Читать книгу Moderne Engel - J. Reiph - Страница 14
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Mike
Im Krankenhaus haben sie mir ein paar trockene Klamotten gegeben. Klinikcouture. Hübsch.
Ungeduldig laufe ich vor dem Behandlungszimmer auf und ab. Ich war den Ärzten und Pflegern zu nervös. Deswegen haben sie mich rausgeschickt. Durch die offene Tür kann ich sehen, wie meine Kleine regelrecht verloren auf der Behandlungsliege wirkt. Marie liegt ganz still. Sie sieht zur Decke. Mich irritiert, dass sie lächelt.
Meine Eltern kommen. Sie haben eine Tasche dabei. Meine Mutter nimmt mich in den Arm.
„Wie sieht es aus?“
„Sie untersuchen Marie noch. Es geht wohl darum, ob sie Salzwasser eingeatmet hat.“
Vater nickt.
Der Arzt tritt aus dem Behandlungszimmer.
„Familie Haiden?“
Wir bejahen das.
„Der kleinen Marie geht es gut. Sie hat nur sehr wenig Salzwasser eingeatmet. Glücklicherweise haben ihre Schutzreflexe eingesetzt und die Stimmritzen sind verkrampft. Der Taucher hat sie so rechtzeitig nach oben gebracht, dass der Krampf sich erst an der Luft wieder löste.“
„Die Taucherin.“, rutscht es mir heraus.
Irritiert sieht der Arzt kurz zu mir. „Okay, die Taucherin. Wir würden Marie gerne über Nacht hierbehalten, um ganz sicher zu sein, dass es nicht zu einem sekundären Ertrinken kommt.“
Das sehen wir ein.
„Kann ich bei ihr bleiben?“ Natürlich lasse ich meine Kleine nicht alleine.
„Selbstverständlich. Haben Sie Ihre Krankenkassenkarte dabei?“
„Nein. Wir sind allerdings auch privat versichert.“
„Gut, dann kommt nachher eine Schwester mit einem Fragebogen zu Ihnen.“
Erleichterung zeigt sich in den Gesichtern meiner Eltern. Marie scheint nichts passiert zu sein. Es waren nur Sekunden, dann wäre die Ostsee ihr nasses Grab geworden. Im Stillen danke ich der unbekannten Retterin. Anscheinend können Engel schwimmen. Wenigstens Schutzengel.
Eine Stunde später sind Marie und ich vernünftig gekleidet. Gemeinsam sitzen wir in dem Familienkrankenzimmer. Dort ist ein zweites Bett für mich. Marie lehnt in einem Berg aus Kissen. Sie hält ihr Lieblingsbuch in den Händen. Immer wieder streicht sie über das Bild der rothaarigen Arielle auf dem Cover.
Versonnen betrachten wir meinen Schatz. Plötzlich breitet sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Unsere Augen werden riesengroß, als sie den Mund aufmacht und klar und deutlich sagt: „Arielle.“
Das erste Wort, das sie je gesprochen hat.
Wir sehen uns voller Unglaube an, bevor ein glückliches Lächeln durch unsere Fassungslosigkeit bricht.
Kordula, Johann, unser Fahrer und Gerd, der Gärtner, stehen mit strahlenden Gesichtern in der Diele unseres Hauses, als wir Marie am nächsten Tag heimbringen. Deutlich ist ihre Erleichterung zu spüren, dass Marie wohlauf ist. Auch wenn sie nicht das typische Kind ist, haben sie alle meine Tochter fest in ihre Herzen geschlossen.
In der Küche wartet ihr Lieblingsessen auf Marie. Umsorgt von meiner Mutter und Kordula werden ihr Häppchen in den Mund geschoben. Marie hält dabei die ganze Zeit ihr Buch umklammert.
Als wir Kordula erzählen, dass Marie gestern ihr erstes Wort gesprochen hat, laufen ihr Tränen über die Wangen. Sie ringt mit den Händen. Marie hat gesprochen.
Ich folge meinem Vater in sein Arbeitszimmer. Wir setzen uns in die bequeme Sitzgruppe.
„Die Polizei hat die beiden Bootsführer ermittelt. Ich habe Dr. Burgsmüller beauftragt, dafür zu sorgen, dass sie angezeigt werden.“ Dr. Burgsmüller ist unser Hausanwalt. Er und seine Kanzlei vertreten auch unsere Firmen. Ein ganz scharfer Hund. Die beiden Bootsführer werden nichts zu lachen haben.
„Ich möchte herausfinden, wer Marie gerettet hat.“, teile ich meinem Vater mit.
„Ja, das möchte ich auch. Die Rettungsschwimmer haben sie nicht mehr gefunden, nachdem die Rettungswagen weg waren und unsere Jolle geborgen war. Was weißt du über sie?“
„Nicht viel. Nur das, was die Rettungsschwimmer gesagt haben. Eine Frau und sie hat etwas mit einem Forschungsprojekt der Hanse-Uni zu tun.“ Zufälligerweise auch die Hochschule, an der ich studiere.
„Hmm. Das ist mal ein Ansatz.“ Er geht zu seinem Schreibtisch und sucht einen Moment herum. Dann kommt er mit seinem Telefon und einem Zettel zurück. Ich sehe das Logo der Uni im Briefkopf.
Er wählt eine Nummer.
„Haiden. Ich grüße Sie. … Ja, genau der. Kann ich bitte den Dekan sprechen? … Ja, danke, ich warte.“
Es dauert einen Moment.
„Haiden. Guten Tag, Herr Dekan. …Ja, danke. Ihnen auch? … Das freut mich. Ich hätte eine Bitte. Könnte ich heute noch zu Ihnen kommen? Ich hätte eine wichtige Frage. … In einer Stunde? Ja, das schaffen wir. … Danke. Ja. Bis gleich.“
Mein Vater steht auf. „Komm, Mike, wollen wir doch mal sehen, ob wir die Taucherin nicht auftreiben können.“
„Wie?“
„Mir ist eingefallen, dass das abgesteckte Areal zu einem Forschungsprojekt gehört, das ich unterstütze. Und da kann der Dekan mir ruhig bei der Suche helfen.“ Schelmisch grinst er mich an. So ist mein Vater. Er ist ein knallharter Geschäftsmann, aber wenn es um seine Enkelin geht, ist sein Herz butterweich. Da zieht er alle Register.
Die besagte Stunde später nehmen wir im Büro des Dekans Platz. Kaffee und Tee werden uns gebracht.
„So, Herr Haiden, was kann ich denn für Sie tun?“ Die Freundlichkeit ist nicht aufgesetzt. Mein Vater unterstützt die Uni wirklich großzügig. Das macht er aber zum Wohle der Forschung. Das weiß auch der Dekan. Deshalb pflegen sie einen freundschaftlichen Umgang.
„Ich komme heute mit einem persönlichen Anliegen zu Ihnen.“ Eine Augenbraue des Dekans wandert nach oben.
„Es ist so ...“ Mein Vater berichtet von dem Unfall und der Rettung von Marie.
Einen Moment grübelt der Dekan. „Es stimmt. An dem Strandabschnitt, wo das passiert ist, haben wir ein Testfeld. Warten Sie bitte, ich rufe Professor Kälterfeld an. Er betreut das Projekt.“
Eine Viertelstunde später gesellt sich der angesprochene Professor zu uns. Auch ihm wird der Vorfall geschildert. Sichtbar ist sein Entsetzen, als er erfährt, dass Marie fast ertrunken wäre.
Seine Hand streicht um sein Kinn.
„In der Gruppe sind zwei Frauen. Aber für gestern waren gar keine Tauchgänge geplant. Sie sagen, sie hätte sehr lange Flossen gehabt?“ Ich bestätige das.
„Dann kann es eigentlich nur Arina gewesen sein. Arina Koch.“
„Frau Koch?“, fragend hebt der Dekan die Augenbrauen.
„Ja. Sie ist Apnoetaucherin und verwendet oft überlange Flossen.“
„Was ist denn mit dieser Frau Koch?“, möchte mein Vater wissen.
„Sie ist eine ganz außergewöhnliche Studentin. Blitzgescheit. Sie hat den Bachelor in Biologie deutlich unterhalb der Regelstudienzeit geschafft. Nun arbeitet sie an ihrem Master in Meeresbiologie und -ökologie. Sie ist ausgesprochen talentiert. Und eine hervorragende Taucherin. Ihr würde ich solch eine Aktion durchaus zutrauen. Auch, dass sie hinterher verschwindet, passt zu ihr. Sie schiebt sich nie in den Vordergrund.“, antwortet uns der Prof.
„Können wir sie irgendwo treffen?“
„Hmm, heute hat sie keine Vorlesungen. Aber morgen ist ein Seminar, an dem sie teilnimmt. Meistens geht sie danach in die Mensa.“
„Können Sie uns Ihre Adresse geben?“, wendet Dad sich an den Dekan.
Sichtlich windet er sich.
„So sehr ich Sie schätze, Herr Haiden. Aber wegen der DSGVO sind uns da die Hände gebunden.“
„Gut, das verstehe ich.“
Ich werfe ein: „Ich könnte morgen versuchen, sie in der Mensa zu treffen. Wie erkenne ich sie?“
Ein breites Grinsen überzieht das Gesicht ihres Profs. „Oh, das wird einfach. Wenn Sie ihre Haare sehen, wissen Sie, dass sie es ist.“
Fragend sehe ich ihn an.
„Sie hat langes, dicht gelocktes und ROTES Haar. Nicht rot gefärbt, sondern natürlich.“
Schmunzelnd sieht er mich an. „Sie sollten sie aber nicht darauf ansprechen.“ Die Begründung bleibt er uns schuldig.
Zufrieden verabschieden wir uns. Wir haben eine Spur zu ihr.