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a) Tötungen an der innerdeutschen Grenze

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Eine zentrale Frage des Rückwirkungsverbots ist die nach seiner Reichweite bzw. nach seiner Einschränkbarkeit. Hiermit haben sich das Bundesverfassungsgericht[280] und der EGMR[281] insbesondere in ihren Entscheidungen zu den Tötungen an der innerdeutschen Grenze (sogenannte Mauerschützenfälle) auseinandergesetzt. Hierbei ging es um die Frage, ob Personen, die Todesschüsse an der ehemaligen innerdeutschen Grenze zu verantworten haben, nach der Wiedervereinigung wegen Totschlags oder Mordes verurteilt werden konnten. Der Einigungsvertrag schreibt für diese Konstellation die Anwendung des Strafrechts der DDR vor (Art. 8 EV und Art. 315 EGStGB[282]). § 27 des Grenzgesetzes der DDR hatte eine Befugnis zum Gebrauch der Schusswaffe statuiert, „um die unmittelbar bevorstehende Ausführung … einer Straftat (d.h. des “ungesetzlichen Grenzübertritts“) zu verhindern“, „wenn kein anderes Mittel Erfolg verspricht“, wobei das Leben von Menschen „möglichst zu schonen“ ist. Hierbei kam es entscheidend darauf an, ob diese Vorschrift im Lichte des DDR-Selbstverständnisses oder nach bundesdeutschem bzw. menschlich westlich-menschenrechtlichen Verständnis auszulegen ist. Der EGMR hat sich der Sache nach für die zweite Möglichkeit entschieden und deshalb die Taten wegen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip als nicht gerechtfertigt angesehen.[283] Damit wurde aber die Orientierungsfunktion des Rückwirkungsverbots unterlaufen.[284]

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Das Bundesverfassungsgericht hat die Strafbarkeit der Verantwortlichen aufgrund des Totschlagtatbestandes des DDR-Strafgesetzbuchs durch den BGH[285] bestätigt und damit begründet, dass der Rechtfertigungsgrund des DDR-Rechts wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unbeachtlich sei. Befürworter einer Unanwendbarkeit des DDR-Rechtfertigungsgrundes wenden dabei die so genannte Radbruch'sche Formel[286] an,[287] die einen Kernbereich des Unverfügbaren enthält, allerdings nicht ermöglicht, eine schärfere Linie zu ziehen.[288] Entsprechend will das Bundesverfassungsgericht die Formel auf extreme Ausnahmefälle – „extremes Unrecht“ – beschränken[289] und die Formel mithilfe völkerrechtlicher Normen präzisieren und positivieren.[290] Die DDR war zwar an den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte gebunden, der in Art. 6 die willkürliche Tötung von Menschen verbietet und in Art. 12 Einschränkungen der Ausreisefreiheit zulässt, jedoch war der Pakt nicht in innerstaatliches Recht umgesetzt und deshalb zur Konkretisierung der Radbruch'schen Formel nicht geeignet.[291] Wohl aber kann in den Fällen eines völkerrechtlichen Verbrechens auf Art. 7 Abs. 2 EMRK zurückgegriffen werden, der eine rückwirkende Bestrafung zulässt, wenn die Tat zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar waren (Rn. 87).

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