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Prolog

Arina

Schwerelos gleite ich an dem Riff entlang. Leider ist heute mein letzter Tag am Roten Meer. Morgen bringt mich mein Flieger zurück nach Deutschland. Sechs Wochen jobben und forschen habe ich hinter mir. Wegen des Fluges darf ich heute nicht mehr mit Druckluft tauchen, deswegen mache ich das, was mir im Wasser den meisten Spaß bereitet. Ich tauche nur mit dem Luftvorrat, den ich vor dem Abtauchen in meine Lunge bekomme. Das erspart mir eine sperrige und schwere Ausrüstung. Es ist ein erhabenes Gefühl, leicht und einfach durch das Wasser zu gleiten. Kein Vergleich zu der Behäbigkeit, wenn man das ganze sonstige Gerödel mitschleppt. Und ich vertreibe die Fische nicht mit meinen Luftblasen beim Ausatmen.

Still schwebe ich über Korallenblöcken. Neugierige Fische kommen mir ganz nahe. In Ruhe und jedes Mal aufs Neue fasziniert, betrachte ich sie. So schön. So still. Aber nicht so friedlich. Denn es geht hier um den evolutionären Dreikampf: Fressen, Fortpflanzen und Überleben.

Sechs Wochen war mein Aufenthalt von den morgendlichen Tauchgängen mit Gästen der Basis bestimmt. Als Guide und Tauchlehrerin habe ich zahlende Gäste der Basis die Schönheiten der Riffe gezeigt. Am Nachmittag habe ich mich meinem Forschungsauftrag gewidmet, den ich für mein Studium der Meeresbiologie und -ökologie angenommen habe. Eine Reihe Studenten hatte den Auftrag, das Vorkommen und die Auswirkungen des Befalls der hiesigen Riffe mit einer bestimmten Seeigelart zu dokumentieren. Denen mangelt es an natürlichen Fressfeinden und die Wassertemperaturen passen ihnen hier mittlerweile ausgesprochen gut. Die Folgen der Globalisierung und des Klimawandels. Die heimischen Korallen dagegen leiden darunter. Ebenso wie die hiesige Fauna. Denn die findet weniger zu Fressen.

Ich gelange zu einem meiner Lieblingsspots an diesem Tauchplatz. Aus mehr als 30 Metern Tiefe ragt ein Korallenblock bis kurz unter die Wasseroberfläche. An den Seiten gibt es eine große Kolonie Rotfeuerfische. Und etwa in der Mitte ist ein Durchbruch in dem Korallenblock. Darin ist ein großer Schwarm Glasfische. Die möchte ich noch einmal sehen. Ein tiefer Atemzug. Einmal sauber in der Hüfte abknicken. Die Beine aus dem Wasser heben und schon drücken sie mich nach unten. Ein Armzug, der erste Druckausgleich, ein paar Flossenschläge und schon bin ich auf 17 Metern angekommen. Hier verharre ich und genieße das Gewimmel des Fischschwarms. Wunderbar. Nachdem sich die von mir verursachten Druckwellen verflüchtigt haben, kommen die Fische immer näher. Bald habe ich etliche ganz dicht vor meiner Maske.

Ist das herrlich! Was habe ich diese Ruhe in den letzten Wochen vermisst. Mit meinen Schülern oder meinen Gästen hatte ich nie die Ruhe. Das ist wie ein Rudel Schafe, das geführt werden muss. Manche sind dabei schlimmer als ein Sack Flöhe. Die ständigen Ermahnungen, nichts anzufassen, verpuffen leider viel zu schnell. Die Nachmittage waren auch nicht so viel besser. Gut, mein Tauchpartner fasste nichts an und war recht geübt. Dafür waren wir mit Schreibtafeln und Kameras behängt. Das Zählen der Seeigel und dokumentieren der Schäden lässt wenig Freiraum für genussvolles Betrachten der wimmelnden Unterwasserwelt.

Auch wenn ich gut im Apnoetauchen bin, nach drei Minuten muss ich doch langsam wieder nach oben. Das Risiko eines Blackouts beim Auftauchen möchte ich vermeiden. Immerhin verstoße ich gegen das eherne Buddy-Prinzip und bin alleine unterwegs. Ein kurzer Kontrollgriff an meinen Oberschenkel bestätigt, dass meine minimale Notausrüstung noch an Ort und Stelle ist. Mein Notatemgerät sitzt in seinem Holster. Das ist eine Miniaturpressluftflasche mit direkt angeflanschtem Atemregler. Die winzige Flasche hat ein Volumen von unter einem halben Liter. Bei 200 bar Fülldruck sind das immerhin fast 80 Liter Luft. Verfange ich mich irgendwo, kann ich daraus atmen und gewinne Zeit, um mich zu befreien. Dazu kommt mein kleines, aber ungemein scharfes Messer am Unterschenkel. So viel Sicherheit muss sein.

Ich durchstoße die Wasseroberfläche mit meinem Schnorchel. Ein kräftiger Luftstoß befreit ihn vom eingedrungenen Wasser und ich kann frische Luft in meine Lungen saugen. Schnorchelnd setze ich meine Expedition fort. Unter mir sehe ich meinen Schatten. Die langen Flossen, die ich speziell für das Apnoetauchen verwende, lassen mich riesig erscheinen. Tatsächlich bin ich einen Meter und achtundsiebzig Zentimeter lang. Meine Figur ist selbst im Neoprenanzug als sehr schlank zu bezeichnen. Ich muss mir ein Grinsen verkneifen, als ich mir vorstelle, wie meine Silhouette wohl mit einer meiner Monoflossen aussehen würde. Bei einer Monoflosse habe ich ein sehr breites Flossenblatt und miteinander verbundene Fußteile. Damit kann ich die Beine nur parallel bewegen. Leider ist die Flosse zu groß für meine Reisetauchtasche.

Mit dieser Flosse sähe mein Schatten wie der einer Meerjungfrau aus. Jetzt überrollt mich die Erheiterung wirklich. Ja, verdammt, ich erfülle jedes Klischee.

Erstens: Ich tauche gerne. Am liebsten Apnoe. Darin bin ich gut. Zweimal habe ich es zur deutschen Jugendmeisterschaft im stationären Zeittauchen gebracht. Den deutschen Tiefenrekord mit Flossen für jugendliche Frauen habe ich nur ganz knapp verfehlt.

Zweitens: Ich bin schlank, habe der Natur aber eine durchaus weibliche Ausstattung zu verdanken.

Drittens und Achtung, jetzt geht es los: Ich habe lange, lockige und ROTE Haare. Von Natur aus. Manches Mal nerven die Haare. Beim Abtrocknen und der Pflege, aber auch bei den Männern. Jeder, aber auch wirklich jeder, spricht mich darauf an. Sie abschneiden? Nein, das bringe ich nicht fertig. Dazu erinnern sie mich zu sehr an meine Mutter. Früher hat sie mir gerne die Haare gekämmt. Als Kind hat sie mir dabei vorgesungen. Später war es immer unsere Zeit zum Quatschen. Ich muss bei diesen Erinnerungen schlucken. Auch nach all den Jahren fällt es mir schwer, mit diesen Gedanken umzugehen. Denn ein anderes Bild meiner Mutter drängt sich nach vorne. Ihr Name. Auf einem Grabstein. Und daneben der meines Vaters. Sieben lange Jahre ist das jetzt her.

Viertens: Meine meerblauen Augen passen auch so sehr ins Klischee, dass es fast nicht wahr ist. Dazu habe ich eine reine Haut und, wie MANN nicht müde wird zu betonen, ein hübsches Gesicht.

Fünftens: Als echte Rothaarige habe ich eine wenig pigmentierte Haut. Selbst nach sechs Wochen Ägypten bin ich nur zart gebräunt, während meine drei mich begleitenden Kommilitonen knackbraun sind. Also bin ich blass. Wie eine Meerjungfrau, die in den Tiefen des Ozeans lebt.

Sechstens: Und jetzt der absolute Klischeeknüller. Ich betreibe Mermaiding. Ja, ohne Quatsch. Ich gebe Kurse, wie man sich als Meerjungfrau, als Mermaid, unter Wasser bewegt. Wie man lustige Luftblasen macht. Und ja, ich habe zuhause Fischschwänze liegen. Wegen meiner Mähne muss ich keine Perücken tragen. Und weil ich ausgesprochen lange die Luft anhalten kann, werde ich oft gebucht. Für Fotosessions und als Kinderattraktion in Zoos und Aquarien. Oft werde ich in den großen Meerwasseraquarien eingesetzt, wenn sich Kindergruppen angekündigt haben. Die Mitarbeiter der Einrichtung erklären den Kindern die Unterwasserwelt und ich lenke ihre Aufmerksamkeit mit meinen Kapriolen auf das Geschehen. Hinterher treffen sie mich - rein zufällig - am Rand eines Beckens wieder. Bis dahin habe ich fix meine Haare getrocknet und es werden haufenweise Fotos gemacht. Das bringt mir einen guten Verdienst, den ich neben meinem Studium gut gebrauchen kann.

Denn siebtens: Ich studiere Meeresbiologie und -ökologie. Was auch meinen Aufenthalt hier am Roten Meer erklärt. Meinen Bachelor in Biologie mit Schwerpunkt in marinen Lebensformen habe ich bereits in der Tasche, mit 22 Jahren, und arbeite schon an meinem Master. Anschließend träume ich von einer Promotion, aber davor steht noch die Frage der Finanzierung.

Und zu guter Letzt achtens: Ich heiße Arina. Klingt das nicht ein wenig wie Arielle? Peng, Klischees satt. Da ist es quasi ein Muss, dass ich mich in der Unterwasserwelt so wohl fühle.

Wehmütig denke ich daran, dass ich morgen das letzte Frühstück im Hotel einnehme. Ein Luxus, den die Uni uns gönnt. Wir müssen uns nicht selbst verpflegen. Übermorgen kann ich mich wieder mit meiner WG wegen des Inhaltes, oder der Leere, des Kühlschrankes herumärgern.

So ganz langsam kriecht die Sonne gen Horizont. Mit Bedauern nehme ich Abschied von der mir liebsten Welt. Jetzt heißt es, den Rest an Ausrüstung ausspülen, den Anzug so gut es geht trocknen und alles für den Rückflug verpacken. In den nächsten Monaten bleibt mir „nur“ die Ostsee als Tauchrevier. Auch vielfältig und faszinierend, aber trotzdem kein Vergleich zu dieser bunten, warmen, hellen, tollen Landschaft des Roten Meeres. Ade. Bis zum nächsten Mal. Wenigstens beginnt der Sommer in Deutschland jetzt.

Moderne Engel

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