
Fünf Meter. Kein Kind. Strömung. In welche Richtung zieht sie hier? Kurz orientiere ich mich. Grob Richtung Land. Verdammt, die Strömung macht es schwer auszurechnen, wohin das Kind abgetrieben wird.
Sechs Meter. Sieben Meter. Acht Meter. Kein Kind.
Neun Meter. Ein bunter Fleck. Etwas rechts von mir. Was hat das Kind angehabt?
Ich schwimme zu dem hellen Fleck.
Ein Körper. Ein kleiner. Regungslos treibt er im Wasser. Ich erreiche ihn. Es ist das Kind. Die Augen sind geschlossen. Keine Regung.
Ich packe den kleinen Körper und schieße nach oben. Mein Notatemgerät reiße ich mir aus dem Mund und stopfe es in das Holster. Atmet das Kind? Hat es Puls? Aus den Augenwinkeln sehe ich das gekenterte Segelboot. Es ist ein ganzes Stück entfernt. Vom Land her prescht das Boot der Rettungswache zur Unglücksstelle.
Das Kind! Ich zerre einen Handschuh von meiner Hand. Stopfe ihn unter meinen Gewichtsgurt. Puls am Hals? Ja.
Atmung? Nein. Stimmritzenkrampf? Möglich.
Meine Tauchmaske ziehe ich unters Kinn und drehe sie in meinen Nacken, um meinen Mund und meine Nase frei zu haben. Ich öffne den Mund des Kindes. Des Mädchens. Leicht strecke ich den Kopf nach hinten. Vorsichtig blase ich Luft hinein. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Das Kind hustet. Es schlägt die Augen auf. Keinen Ton gibt es von sich. Es betrachtet mein Gesicht. Meine Augen. Eine Hand greift zu meinem Kopf. Nimmt eine meiner roten Locken in die Hand, die sich inzwischen einen Weg unter der Kopfhaube hervorgesucht haben. Ihr Mund formt ein O. Aber immer noch sagt sie nichts. Ihr zweiter Arm klammert sich um meinen Hals. Ganz nah sind unsere Gesichter. Unsere Nasen reiben aneinander.
Das Kind muss an Land. Schnell. Ich lege mich auf den Rücken und ziehe das Kind auf meinen Bauch. Anders könnte ich sie nicht Richtung Land bringen, so fest umklammert sie meinen Hals. Das Kind drückt mich zu sehr runter. Auftrieb muss her. Ein Griff und der Gewichtsgurt saust zum Meeresgrund. Scheiß drauf. Sie schmiegt sich an mich. Okay, aber so kann ich nicht mehr in ihr Gesicht sehen.
Dank meines häufigen Trainings und der langen Flossen mache ich schnell Strecke gut. Meinen Rücken beuge ich etwas, um mit meinen Schultern das Wasser von ihrem Gesicht fernzuhalten, das ich wie eine Bugwelle aufstaue. Immer noch hält das Kind meine Locke fest. Gut, wenn es noch zugreifen kann, lebt es noch. Ich pflüge regelrecht durch das Wasser.
Das Boot der Wasserwacht erreicht das Segelboot. Ein Retter springt über Bord. Zwei andere ziehen das erste Besatzungsmitglied des Seglers an Bord.
Ich komme ins Flachwasser. Zwei Männer in der typischen Kluft der Wasserwacht rennen auf mich zu. Bevor ich meine Flossen ausziehen kann, nehmen sie mir das Kind behutsam ab. Eindringlich sieht es mich an. Dann gleitet ihr Blick zu meinen Beinen und den langen Flossen.
„Sie hat Wasser geschluckt! Die Atmung hatte ausgesetzt!“, rufe ich den Rettungsschwimmern zu.
„Alles klar. Danke!“, ist ihre Antwort.
Ein Blick zur Unglücksstelle zeigt mir, dass alle drei Verunglückten inzwischen gerettet wurden. Ich schnaufe einen Moment durch. Meine Kopfhaube streife ich ab. Ein letzter Blick geht zu dem Kind, das mich immer noch beobachtet. Ich glaube, ein Erstaunen zu sehen, als ich meine roten Haare zeige. Die Rettungsschwimmer und das Kind verschwinden hinter Sonnenschirmen. Dann ziehe ich meine Flossen aus. Mit immer noch von der Anstrengung leicht zitternden Beinen stehe ich auf.
Das Mädchen wird bereits zum Durchgang in den Dünen gebracht. In der Ferne höre ich Sirenen.
Für mich gibt es nichts mehr zu tun. Langsam gehe ich zurück zum Parkplatz.