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ОглавлениеDer nächste Vollpfosten
Arina
Warum hat mein Prof mich heute im Seminar die ganze Zeit so komisch angesehen? Gleich nach der Veranstaltung bin ich auf die Toilette gegangen und habe im Spiegel geprüft, ob ich etwas im Gesicht habe. Ne, alles in Ordnung. Komisch. Aber egal.
Ich suche mir in der Mensa einen ruhigen Tisch. Meinen Salat möchte ich in Ruhe essen. Dabei will ich in einer Abhandlung über Algen und ihre wirtschaftliche Bedeutung lesen.
Einen Moment sehe ich mich in der Mensa um. Dabei frage ich mich, warum ich, wie so oft, alleine an dem Tisch sitze. Ein wenig Selbstreflektion kann ja nicht schaden. Mit 13, 14 Jahren hatte ich Freundinnen. Richtig gute Freundinnen, das dachte ich zumindest. Als meine Eltern starben, war ich natürlich ziemlich von der Rolle. Nach unseren üblichen Freizeitbeschäftigungen stand mir absolut nicht mehr der Sinn. Denn es ging um mein weiteres Leben. Meine beiden Eltern waren Einzelkinder. Ich bin ein Einzelkind. Alle meine Großeltern sind früh gestorben. Weit und breit gab es keine Verwandten, zu denen ich gekonnt hätte. Also kam ich nach dem kurzen Intermezzo in der Pflegefamilie in ein Heim. Vorbei war es mit meinem gemütlichen Zimmer. Dafür musste ich lernen, mich im Heim durchzusetzen. Neben der ganzen sonstigen Belastung. Weil ich nicht mehr der fröhliche Teenager war, zogen sich meine Freundinnen, und alle anderen, immer weiter von mir zurück. Ich wurde zur Unberührbaren, zur Außenseiterin. Ich wurde gemieden, als wäre mein persönliches Leid ansteckend. Das hat mir den Rest gegeben.
Einige Zeit war ich in psychologischer Behandlung. Meine Therapeutin war richtig gut. Aber die Verluste konnte sie nicht aufwiegen. Auch konnte sie den tiefen Riss nicht kitten, den ich seitdem potentiellen Freunden gegenüber habe. Ich lasse Freundschaften nicht mehr zu. Meine Theorie ist, dass mich niemand verletzen kann, wenn ich niemanden an mich heranlasse.
In der Oberstufe hatte ich eine lockere Lerngruppe, die sich von mir durchs Abi helfen ließ. Meine selbst gewählte Therapie war das Lernen. Als ich mit 16 in die Wohngruppe kam, waren meine Möglichkeiten, mich zurück zu ziehen deutlich besser. Das habe ich genutzt. Und gelernt und gelernt und gelernt. Ich zog meinen Mitschülern davon. Das hat mich noch mehr ins Abseits gebracht. Durchaus sorgenvoll wurde das von meiner Therapeutin betrachtet.
Eine kurze Zeit habe ich mich auf einen Jungen eingelassen. Nachdem er mich entjungfert hatte, bekam ich mit, wie er vor seinen Freunden damit prahlte, den rothaarigen Eisklotz geknackt zu haben. Wenigstens ging er nicht auf meine Schule, so dass das nicht die Runde dort machte. Doch das Verhalten war ein weiterer Knacks in meiner Seele. Es hat mich tiefer in meine Bücher getrieben.
Schon vor dem Unfall meiner Eltern war ich eine Einser-Schülerin. Nicht verwunderlich, dass meine Fokussierung auf das Lernen mich zur Jahrgangsbesten gemacht hat. Nach der Zeugnisübergabe bin ich direkt verschwunden. Den Abiball habe ich mir geschenkt. Seitdem habe ich keinerlei Kontakt mehr zu meinen ehemaligen Mitschülern.
Im Studium ging es ähnlich weiter. Es gab durchaus soziale Kontakte und lockere Freundschaften. Oder sollte ich eher sagen, etwas tiefere Bekanntschaften? Ich komme mit den Mitmenschen gut aus, solange es halbwegs unverbindlich bleibt. Ohne mich selbst zu loben, habe ich ein beachtliches Wissen während meines Studiums aufgebaut. Mehr als einmal wurde mir attestiert, dass ich ausgesprochen talentiert bin. Das macht mich in Lerngruppen beliebt. Mal sehen, was mir das in der Zukunft nutzt. Auch sehe ich objektiv betrachtet gut aus. Das sorgt dafür, dass es durchaus Kontaktversuche gibt. Aber viele enden in Katastrophen. Die Machos, die Aufreißer interessieren mich kein bisschen. Jungs, die mir unter Umständen etwas bedeuten könnten, lerne ich kaum kennen, weil sie sich nicht trauen, mich anzusprechen. Blauäugige und echte Rothaarige sind eine ziemlich seltene Erscheinung auf unserem Planeten. Darum falle ich auf. Auffällige Menschen werden zwangsläufig mehr beobachtet. Ich musste lernen, dass die „Normalos“ ein Problem damit haben, „auffällige“ Menschen anzusprechen. Sie trauen sich schlicht nicht. Bestimmt gibt es unter ihnen viele Juwelen. Doch sie zu finden - kaum möglich. Wenn ich, was selten genug vorkommt, mal auf jemanden zugehe, ernte ich oft Blicke wie die des berühmten Kaninchens vor der Schlange. Als würde ich den Kerl im nächsten Moment verschlingen. Verdammt, verdammt. Dabei bin ich alles andere als gewalttätig oder ein Vamp. Nicht einmal meine durch und durch normale Kleidung würde auch nur einen Hauch davon andeuten.
Sozial bin ich entwurzelt. Mir fehlen meine Eltern, meine Familie. Ein Rückzugsort, an dem ich auch mal schwach sein darf. Menschen, die mich vorbehaltlos lieben. Mit einem Seufzer mache ich mir klar, dass ich diesen Luxus nicht mehr habe und wohl auch nicht mehr haben werde. Wenn ich ehrlich zu mir bin, bin ich einsam. Die sieben Jahre seit dem Tod meiner Eltern haben mich gelehrt, mich auf mich, und nur auf mich, zu verlassen. Bevor ich einen Moralischen kriege, schiebe ich die Gedanken weg. Vielleicht sollte ich meinen Salat essen, bevor er verwelkt. Ran an die Gabel. Der Artikel liest sich auch recht gut.
Ein Räuspern unterbricht mich. Ich sehe auf. Ein Kerl steht neben meinem Tisch. Er hat eine Tasse Kaffee in der Hand. Ungefähr mein Alter. Normale Größe, so um einsachtzig. Dunkle Haare, sorgfältig frisiert. Blaue Augen. Angenehmes Gesicht. Drei-Tage-Bart. Schlank. Sauber gekleidet. Sehen nicht unbedingt nach Second Hand aus, die Klamotten. Auf den ersten Blick nicht schlecht. Kein Womanizer, aber ansprechend.
„Darf ich mich zu dir setzen?“
Mein Blick schweift in die Runde. Nun, es ist nicht so, als wäre die Mensa im Moment überfüllt. Warum will er an meinem Tisch sitzen? Na gut, ist ein freies Land. Also zucke ich nur mit den Schultern.
„Danke.“ Er setzt sich. Wenigstens ist er höflich. Meistens läuft das sonst so ab:
Typ kommt. Typ zieht den Stuhl vor. Typ setzt sich. Ohne zu fragen natürlich. Typ stemmt die Ellenbogen auf den Tisch und sieht mich an. Typ setzt ein schleimiges Grinsen auf. Manche Typen nehmen dann eine meiner Locken in die Hand. Die kriegen augenblicklich was auf die Finger. Ansonsten: Typ macht den Mund auf und bringt einen der üblichen Anmachsprüche mit deutlichem Bezug zu meinen Haaren. Das Ende vom Lied: Der Typ sitzt alleine am Tisch oder ich vertreibe ihn, je nachdem, ob ich den Tisch noch gebrauche. Wenn man das häufig genug erleben durfte, prägt das. Ich erwarte schon fast solch ein Gehabe, wenn mich ein Kerl anspricht. Blöd, aber ich kann es nunmal nicht ändern.
Ich widme mich wieder meinen Unterlagen. Er sagt nichts, trinkt aber auch nicht von seinem Kaffee. Ich sehe auf. Er starrt mich an. Na, das kann ich gut haben. Augenblicklich verdüstert sich meine Laune. Was man mir üblicherweise auch ansieht.
Er macht den Mund auf.
„Ähm, du siehst toll aus.“ Er läuft rot an. Eigentlich niedlich. Aber ich ahne, was jetzt kommt.
„Du siehst wirklich aus wie Arielle.“
Ne, nä? Das ist ja wohl der Supergau an Sprüchen. Und ich dachte noch, dass er nett ist.
Mir reicht es.
„Du willst Arielle sehen? Dann kauf dir ein Ticket und geh ins Kino.“
Wütend stehe ich auf. Raffe meine Sachen zusammen. Ich blitze ihn noch einmal an.
„Und lass mich bloß in Ruhe, du Vollpfosten.“
Nach der Ansage rausche ich davon. Ein wenig habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn so angeranzt habe. Eigentlich sah er ja ganz nett aus und schien auch nicht der klassische Aufreißer gewesen zu sein. Sondern vielleicht sogar einer der unentdeckten Juwelen. Aber der Arielle-Spruch ist das absolute NoGo.