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b) Möglichkeiten zur Schließung einer intertemporalen Ahndungslücke durch den Gesetzgeber

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Fraglich ist allerdings, ob der Gesetzgeber im Falle einer Ahndungslücke die Möglichkeit hat, eine solche Ahndungslücke durch ein gesondertes Gesetz nachträglich zu schließen.[311]

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Das BVerfG ermöglicht es dem Gesetzgeber, im Falle einer kurzzeitigen Ahndungslücke, die durch ein Versäumnis des Gesetzgebers entstanden ist, das mildeste Gesetz für den Täter ausnahmsweise nicht für anwendbar erklärt hat.[312] Eine Nichtberücksichtigung einer zwischenzeitlichen Gesetzesaufhebung wird allerdings unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes problematisch, wenn die Straflosigkeit über eine längere Zeitspanne besteht[313] und nicht nur wenige Wochen andauert.[314] Unter Berufung auf die Entscheidung BVerfGE 81, 132, 137 hat das BVerfG[315] in Bezug auf das Fahrpersonalgesetz die Auffassung vertreten, dass der Gesetzgeber eine zwischenzeitlich entstandene Ahndungslücke nachträglich schließen kann, ohne gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG zu verstoßen. Die zunächst bestehende Ahndungslücke sei durch eine spätere explizite gesetzliche Anordnung der Strafbarkeit geheilt worden. Dem stünde das Grundgesetz nicht entgegen, weil dem Meistbegünstigungsprinzip kein spezifisch verfassungsrechtlicher Schutz zukomme; es sei weder von Art. 103 Abs. 2 GG umfasst, noch liege eine von Art. 3 Abs. 1 GG untersagte Ungleichbehandlung vor. Ein schutzwürdiges Vertrauen des Täters sei nicht entstanden, das allgemeine Willkürverbot sei nicht verletzt. Im konkreten Fall hatte der Gesetzgeber mit § 8 Abs. 3 FPersG eine Regelung getroffen, nach der das Milderungsgebot des § 4 Abs. 3 OWiG nicht zur Anwendung kommen sollte. Der Gesetzgeber hatte also explizit seinen Fehler korrigiert, indem er nachträglich das Milderungsgebot kraft spezialgesetzlicher Regelung angeordnet hat.[316]

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Beide Entscheidungen des BVerfG sind noch vor Inkrafttreten der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ im Jahr 2009 ergangen und berücksichtigten deshalb ausschließlich das nationale Milderungsgebot. Nunmehr ist die Grundrechtecharta als Primärrecht bei der Durchführung des Unionsrechts durch die nationalen Gerichte anwendbar und gibt den Grundrechtsschutz vor, soweit es um die Durchführung des Unionsrechts geht.[317] Art. 49 Abs. 1 S. 3 EU-Grundrechtecharta garantiert das in Art. 15 Abs. 3 IPbpR als Menschenrecht garantierte Milderungsgebot[318] als Grundrecht. Dem Täter muss also die ihn nachträglich begünstigende Änderung der Rechtslage kraft Unionsverfassung zu Gute kommen.[319] Dadurch soll zum einen dem Gleichheitsgrundsatz und dem Schutz vor Willkür sowie dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung getragen werden.[320] Die Frage der Vorhersehbarkeit für den Bürger ist beim Milderungsgebot ohne Bedeutung.[321] Selbst kurze Ahndungslücken führen zur Straffreiheit von Alttaten.[322] Durch die Aufnahme dieses Gebots in die Grundrechtecharta ist das strafrechtliche Meistbegünstigungsprinzip rechtlich auf eine neue Grundlage gestellt und mit Verfassungsrang garantiert, so dass einer nachträglichen Korrektur einer Ahndungslücke nunmehr die Unionsverfassung entgegenstehen kann.[323]

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Art. 52 Abs. 1 GRCh gestattet auch für Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh gesetzlich vorgesehene Einschränkungen. Diese müssen allerdings den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie den Wesensgehalt des eingeschränkten Rechts achten. Einschränkungen dürfen nach Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Bei der Auslegung dieses Schrankenregimes sind das übrige Primärrecht, die EMRK, gemeinsame Verfassungsüberlieferungen sowie die Erläuterungen zur Auslegung der Charta gebührend zu berücksichtigen. Die Charta ist aber in Anlehnung an die EMRK darauf verpflichtet, einen wirksamen Grundrechtsschutz zu gewährleisten.[324] Dies bedeutet, dass Unionsgrundrechte nicht beliebig durch einfachgesetzliche Regelungen eingeschränkt werden dürfen.

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Eine Einschränkung in Fällen der Ahndungslücke bei der Umsetzung von Unionsrecht durch die Gesetzgebungsorgane könnte damit begründet werden, dass gleichheitswidrige Begünstigungen einzelner Bürger zu vermeiden sind, die nicht auf einer besseren Rechtserkenntnis beruhen. Außerdem sollen Taten nicht ohne überzeugenden Grund ungeahndet bleiben, an deren Unrechtscharakter keine Zweifel bestehen, während vor der Gesetzgebungspanne abgeurteilte und nach ihrer Beseitigung begangene identische Taten uneingeschränkt bestraft werden. Bei einer solchen Argumentation, so zutreffend Gaede[325], bliebe jedoch unberücksichtigt, dass der Gesetzgeber bei der Strafgesetzgebung von vornherein unter einer besonderen Sorgfaltspflicht steht und dem Bestimmtheitsgebot Rechnung tragen muss. Ihm darf nicht gestattet werden, seine eigene Fehlleistung auf Kosten der Einschränkung eines europäischen Grundrechts ohne jede begrenzende Rechtfertigungslast zu korrigieren. Der Bürger darf gerade darauf vertrauen, dass gesetzliche Änderungen der Rechtslage vom Gesetzgeber auch tatsächlich gewollt sind. Der nicht sorgfältig arbeitende Gesetzgeber muss sich an seiner Entscheidung festhalten lassen, wenn er keine Gründe benennen kann, die über die allgemeinen Gründe für die Schaffung des Tatbestandes hinausgehen. Deshalb verstoßen Korrekturen unfreiwilliger Ahndungslücken grundsätzlich gegen Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh.

7. Abschnitt: Geltungsbereich des Strafrechts§ 30 Zeitlicher Geltungsbereich › Ausgewählte Literatur

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