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Der Redner

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Doch wie konnte Palmer so viele seiner Mitbürger überzeugen, ihn immer wieder bei Bürgermeisterwahlen zu unterstützen? Wie erklären sich teilweise über 30.000 Erststimmen bei einer Bundestagswahl? Der Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel sah in ihm in einem Beitrag in der Stuttgarter Zeitung vom 5. April 2003 einen „wortgewaltigen Rhetoriker, der die Diplomatie aber nicht eben erfunden habe“. Und der langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer zählte ihn noch anlässlich der Präsentation eines Geldgutscheins der Münzenfreunde Rems zu Ehren Palmers im Jahr 2009 zu den „drei bis vier begabtesten [Rednern]“, die er je kennengelernt habe. Palmer redete einfach, klar und verständlich. Auch und gerade wegen seiner schwäbischen Mundart konnte er den Eindruck eines ehrlichen, aus dem Volk und für das Volk sprechenden Tribuns erwecken, der rebellisch gegen die Obrigkeit wetterte. Seine Angriffe gegen politische Gegner – oft waren es kreative Beleidigungen – formulierte er meist im Dialekt und verstärkte damit deren Wirkung. Palmer stieß die Autoritätspersonen rhetorisch von ihrem gesellschaftlichen Sockel und führte sie herunter auf die Ebene der einfachen Bürger. Seine Sprachschöpfungskraft war gewaltig und sicher eine der machtvollsten Eigenschaften des Redners Helmut Palmer, die ihn im württembergischen Raum bis heute legendär machen. Im Wahlkampf sagte er über einen politischen Gegner einmal: „Der sieht aus wie a schwangere Wanz.“ Von der Stadt- oder Kreisverwaltung falsch gepflanzte Bäume auf Plätzen und an Straßen bezeichnete er als „Architektenpetersilie“.


Posthume Ehre im Heimattal: Zum Gedenken an Helmut Palmer brachten die Münzfreunde Rems 2009 einen Geldgutschein heraus. Mit den „Remstalern“ möchten sie verstorbene regionale Größen in Erinnerung rufen.

In hitzigen Wortgefechten lief Palmer zur Hochform auf. Dann schuf er Beleidigungen wie: „An dir gehören krumme Eisenbahnschienen gerade geschlagen“ oder deftige Vergleiche wie den, dass sich ein Kandidat zur Politik eigne „wie ein Igel zum Arschputzen“. Wie die Kandidaten für ein politisches Amt öffentlich mit solchen Palmer’schen Großangriffen umgingen, konnte über ihren Sieg oder ihre Niederlage im Wahlkampf entscheiden. Rommel gab später zu, dass er ihn anfangs, als beide anlässlich der Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl 1974 aufeinandertrafen, falsch einschätzte und sich erst über Palmer lustig machte. Dies sei Rommel aber schlecht bekommen, wie er selbstkritisch später anmerkte, da Palmer ihm in puncto Spontaneität, Schlagfertigkeit und holzschnittartiger Argumentation überlegen gewesen sei.

Zu Beginn seiner Reden bei den offiziellen Kandidatenvorstellungen zu Bürgermeister- und Oberbürgermeisterwahlen verfolgte Helmut Palmer mit der Zeit ein bewährtes Muster, welches sich bei den vielen Bewerbungen als erfolgreich gezeigt hatte. So begrüßte er das Publikum gleich zu Beginn seiner meist circa 5–10-minütigen Vorstellungsrede wie zur Bürgermeisterwahl 1983 in Schwendi, Landkreis Biberach:

„Herr Vorsitzender, meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte Gegner (Gelächter), liebe bedauernswerte Manipulierte, Belogene und Betrogene (großes Gelächter, anhaltender Applaus). Sie lachen immer an der falschen Stelle, meine Damen und Herren, sagte Tucholsky, und damit möchte ich gleich weitermachen: ‚Sag mal, liebes Publikum, bist du wirklich so dumm? Man führt dich kreuz und quer an der Nase herum. Du bist und bleibst ein Grießbreifresser und dir gehört es auch nicht besser. Es ist der Fluch der Zeit, die verdammte Mittelmäßigkeit‘. Die haben wir hier!“

Ein solcher Einstieg in seine Rede sicherte ihm nicht nur die Aufmerksamkeit des Publikums. Mit diesem wuchtigen Start machte er gleichzeitig die Beziehung zwischen ihm als Redner und dem Publikum klar: Als Kandidat mit Zielen, die sich maßgeblich von denen der anderen Mitbewerber unterschieden, konnte er so in vielen Wahlkämpfen mit einem Angriff gegen das eigene Publikum verdeutlichen, dass er der Wählerschaft einen Spiegel vorsetzen wollte, einem Till Eulenspiegel nicht unähnlich. Aber auch, um die anderen Kandidaten öffentlich anzugreifen und um Missstände in der Gemeinde im Allgemeinen und vermeintlich undemokratisches Verhalten im Wahlkampf im Besonderen anzuprangern. Das Wohlwollen des Publikums erreichte er in seiner Begrüßung oft auch dadurch, dass er explizit die Bürger aus allen Teilorten der Gemeinde oder Stadt begrüßte. Denn nach der großen Gemeindereform in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre wetterte Palmer besonders gegen diese in seinen Augen völlig verfehlte Umstrukturierung, die die Überheblichkeit und Weltabgewandtheit der staatlichen Verwaltung am deutlichsten zeige: „Die ganze Gemeindereform halte ich für beschissen wie eine Hühnerleiter, von unten bis oben.“ Dies kam bei den Bürgern aus den per Verwaltungsakt eingemeindeten Ortsteilen auch Jahrzehnte nach der Umstrukturierung noch sehr gut an, brandender Applaus und Bravo-Rufe waren ihm gleich zu Beginn sicher.

„Lassen Sie doch den saudummen Beifall, ich bin unter Zeitdruck!“

Palmer zum Publikum während einer Rede

1976 in Ludwigsburg

Politische Reden hielt er jedoch nicht nur bei Kandidatenvorstellungen, sondern auch auf dem Marktplatz und in selbst organisierten Versammlungen in Gaststätten oder Gemeindehallen. Dort verlangte er zumeist Eintritt oder eine Spende, um die hohen privaten Ausgaben für die Saalmieten und seine Wahlkampfkosten abzumildern. Gezahlt wurden diese Beiträge von den meisten, und so konnte Palmer sehr oft in vollen Räumen reden. Er verstand es sehr gut, neben seinen Argumenten und Belehrungen auch zu unterhalten und die Zuhörer zu fesseln. Ältere Mitbürger im Remstal berichten noch heute davon, dass sie in ihrem ganzen Leben nur von Helmut Palmer dazu gebracht wurden, einer Rede durchgehend konzentriert zuzuhören und kein einziges Mal gedanklich abzuschweifen.

Helmut Palmer führte ein Leben, das grundsätzlich hohe Wertschätzung in seinem sozialen Raum erwarten ließ: Er arbeitete sehr viel und äußerst hart in einem ehrbaren Beruf und verdiente gutes Geld damit. Als Obsthändler war er weithin geachtet für die Qualität seiner Ware und weil er bereit war, zugunsten des Kunden zu wiegen sowie freigiebig sein Obst gemeinnützigen Zwecken zu spenden. Mit seiner Obstzentrale half er Dutzenden von Nebenerwerbsbauern trotz sich verändernden Konsumverhaltens der Verbraucher mit fairen Abnahmepreisen zu ihrem Einkommen. Seine Frau Erika stand stets an seiner Seite und trug die schwere Arbeit auf dem Markt mit. Erika und Helmut Palmer hatten zwei Söhne: Boris Erasmus wurde 1972 geboren, Patrick Jermolai 1974. Drei weitere Kinder hatte Helmut Palmer mit zwei anderen Frauen in der Zeit vor der Ehe mit Erika: einen Sohn und zwei Töchter.

„Einer meiner Söhne heißt Boris Erasmus, nur um auf Kultur hinzuweisen.“

Palmer in der Kandidatenvorstellung zur

Vaihinger Oberbürgermeisterwahl 1981

Doch waren Helmut Palmers aufbrausendes Temperament und seine brutale Direktheit, die vor schlimmen Beschimpfungen selten haltmachte, dafür verantwortlich, dass seine vielen Tugenden, seine Großzügigkeit und der unermüdliche Einsatz für seine Mitmenschen davon stark überschattet wurden. Die Beleidigungen konnten zwar in begrenzter Weise, zumindest wenn sie in Wahlkämpfen und anderen politischen Auseinandersetzungen fielen, eine Funktion erfüllen: nämlich viele Bürger aufzurütteln, allzu satte Beamte und Honoratioren aufzuscheuchen und fragwürdig handelnde Mandatsträger anzugreifen. So meinte Palmer selbst im Rückblick: „Ein höflich Recht will gar nichts heißen. Bei diesen Dickhäutern muss man kräftig klopfen, bis die aufwachen.“ Dennoch sind seine Entgleisungen in den meisten Fällen, in denen es nicht gegen politische Gegner und mächtige Amtsträger, sondern weitaus häufiger gegen einfache Vollzugsbeamte oder Privatpersonen ging, nicht mit dem Ideal eines tugendhaften Ehrenmannes vereinbar. Fast durchgehend fühlte sich Helmut Palmer in der Defensive und in die Enge getrieben, von bösen Mächten gejagt und verfolgt, so in einem Brief 1998 an Ministerpräsident Erwin Teufel und viele andere Amts- und Würdenträger:

„Ich sage Ihnen klipp und klar: ich stehe mit dem Rücken zur Wand und ich schlage mit allen erdenklichen und möglichen Mitteln zu, weil ich nichts mehr zu verlieren habe. Die einzige Chance, die mir noch bleibt, ist, daß die Verbrechen – die Sie alle miteinander seit Jahrzehnten tolerieren, negieren, zulassen oder relativieren – in die Öffentlichkeit kommen.“

Dass Palmer seine politischen Gegner im Wahlkampf häufig wie Feinde behandelte, gründete in seiner Wahrnehmung einer ihm böswillig gesinnten Elite und äußerte sich in aggressiven Reden gegen seine Mitbewerber oder in der Vermischung von öffentlichem Amt und Privatleben seiner Widersacher.

Da sich Helmut Palmer auf dem Wege einer höheren Mission sah, nahm er oft keinerlei Rücksicht, wenn dabei die Gefühle seiner Mitmenschen verletzt wurden. Um die Gefährlichkeit von nicht versenkten Leitplanken im Straßenverkehr drastisch zu verdeutlichen, entwendete er beispielsweise vom Straßenrand bei Welzheim ein Trauerkreuz, welches die Familie eines jungen Verkehrstoten errichten ließ. Der 19-jährige Martin starb vermutlich aufgrund einer nicht versenkten Leitplanke. Palmer verwendete das Kreuz bei einer Veranstaltung zur Landtagswahl in Schorndorf 1972 als Mahnung an die Behörden, für mehr Verkehrssicherheit zu sorgen. Nach dem Protest der Eltern des Verunglückten und eines Pfarrers entschuldigte sich Palmer und stellte das Kreuz zurück an seinen ursprünglichen Platz. Jedoch entwendete Palmer das Gedenkkreuz erneut im Schwäbisch Haller Oberbürgermeisterwahlkampf zwei Jahre später, um damit wieder publikumswirksam zu mahnen. Die erneuten Proteste des Vaters des Verunglückten, der diesmal kein Verständnis mehr aufbrachte „für eine Geisteshaltung, die keinerlei Rücksichtnahme auf menschliche Gefühle anderer kennt“, wurden von Helmut Palmer abgekanzelt. Er bezeichnete die Proteste der Eltern als „Blödsinn“ und als „uraltdeutsche, idiotische Totenverehrung“, in einem am 20. März 1974 in der Neuen Kreisrundschau wiedergegebenen Telefoninterview: „Wenn Martin heute noch leben würde, so würde er ihm recht geben“, meinte Palmer zu wissen.

Glaubwürdigkeit verlieh Palmer jedoch die eigene Lebensführung. Die Lebensart, die er von den Bürgern einforderte, lebte er selbst. Ob es sich nun um Verzicht für den Umweltschutz handelte oder um die Bevorzugung lokaler Nahrungsmittel für seinen Obsthandel, auch wenn Produkte aus ferneren Gegenden günstiger und die Gewinnspannen für ihn höher gewesen wären. Vor allem aber sein Engagement als aktiver Bürger, als streitbarer Demokrat, der sich für das Gemeinwohl einsetzte und Position bezog, auch gegen massive Widerstände und vielfach zum eigenen Schaden, machten seine Aussagen wahrhaftig. Rede und Handlung waren bei Helmut Palmer in vielen Bereichen tatsächlich eins.

Grundsätzlich zwar wahrhaftig, glaubwürdig und ein Vorbild in seiner Lebensweise, disqualifizierten ihn seine eigenen Aussagen und Handlungen jedoch dort, wo er Menschen persönlich beleidigte und in ihren Gefühlen verletzte. Da dies sehr häufig und oftmals völlig ungerechtfertigt geschah, kann man davon ausgehen, dass es ihm auch deswegen nie gelang, in ein öffentliches Amt gewählt zu werden oder ein Mandat zu erringen.

Helmut Palmer

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