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ОглавлениеMein Herzblatt
Mike
Was kann es Schöneres geben, als am Morgen vom Duft eines frisch gebrühten Kaffees geweckt zu werden? Spontan fällt mir nicht viel ein. Doch, eines gäbe es. Wenn sich der liebste Mensch an dich kuschelt und dich so weckt. Meine Freude versiegt. Das wird so schnell nicht geschehen. Der Mensch, der mir das Liebste schenkte, lebt nicht mehr. Und meine kleine Tochter lebt in ihrer Welt. Sie ist Autistin. Aber deswegen hängt mein Herz nicht weniger an ihr. Nur von sich aus hat sie leider wenig Bedürfnis, zu mir ins Bett gekrabbelt zu kommen. Eine kleine Träne verlässt meinen Augenwinkel. Ich liebe meine sechsjährige Tochter mit der ganzen Kraft meines 22 Jahre alten Herzens.
Ergeben seufze ich. Der Tag wartet auf mich. Bevor ich unter die Dusche springe, schlurfe ich ins Erdgeschoss. Aus der Küche höre ich ein fröhliches Summen. Kordula, unser guter Geist des Hauses, verbreitet ihre (fast) immer sonnige Stimmung in ihrem Reich. Kordula ist Mitte fünfzig und so lange ich denken kann, Haushälterin im Hause meiner Eltern. Eine Haushälterin? Ja, wir haben auch einen Gärtner und einen Fahrer für meinen Vater. Unser Familienunternehmen ist eine weltweite Größe im Bereich Landwirtschaft, Gewächshäuser und Nahrungsmittelproduktion. Ja, wir sind reich. Schwer reich. Meine Eltern legen aber sehr viel Wert darauf, dass wir soziale Projekte und Talente fördern. Unser Haus ist angesichts unseres Reichtums eher unspektakulär. Groß? Ja. Komfortabel? Auf alle Fälle. Überbordender Luxus und die allseits vermuteten goldenen Wasserhähne? Nein. Für solchen Schnickschnack geben meine Eltern kein Geld aus. Eine teure Luxusjacht oder Wohnungen an den High Society-Spots weltweit? Nein. Lieber fördert mein Vater einen hoffnungsvollen Studenten, als für so etwas Geld auszugeben. Diese Investitionen haben sich in der Vergangenheit durchaus rentiert. So sind wir perfekt in der Wissenschaftswelt vernetzt. Etliche arbeiten sogar für uns. Das hat uns bereits viele Patente eingebracht, die unseren Wirtschaftsbüchern gute Einnahmen bringen.
Und meine Rolle? Ich bin der klassische Sohn. Der Erbe und potentielle Firmenlenker. Mein Vater ist Mitte fünfzig. Meine Mutter gute zehn Jahre jünger. Als einziges Kind bin ich mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund geboren worden. Trotzdem hatte ich eine normale Kindheit. Ich bin auf kein Eliteinternat geschickt worden. Vielmehr hat meine Mutter mich mit liebevoller Hand erzogen. Auch mein Vater hat es mir trotz seines vollen Terminplanes nicht an Aufmerksamkeit und Zuwendung fehlen lassen.
Ich habe ein Gymnasium hier im Ort besucht. Hatte und habe meinen Freundeskreis. Und ich hatte meine rebellische Phase. Da war ich 15. Ich lernte ein Mädchen kennen. Sie war schon 17. Obdachlos und drogenabhängig. Meine Eltern haben sie abgelehnt. Trotzdem oder gerade deswegen habe ich sie geliebt. Oder habe es gedacht. Sie wurde schwanger. Trotz ihrer Ablehnung haben meine Eltern sich um ihre medizinische Versorgung gekümmert. Kaum war unsere Tochter auf der Welt, fiel sie in alte Verhaltensmuster zurück. Kurze Zeit später hatte sie es mit den Drogen übertrieben und starb. So war ich mit 16 alleinerziehender Vater. Bald stellten wir Verhaltensauffälligkeiten bei meiner Tochter fest. Irgendwann haben die Ärzte Autismus diagnostiziert. Also war ich noch Schüler und hatte die Verantwortung für ein behindertes Kind. Ich kann es meinen Eltern gar nicht hoch genug anrechnen, dass sie mich massiv unterstützen. Sie kümmern sich um ihr Enkelkind. Meine Marie, mein Schatz, fehlt es an keiner Förderung. Sie bekommt alle Liebe, die sie sich wünschen kann. Was wir aber nicht bekommen, ist die typische unbeschwerte Liebe eines Kindes. Es ist weder den Therapeuten noch uns gelungen, den Panzer zu ihrer Welt zu knacken. Egal, was wir versuchen.
Mich hat die Verantwortung für Marie schnell aus meiner rebellischen Phase zurückgeholt. Ich habe mich auf die Schule konzentriert und ein brauchbares Abi gemacht. Nun studiere ich Maschinenbau und höre Vorlesungen zur Betriebsführung als Rüstzeug für meine zukünftige Aufgabe als Leiter und Lenker unseres Unternehmens.
All diese Gedanken verfliegen, als mir Kordula einen köstlichen Kaffee in die Hand drückt. Mit einem Kuss auf die Wange danke ich ihr. Lachend streicht sie über mein Gesicht, wie sie es schon gemacht hat, als ich noch ein Kind war. Sie ist eigentlich keine Angestellte, sondern ein Familienmitglied, das zufällig für uns arbeitet. Uns ist klar, dass sie auf dem Grundstück in einem der Angestelltenhäuser leben kann, so lange sie es will. Sie wird immer einen Platz an unserem Tisch haben. Denn eigentlich ist sie alleine auf der Welt. Sie hat weder Mann noch Kinder. Für sie sind wir ihre Familie.
Nach einem leckeren Frühstück mache ich mich fertig und schleiche in das Zimmer meiner Tochter. Sie sitzt in ihrem Bett und blättert in einem Kinderbuch. Ich muss gar nicht hinsehen. Jeden Morgen gehört es zu ihrem Ritual dieses Buch zu betrachten. Arielle - die kleine Meerjungfrau. Ihre stärkste Reaktion auf die Umwelt ist, wenn wir ihr einen Arielle-Film im Fernsehen anstellen. Den verfolgt sie mit glänzenden Augen. Mittlerweile haben wir jeden, aber auch wirklich jeden kindgerechten Meerjungfrauenfilm zuhause, der je verkauft wurde.
Sanft gebe ich ihr einen Kuss auf den Kopf. Sie lässt es geschehen. Aber so gerne würde ich von ihr eine Umarmung oder wenigstens ein Lächeln zurückbekommen.
Nach einer herzlichen Verabschiedung von meiner Mutter fahre ich zur Uni und bin wieder der vorbildliche Student. Ohne Einkommenssorgen und mit einem stets gefüllten Kühlschrank. Ich bin schon privilegiert.