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b) Geltung des Rückwirkungsverbots für Maßregeln der Besserung und Sicherung?

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Im Strafrecht wird grundsätzlich zwischen Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung differenziert. Nur erstere sollen dem Rückwirkungsverbot unterliegen, während für Maßregeln das jeweils geltende Gesetz gelten soll (§ 2 Abs. 6 StGB). Diese Zweispurigkeit des Strafrechts wurde zunehmend in Frage gestellt[292], nachdem die Entwicklungen des Maßregelrechts in den letzten Jahrzehnten zur Entstehung eines einheitlichen, stark aufeinander bezogenen Sanktionssystems geführt haben, das die von der Rechtsprechung betonte scharfe Trennung von Strafen und Maßregeln[293] nicht mehr getragen hat[294] und eine unterschiedliche Behandlung von Strafen und Maßregeln nicht mehr rechtfertigen konnte.[295] Gleichwohl geht die herrschende Meinung nach wie vor davon aus, dass es sich bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht um Strafen handelt, die ihren Grund in der konkreten, schuldhaften Fehlentscheidung einer freien, selbstverantwortlichen Person haben, sondern um Maßnahmen, die – losgelöst von dem Erfordernis eines für den Täter zuvor unmittelbar einsichtigen Rechtssatzes – an der Gefährlichkeit anknüpfen.[296]

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Auch das BVerfG hat sich in seinen Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung in Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EGMR für die Anerkennung und Beibehaltung der Zweispurigkeit der Strafrechtsfolgen ausgesprochen und eine klare und trennscharfe Abgrenzung der Strafe von der Maßregel vorgenommen, mit der Folge, dass es die Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG auf Maßregeln abgelehnt hat.[297] Demgegenüber hat der EGMR im Jahre 2009 und in Folgeentscheidungen die Sicherungsverwahrung als Strafe im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EMRK qualifiziert[298], und zwar auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung, bei der der weitgehend ähnliche Vollzug der Freiheitsstrafe und der Sicherungsverwahrung eine zentrale Rolle spielte.[299]

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Im Jahre 2011 hat das BVerfG[300], als es sich erneut mit der Sicherungsverwahrung und ihrer Einordnung als Strafe befassen musste, sich weder für eine Korrektur seiner Entscheidung aus dem Jahre 2004 entschieden, noch gegen die Entscheidung des EGMR: Es hielt am zweispurigen System fest und verneinte erneut den Strafcharakter der Sicherungsverwahrung[301], monierte aber zugleich, dass sich die Sicherungsverwahrung im Hinblick auf ihren tatsächlichen Vollzug zu sehr einer Strafe angenähert habe. Es wird also nicht die Aufgabe der Zweispurigkeit, sondern deren konsequente Einhaltung bei der Vollstreckung der Sanktion gefordert. Die Sicherungsverwahrung wurde als besonders gravierende Sanktion bezeichnet, als „Sonderopfer“, das strengen Grenzen unterworfen werden müsse[302], weil die Sicherungsverwahrung nicht auf dem Beweis einer begangenen Straftat, sondern auf einer bloßen Prognose der Gefährlichkeit beruhe.[303] Hierbei sieht das BVerfG die Legitimation der Strafe zutreffend darin, dass eine Tat schuldhaft begangen wurde.[304] Strafe sei Reaktion auf schuldhaftes Verhalten, die dem Schuldausgleich dient; dies sei die zentrale Funktion der Strafe.[305] Ihre Berechtigung liege in der Schuld des Betroffenen.[306] Damit ist das BVerfG der These von der Verwischung der Zweispurigkeit durch Schaffung eines einheitlichen, stark aufeinander bezogenen Sanktionssystems entgegentreten und hat sich für eine klarere Einhaltung der Zweispurigkeit auch im praktischen Vollzug ausgesprochen.

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