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Geradstetten unter dem Hakenkreuz

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Ein besonders ausgeprägter Realitätsverlust der lokalen NS-Führer in Geradstetten führte dazu, dass wir heute für das Dorf während der NS-Zeit eine sehr gute Quellenlage haben. Denn noch in der Nacht, als die US-Armee im April 1945 Geradstetten kampflos einnahm, wurden fast alle Parteiakten und -bücher aus dem Geradstettener Rathaus in Metallkisten verstaut und am Ortsrand vergraben. Die NS-Eliten des Dorfes glaubten selbst zu diesem Zeitpunkt noch fest an den Endsieg. Sie wollten die Akten für die Zeit einer kurzfristigen Besetzung durch die Alliierten sichern, ehe Hitlers Wunderwaffen die Wende bringen sollten. Durch diese Aktion ist Geradstetten unter der nationalsozialistischen Herrschaft so gut durch Quellen dokumentiert wie kaum eine andere Ortschaft in Baden-Württemberg. Der Inhalt der Metallkisten lagert heute im Staatsarchiv Ludwigsburg.

Eine Handvoll besonders fanatischer und eifernder Geradstettener Bürger, die bereits lange vor 1933 Parteimitglieder waren, wollten nach der Gleichschaltung das Dorf zu einer NS-Mustergemeinde gestalten. An den Ortseingängen wurden Schilder mit der Aufschrift „Hier sind Juden unerwünscht“ aufgestellt. Aus einem gegen diese Maßnahme gerichteten Protestbrief „christliche [r] Geschäftsleute aus Stuttgart“ an das Bürgermeisteramt vom 10. Juli 1935 geht hervor, dass Geradstetten zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich das einzige Dorf zwischen Stuttgart und Schorndorf war, welches Reisende mit einem solchen Schild empfing. In der Geradstettener Schule wurden die Inhalte des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“ abgefragt. Wie häufig auch andernorts war die Zeitung öffentlich in einem Schaukasten am Rathaus angebracht. Die Kirche im Ort wurde zielstrebig bekämpft und treue Kirchgänger unter Druck gesetzt, der Männergesangverein und die Feuerwehr wurden infiltriert. So erklärt sich die ziemlich hohe Zahl von ungefähr 290 Parteimitgliedern bis Februar 1945 in Geradstetten.

„Sie hätten sich beim Adolf auch in keine Widerstandsgruppe eingereiht.“

Palmer in einem Brief an einen

Bürgermeister 1994

Die NSDAP-Zelle, später-Ortsgruppe im Nachbardorf Grunbach war eine Gründung der Geradstettener Ortsgruppe. In Grunbach war der Bewegung jedoch weniger Erfolg beschieden, da die dortige Elite aus alteingesessenen Bürgern und dem Pfarrer stark pietistisch geprägt war und sich deshalb gegenüber Neuem und besonders gegenüber dem Nationalsozialismus sehr zurückhaltend zeigte. Vor allem mangelte es hier zu Beginn vermutlich an solch eifernden und intensiv werbenden Persönlichkeiten, die Geradstetten in geringer Zahl und wohl zufällig aufwies. So zeigten die Wahlergebnisse zum Reichstag vom 5. März 1933 in den beiden etwa gleich großen Dörfern, dass die Geradstettener mehr als doppelt so häufig die NSDAP gewählt hatten wie die Grunbacher. Mehr Grunbacher als Geradstettener gaben ihre Stimmen an den Württembergischen Bauern- und Weingärtnerbund oder an die Kampffront Schwarz-Weiß-Rot (ein Koalitionsbündnis aus Deutschnationaler Volkspartei, Stahlhelm und Landbund). Beide Dörfer nahmen unter den 15 Gemeinden im Oberamtsbezirk Schorndorf entgegengesetzte Extrempositionen ein: In Geradstetten erhielt die NSDAP 69,10 % der gültigen Stimmen und damit das zweitbeste Ergebnis im Bezirk, in Grunbach waren es 32,61 %, das zweitschlechteste. Der Durchschnitt im Oberamtsbezirk Schorndorf lag bei 47,43 %.

Wenn Helmut Palmer zeit seines Lebens die starke Durchdringung seines Heimatdorfes durch den Nationalsozialismus anprangerte, so fußte das auf dieser Grundlage. Der kleine Helmut hatte das Pech, als Sohn eines jüdischen Vaters in einem Dorf mit besonders aktiven NS-Eliten aufwachsen zu müssen.

Helmut Palmer

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