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1. Reichweite des nationalen Strafrechts im Internet

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Ein ungeklärtes Problem bildet nach wie vor die Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts auf Straftaten im Internet. Für Straftaten, die mittels des Internets begangen werden, d.h. Rechner und Computernetzwerke als Tatmittel einsetzen, sind zunächst die allgemeinen Grundsätze heranzuziehen. Der Tätigkeitsort gemäß § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB liegt demzufolge am Ort der auf die Tatbestandsverwirklichung gerichteten Handlung (Rn. 71), d.h. dort, wo der Täter an seinem netzwerkfähigen Gerät sitzt und Befehle etc. über das Internet sendet. Der Erfolgsort im Sinne des § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB bleibt dort zu verorten, wo die von der jeweiligen Strafvorschrift erfassten Auswirkungen eintreten (Rn. 72), häufig somit an dem Ort, an dem sich der Zielrechner befindet, der im Rahmen der Tat angesprochen wird. Wer sich also beispielsweise von Kanada aus unbefugten Zugriff auf einen Zielrechner in Portugal verschafft, begeht eine entsprechende Straftat sowohl in Kanada als auch in Portugal. Wer von den Niederlanden aus Lebenserhaltungssysteme in einem Krankenhaus in Japan manipuliert und dadurch den Tod eines Patienten hervorruft, begeht die Tat sowohl in den Niederlanden als auch in Japan. Es versteht sich von selbst, dass die zur Illustration genannten Staaten beliebig gewählt und ohne Verlust einer inhaltlichen Aussage auch durch allgemeine Platzhalter A, B, C etc. ersetzt werden können.

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Denkbar erscheint, ebenso das Strafrecht derjenigen Staaten anzuwenden, über deren Territorium die via Internet verbreiteten Befehle, Daten etc. befördert werden. Einer solchen Lösung steht aber bereits das praktische Element entgegen, dass der Nachweis des konkreten Datenweges mit enormen Schwierigkeiten verbunden wäre, vor allem die dezentrale Struktur des Internets mit seinen Routern zur Folge hat, dass selbst Teile ein und derselben transferierten Datei über verschiedene Wege vom Ausgangs- zum Zielrechner gesendet werden können. Insbesondere lassen sich hier jedoch die Überlegungen zum Transitdelikt übertragen, wonach allein die Beförderung von Tatobjekten oder Tatmitteln grundsätzlich noch nicht die Ausübung der nationalen Strafgewalt legitimiert (Rn. 78). Demzufolge begründet allein die Versendung von Daten über das Territorium eines Staates noch nicht die Anwendbarkeit dessen Strafrechtsordnung.

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Während somit auf Straftaten mittels des Internets die allgemeinen Grundsätze zum Strafanwendungsrecht ohne weiteres übertragen werden können, bereiten Straftaten im Internet, d.h. rechtswidrige Veröffentlichungen in dessen mannigfaltigen Kommunikationsdiensten, nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Aufgrund der dezentralen Struktur und zugleich fehlenden Abhängigkeit des Internets von staatlichen Grenzen können Inhalte, die jemand von seinem Rechner in einem bestimmten Staat aus im Internet (z.B. auf Webseiten, in Meinungsforen oder auf Plattformen sog. sozialer Netzwerke) ohne Zugangsbeschränkung veröffentlicht, grundsätzlich weltweit abgerufen werden. Äußerungen im Internet ist folglich gemein, die Hoheitsgewalt und das Territorium zahlreicher, in der Regel sogar sämtlicher Staaten der Welt zu betreffen; insoweit kann von einem sog. multiterritorialen Delikt (Rn. 77) gesprochen werden. Bereits den Abruf oder sogar die bloße Abrufbarkeit solcher Daten in einem Staat ausreichen zu lassen, damit dessen Strafrecht Anwendung findet, führte jedoch dazu, dass sich jegliche frei im Internet veröffentlichte Äußerung an den Strafrechtsordnungen sämtlicher Staaten der Welt messen lassen müsste. Es würden letztlich somit die jeweils restriktivsten nationalen Strafgesetze über die Strafbarkeit von Inhalten im Internet entscheiden.[211]

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Es gibt verschiedene Ansätze, mit den geschilderten Besonderheiten des Internets zu verfahren.[212] So wurden insbesondere in den Anfängen der Diskussion Vorschläge unterbreitet, die an die technischen Eigenschaften des Internets anknüpfen wollten, um die Reichweite der nationalen Strafgewalt bei Äußerungen im Internet zu bestimmen. Beispielsweise plädierte Sieber für die Anerkennung eines sog. Tathandlungserfolgs als Erfolg im Sinne des § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB.[213] Darunter sei „jede vom Täter verursachte, ihm zurechenbare und im einschlägigen Tatbestand genannte Folge seiner Handlung“ zu verstehen.[214] Bei der Tathandlung des Zugänglichmachens, die viele Äußerungsdelikte enthalten, würde daher an jedem Ort ein Erfolgsort begründet werden, an dem der Täter die Möglichkeit zur Kenntnisnahme eröffne. Dies setze bei der Verbreitung von Inhalten im Internet voraus, dass der Täter Daten aktiv (mittels sog. Push-Technologie) auf einen Rechner weiterleite, während bei Veranlassung eines Datentransfers durch einen Dritten (mittels sog. Pull-Technologie) ein Tathandlungserfolg abzulehnen bleibe.[215] Im Ergebnis zumindest ähnlich, wenngleich bei § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB verortet, schlug vornehmlich Cornils vor, bei Äußerungsdelikten im Internet einen Handlungsort nicht nur am Aufenthaltsort des Täters, sondern auch an dem Standort desjenigen Rechners anzunehmen, auf welchem der Täter gezielt und kontrolliert eine Datei speichert.[216] Diese differenzierten Vorschläge vermögen indes nicht zu überzeugen, weil sie zu sehr an die technischen Besonderheiten des Internets und somit zu sehr an den Zufall (z.B. der Belegenheit des vom Täter adressierten Servers) anknüpfen.[217] Sofern eine Ausweitung des Handlungsortes erwogen wird,[218] bleibt außerdem einzuwenden, dass die geschilderten Ansätze den Handlungsbegriff zu überspannen drohen und vor allem nicht mehr hinreichend zwischen der Handlung und ihren Folgen differenzieren.[219] Demzufolge befindet sich der Handlungsort (auch und gerade bei Straftaten im Internet) allein an dem Ort der körperlichen Präsenz des Täters.[220]

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Mittlerweile wird erfreulicherweise wieder versucht, bei allen tatsächlichen Besonderheiten des Internets eine Lösung aus den rechtlichen Grundsätzen des Strafanwendungsrechts zu erarbeiten. Hierbei bleibt vorab zu bemerken, dass die meisten Äußerungsdelikte wie z.B. die Verbreitung pornographischer Schriften gemäß §§ 184 ff. StGB oder die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gemäß § 86a StGB abstrakte Gefährdungsdelikte darstellen, eine Verletzung oder auch nur konkrete Gefährdung des jeweils geschützten Rechtsguts als tatbestandlichen Erfolg deshalb gerade nicht voraussetzen. Die Diskussion konzentriert sich demzufolge darauf, ob abstrakte Gefährdungsdelikte einen „zum Tatbestand gehörende(n) Erfolg“ im Sinne des § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB aufweisen. Die herrschende Meinung verneint dies aus den geschilderten Gründen (Rn. 74), so dass bei abstrakten Gefährdungsdelikten in der Regel nur an den Handlungsort im Sinne des § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB angeknüpft werden kann. Sämtliche Inhalte, die vom Ausland aus über das Internet verbreitet werden, unterfielen demzufolge nicht dem deutschen Strafrecht.[221] Konsequenterweise hat der Dritte Strafsenat des BGH einen Angeklagten vom Vorwurf des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gemäß § 86a StGB freigesprochen, der von Tschechien aus Bilddateien mit Hakenkreuzen auf ein Internet-Videoportal geladen hat.[222]

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Nach der vorzugswürdigen Gegenansicht (Rn. 75) wäre eine Anwendung des § 86a StGB in dem vorstehenden Fall nicht schon deswegen kategorisch ausgeschlossen, weil es sich bei der Vorschrift um ein abstraktes Gefährdungsdelikt handelt. Vielmehr käme jedenfalls dann die Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts in Betracht, wenn das geschützte Rechtsgut tatsächlich beeinträchtigt bzw. zumindest konkret gefährdet wird und daher der betroffene Staat auch die Ausübung seiner Strafgewalt beanspruchen darf. Gleiches gilt für abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte wie die Volksverhetzung gemäß § 130 StGB, die eine als gefährlich eingestufte Tätigkeit unter der zusätzlichen Voraussetzung unter Strafe stellen, dass sie geeignet ist, das geschützte Rechtsgut zu verletzen. Insoweit hob der Erste Strafsenat des BGH in seiner Toeben-Entscheidung zunächst zu Recht hervor, dass sich die Auslegung des „zum Tatbestand gehörenden Erfolgs“ im Sinne des § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB nicht an den Kategorien der allgemeinen Tatbestandslehre und deren Differenzierung zwischen Erfolgs- und Tätigkeitsdelikten orientiere. Maßgeblich sei vielmehr der Gesetzeszweck des § 9 StGB, der Beeinträchtigungen und Gefährdungen von Rechtsgütern unterbinden wolle, welche der jeweilige Straftatbestand gerade schütze.[223] Der Erste Strafsenat verstand diesen nicht unzutreffenden Ausgangspunkt sodann aber allzu weit und schien letzten Endes allein infolge der freien Abrufbarkeit einer englischsprachigen Holocaustleugnung, die ein australischer Staatsbürger auf einer auf einem australischen Server gespeicherten Webseite äußerte, im Inland eine konkrete Eignung der Äußerung zur Friedensstörung hierzulande und somit auch die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts zu bejahen.[224] Auch der notwendige völkerrechtlich legitimierende Anknüpfungspunkt ergebe sich aus dem Gewicht des im konkreten Fall von § 130 StGB geschützten inländischen Rechtsguts und dessen objektivem besonderen Bezug zum inländischen Staatsgebiet.[225] Dies bedeutete aber letztlich, allein aus dem Schutzgut eines nationalen Straftatbestandes und dem ihm von dem nationalen Gesetzgeber verliehenen Gewicht den notwendigen völkerrechtlich legitimierenden Anknüpfungspunkt ableiten zu können, so dass dieser Voraussetzung nahezu jede eingrenzende Funktion gegenüber der nationalen Strafgewalt genommen würde.[226] Wie sich die (eine eher extensive nationale Strafgewalt befürwortende) Toeben-Entscheidung des Ersten Strafsenats und die jüngere (eher restriktive) Entscheidung des Dritten Strafsenats zur Verbreitung von Hakenkreuzen von Tschechien aus miteinander vereinbaren lassen sollen, ist nicht ersichtlich. In einer weiteren Entscheidung (zu einer Holocaust-Leugnung während einer Versammlung in der Schweiz vor unter anderem deutschen Zuhörern) hat sich hingegen der Dritte Strafsenat von der Toeben-Entscheidung deutlich distanziert und verneint, dass das Merkmal der Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens zum Tatbestand des § 130 Abs. 3 StGB gehöre.[227]

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Unabhängig von der Diskussion um einen etwaigen Erfolgsort abstrakter Gefährdungsdelikte ergeben sich jedenfalls bei Erfolgsdelikten im Internet in der Regel Jurisdiktionskonflikte. So ist an sich auf jegliche Beleidigung in einem Forum oder in einem Kommentar eines sozialen Netzwerks das deutsche Strafrecht anwendbar, weist § 185 StGB doch wegen seines Kundgabecharakters überall dort einen Erfolgsort auf, wo die ehrverletzende Äußerung wahrgenommen werden kann.[228] Gleiches gilt für Verletzungen des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen, z.B. für die unbefugte Veröffentlichung von Nacktbildern im Internet, soweit die einzelnen Tatmodalitäten des § 201a Abs. 1 StGB als Erfolgsdelikte angesehen werden (näher → BT Bd. 4: Brian Valerius, Verletzung des Rechts am eigenen Wort und Bild, § 13 Rn. 24 f.). Zumindest in diesen Konstellationen bleibt somit der Frage nachzugehen, ob wirklich jeder Staat nur deswegen seine Strafgewalt beanspruchen kann, weil die nach seiner Rechtsordnung strafbaren Inhalte auch von seinem Territorium aus abgerufen werden können, selbst wenn sie etwa nach der Rechtsordnung des Heimatstaates des Täters legal sein sollten.[229] Am verbreitetsten dürfte insoweit ein Ansatz sein, der bei sozialschädlichen Verhaltensweisen im Internet einen besonderen territorialen Bezug zum Inland fordert, damit deutsches Strafrecht anwendbar ist, und ansonsten § 9 Abs. 1 StGB teleologisch reduzieren will.[230] Denkbar wäre des Weiteren, eine Rangfolge der einzelnen Begehungsorte zu erstellen – schließlich weisen die genannten multiterritorialen Delikte in der Regel nur einen Handlungs-, aber eine Unzahl von Erfolgsorten auf (Rn. 77) – und den Handlungsort als primären Anknüpfungspunkt für die nationale Strafgewalt heranzuziehen. Der Erfolgsstaat könnte hingegen sein Strafrecht nur dann anwenden, wenn die Tat auch am Handlungsort mit Strafe bedroht ist bzw. der Handlungsort keiner Strafgewalt unterliegt.[231] Unabhängig von solchen dogmatischen Lösungsversuchen blieben freilich internationale Vereinbarungen zu begrüßen, in denen die einzelnen Staaten selbst ihre Zuständigkeiten für Straftaten im Internet regeln und gegenseitig begrenzen.[232]

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