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EINFÜHRUNG
ОглавлениеFür unsere westliche Kultur ist die Idee der Erleuchtung relativ neu, sie hat erst in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich an Beachtung gewonnen. Zwar ist die Suche nach Erleuchtung weit davon entfernt, eine Massenbewegung zu werden, aber seit den sechziger Jahren hat sich hier – verstärkt durch die Invasion von Swamis, Lamas, Roshis und Gurus – doch eine lebendige spirituelle Subkultur entwickelt. 50 Jahre sind aus der Perspektive des Individuums eine lange Zeit, jedoch aus der Perspektive einer Kultur, die seit Jahrtausenden in der Lage ist, die Bedürfnisse der spirituellen Sucher zu befriedigen, ein sehr kurzer Zeitabschnitt.
Durch materielle Objekte geprägte Kulturphänomene entwickeln und verändern sich ziemlich schnell. Die Entwicklung komplexer wissenschaftlicher, psychologischer oder literarischer Weltanschauungen benötigt deutlich länger, ein paar Generationen vielleicht. Doch ein vollständiges Erkenntnissystem, das die Natur des Bewusstseins und der Psyche und deren Beziehung zur materiellen Welt umfasst und das menschliche Streben nach Befreiung in allen Aspekten beschreibt und auflöst, ist das Werk vieler Generationen über viele Jahrhunderte. Im Westen gibt es zwar eine lange religiöse Tradition mit gewissen spirituellen Aspekten – die von Zeit zu Zeit auch große nicht-duale Denker hervorbrachte; eine spirituelle Kultur, die auf der Idee der Nicht-Dualität basiert, hat sich im Westen jedoch nie entwickelt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der materielle Erfolg rasend schnell – und in seinem Gefolge bald auch der Überdruss; die seelischen Bedürfnisse wurden nicht befriedigt. Da die eigene westliche Kultur keine Antworten hatte, schauten sich die Menschen anderswo um und wurden im Osten fündig. Bald machten sich Zehntausende junger Frauen und Männer enthusiastisch auf den Weg nach Asien, vor allem nach Indien, auf der Suche nach Erfüllung. Wie ein Schwarm hungriger Heuschrecken machten sie sich über exotische hinduistische oder buddhistische Ideen und Übungen her. Obwohl sie in Wirklichkeit nur etwas an der Oberfläche kratzten, waren sie überzeugt davon, das Erleuchtungsspiel gemeistert und sich und ihr Leben auf Dauer transformiert zu haben. Sie kehrten mit der Zuversicht heim, die östliche Spiritualität in ihre Heimatgesellschaften integrieren zu können und diese vom Materialismus zu befreien. Doch die Kultur der Nicht-Dualität steckt im Westen noch in den Kinderschuhen und wartet darauf, eine adäquate Form anzunehmen. Wer die Geschichte der Erleuchtungskultur kennt und weiß, wie kurz ein paar Jahrzehnte sind, wird sich darüber nicht wundern.
Die westliche spirituelle Welt ist ein seltsames Potpourri dualistischer und nicht-dualistischer Vorstellungen und Übungen, die, anfangs sehr faszinierend und anziehend, oft schnell ihren Reiz verlieren. Viele Ideen stehen zueinander im Widerspruch, andere werden schnell aufgenommen, ohne wirkliche Änderungen zu bewirken. Der Hunger des Herzens wird nie dauerhaft gestillt. Vor 45 Jahren sagte mir mein Lehrer, ein mahatma, ein großer indischer Weiser, dass der Westen erst im 21. Jahrhundert bereit sein werde für die Großmutter der spirituellen Kulturen Asiens, für Vedanta, die vollständige und vollendete Wissenschaft der Erleuchtungslehren. Damals habe ich nicht groß über seine Worte nachgedacht, aber heute, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, erscheinen sie mir prophetisch. Viele spirituelle Sucher haben lange Jahre fleißig an sich gearbeitet und sind zu reifen Menschen geworden, was sie endlich befähigt, die radikale und der Intuition widersprechende Botschaft des Vedanta zu verstehen. Diese Botschaft lautet: Die Wirklichkeit ist nichtduales Bewusstsein – allen scheinbaren Widersprüchen zum Trotz! Was das genau bedeutet und wie es dir bei deiner Suche nach Freiheit zugutekommt, ist der Gegenstand dieses Buches.
2009 habe ich ein Buch mit dem Titel How to Attain Enlightenment geschrieben, welches Vedanta in klarer, moderner Sprache vorstellt. Vedanta konnte im Westen nicht wirklich Fuß fassen, weil die Menschen für seine Aussagen nicht reif waren oder weil die Idee der Nicht-Dualität mit dem mächtigen Symbolismus des Hinduismus überladen wurde. Die in orange Roben gekleideten Swamis, die es mit leuchtenden Augen lehrten, sprachen Hinglisch, Englisch mit einem starken Hindi-Akzent, und würzten ihre Lehre mit unaussprechlichen Sanskrit-Wörtern. Allzu oft wurde es als hinduistische Philosophie präsentiert, obwohl es nichts mit Hinduismus zu tun hat und keine Philosophie ist: Es ist das Wissen von der Wirklichkeit, und als solches ist es jenseits von Raum und Zeit, Religion und Philosophie. Bevor 2009 mein Buch erschien, gab es nicht viele Westler, die sich von der Vedanta-Lehre angezogen fühlten. Das hat sich seitdem geändert; auf alle Fälle ist mein Leben, das zuvor einfach und kontemplativ war, ziemlich betriebsam geworden. Jetzt reise ich um die Welt, um Vedanta zu lehren.
Der Kern der Vedanta-Lehren ist unveränderlich, er wurde vor Tausenden von Jahren enthüllt. Als Erleuchtungsmethode hat sie sich durch den Beitrag großer Geister immer weiter verfeinert und im 8. Jahrhundert durch Shankaracharya ihre Perfektion erreicht. So wie niemand versucht, das Rad neu zu erfinden, kann auch niemand Vedanta verbessern. Es tut, was es tun soll: uns aus dem Gefühl des Begrenzt-Seins befreien. Wie bereits in meinem ersten Buch stelle ich auch hier die Lehren und die grundlegende Logik von Vedanta vor. Ich muss daher der Verlockung widerstehen, zu behaupten, es sei ein vollständig anderes Buch geworden. Und doch ist es ein anderes Buch, geschrieben in einem anderen, wahrscheinlich leichter zugänglichen Stil. Es vertieft einige Lehren, die im ersten Buch eingeführt wurden, und ergänzt es um die Kapitel über Werte und die erleuchtete Person. Dharma und die Essenz der Erleuchtung werden im Detail erörtert und die Beziehung zwischen Bewusstsein, Individuum und dem großen Ganzen ausführlich erklärt.
Wie in seinem Vorgänger wird auch in diesem Buch das Thema Erleuchtung grundlegend entmystifiziert. Vedanta möchte dich nicht durch vage Mystik inspirieren, sondern dein Herz und deinen Verstand durch klare und nachvollziehbare Aussagen gewinnen. Ich bin überzeugt davon, dass der einfache Stil dieses Buchs dazu geeignet ist, die Wissenschaft der Selbst-Erforschung einer Vielzahl von Suchern und Findern zugänglich zu machen.
James Swartz