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2. Der Rebell Der Politiker

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Helmut Palmer erkannte die Macht des passiven Wahlrechts und nutzte sie ausgiebig mit Lust an der Polemik. Dieses Engagement Palmers, eines Bürgers, der die Politik nicht als Beruf, sondern als Teil seines Bürgerdaseins begriff, der sich in die Politik aktiv einmischte und seine Positionen öffentlich darlegte, Missstände behob und Verbesserungen für die Gemeinschaft erreichen wollte, kann erstaunlich gut mit der Rolle des Bürgers verglichen werden, wie sie in der Antike als Ideal galt: der Bürger als politisches Wesen.

Als Teilhaber an der Herrschaft in der Bürgergemeinde übte Palmer sein aktives und passives Wahlrecht aus, um seine Positionen für die res publica, die öffentliche Sache, einzubringen, und damit nicht nur sein Recht, sondern seine Pflicht als freier Bürger wahrzunehmen. Auch dass er als Kaufmann auf dem Marktplatz auftrat, dem klassischen Ort der Bürgerversammlungen in der Antike, und dort seine Meinung den Mitbürgern kundtat und mit ihnen stritt, drängt diesen Vergleich auf. Dass er dies überaus erfolgreich in der modernen Mediendemokratie tat, machte seine politische Aktivität umso einzigartiger. Palmer beschrieb 1993 prägnant in einem Brief an die Redaktion der Stuttgarter Zeitung, was das Hauptmotiv für seine Kandidaturen bei Bürgermeisterwahlen war:

„Meine Kandidaturen sind dadurch entstanden, als ich gespürt habe, daß man gewissermaßen unten vom Saal aus wenig ausrichten kann, jedoch oben auf dem Podium besitzt ein Kandidat, wenn er dazu fähig ist, eine Hebelwirkung, mit der er seine politischen Vorstellungen verstärken und verbreiten kann. Dies ist ein Forum, das gerade in diesem Land parteilosen Bürgern sonst nirgends angeboten wird. (…) Meine Hauptziele waren in der Regel nicht das Amt zu erreichen, sondern einen möglichst hohen Stimmenanteil als Bestätigung durch das Wahlvolk für meine politischen Vorstellungen“

Im Zeitalter der Supermärkte, der Zersiedlung und Individualisierung hat der Marktplatz als zentraler Ort eines Gemeinwesens nur noch begrenzte Strahlkraft. Daher wählte Helmut Palmer die baden-württembergischen Bürgermeisterwahlkämpfe und dabei besonders die offizielle Kandidatenvorstellungen als sein Forum. Hier, wo sich die Bürgerschaft in Versammlungen konzentriert wie sonst nur noch selten in unserer repräsentativen Demokratie, konnte er seine ganze Macht als Redner entfalten. Und die lokalen Medien transportierten seine Aussagen in viele Haushalte.

Neben der Rede auf dem Marktplatz und in Versammlungen nutzte Palmer auch die Inserate für seinen Obsthandel in den Zeitungen Zentralwürttembergs, um der Bevölkerung seine politische Meinung mitzuteilen. Dabei vermischte er auf einzigartige Weise seine Obst- und Gemüseangebote mit Ankündigungen für seine politischen Versammlungen, seinen Ansichten zur gesellschaftlichen Lage, mit Wahlaufrufen, Appellen und auch Drohungen gegen Politiker und Beamte. Während Palmers Schaffenszeit gab es nicht wenige Bürger im Land, die die Zeitung vornehmlich der Todesanzeigen und Palmers Inseraten wegen lasen. Stuttgarts langjähriger Oberbürgermeister Manfred Rommel schrieb am 2. März 1999 in der Stuttgarter Zeitung: „Seine Annoncen, in denen er nahtlos die Anpreisung seiner Ware mit politischen Aussagen vermengt, sind ein Stück Volksliteratur.“

„Beamter sucht Nebenbeschäftigung – ganztags.“

Palmer über Staatsdiener in einer

Veranstaltung zur Bundestagswahl 1983

Auf den Vorwurf, er habe nicht ernsthaft kandidiert, erwiderte Palmer stets, dass es ernsthafter sei, zu kandidieren, um sich für die Bürger einzusetzen, als nach einem Amt zu schielen. Mit dieser Haltung entsprach er auf seine Weise dem Aufruf, den die Bundespräsidenten, die großen Parteien und andere demokratische Institutionen der Bundesrepublik bis heute immer wiederholen: Die Demokratie werde nur durch den aktiven Einsatz der Bürger getragen und bewahrt. Aus diesem Bürgerideal heraus ist Helmut Palmer durchaus als Politiker zu verstehen, auch wenn er nie ein Amt oder Mandat innehatte. Er war ein homo politicus, ein politisch interessierter Mensch und überzeugter Demokrat, der sich höchst aktiv in die politische Meinungsbildung einmischte. Denn zu Anfang seiner politischen Karriere unterstützte Palmer nach eigener Aussage mit seiner Redekraft nur die ihm genehmen Kandidaten der Parteien, hauptsächlich die der SPD. Aber dann, so Palmer in einem SW3-Fernsehinterview 2004,

„… ist mir ein Licht aufgegangen. Einmal kommst Du dran, und wenn Du was Unbequemes sagst, dann wird das Wort abgeschaltet, das Mikrofon weggemacht, der Saft weggemacht, und wenn man die Leute lobt, dann ist man der reife Bürger. Und das ist mir zu dumm geworden. Dann habe ich mich erkundigt: die da oben sitzen, von denen kann ja auch nur einer gewählt werden, und die anderen entsprechend auch. Und so sind die Kandidaturen entstanden. Da habe ich gesagt: Schluß damit, jetzt gehe ich rauf auf die Bühne“

So erwuchs dem politischen Establishment in Baden-Württemberg ein wortgewaltiger Protestpolitiker ohne Amt oder Mandat, der seine politischen Positionen leidenschaftlich vertrat und in Wahlkämpfen öffentlich für sie warb. Er kandidierte aus der besonderen Position heraus, den Sieg nicht um jeden Preis erringen zu wollen, sondern seine Meinung kundzutun, aber auch die anderen Kandidaten zu testen, und häufig auch, um überhaupt erst eine Wahl zu ermöglichen. Seinen Mitbewerbern war Helmut Palmer meist ein Prüfstein für ihre eigene Selbstsicherheit und Argumentationsstärke, wenn sie von ihm in Podiumsdiskussionen, Kandidatenvorstellungen oder per Inserat angegriffen und herausgefordert wurden. So mussten sich die anderen Kandidaten vor den Bürgern offenbaren und zeigen, wie sie auf einen so ungewöhnlichen Gegner reagierten. Wer gegen Palmers rhetorische Attacken souverän bestand, konnte verstärkt auf die Gunst der Wähler hoffen. Manches Mal sprach er bewusst Wahlempfehlungen für einen seiner Gegner aus, oder er setzte sich direkt für einen seiner Gegenkandidaten ein, indem er umso heftiger die anderen Bewerber aufs Korn nahm. In manchen Wahlkreisen oder Städten und Gemeinden kandidierte er nur, um ihm persönlich unliebsame Politiker zu bekämpfen. Palmer bezeichnete sein Verhalten als „Palmer-Hürde“, die verhindern sollte, „daß die größten Flaschen drankommen“.

Palmers besonderes Wirken als Protestpolitiker lag nicht nur an seinen Angriffen gegen das bundesrepublikanische System und die darin dominierenden Institutionen wie Parteien und Verwaltungen. Er attackierte die Repräsentanten dieses Systems ganz persönlich. Beispielsweise erhielt 1996 der damalige SPD-Landesminister für Umwelt, Harald B. Schäfer, einen Brief Palmers, der nur aus zwei Sätzen bestand:

„Sehr geehrter Herr Minister Schäfer, daß Sie die Frechheit besitzen und sich schon wieder mit einer Mehrwegflasche fotografieren lassen, finde ich unerhört. Ich selber bin der Überzeugung, daß Sie die größte Mehrwegflasche von BW sind.“

Palmer erkannte oft instinktiv die Schwächen einer Person. Die attackierten Politiker oder Beamten waren zwar grundsätzlich durch ihr Amt und die dahinterstehenden Institutionen gedeckt. Doch gelang es Palmer – zumindest für kurze Zeit – deren schützenden Amtspanzer zu sprengen und die Makel und Schwachstellen jener Personen öffentlich zur Schau zu stellen.

Palmer kann, wenn man ihn politisch verorten will, als ökologisch angesehen werden, doch gleichzeitig hatte er auch starke bürgerlich-liberale Züge. Liberal, für die Verantwortung des Einzelnen und für die persönliche Freiheit argumentierend, setzte sich Palmer gesellschaftspolitisch vor allem für eine Entbürokratisierung ein. Wenn er sich für die individuelle Entfaltung des einzelnen Bürgers starkmachte, so war er auf der anderen Seite doch auch bieder, mit einer schwäbisch-protestantischen Leistungs- und Schaffermentalität ausgestattet, die die Pflicht zur Umtriebigkeit als hohen Wert ansah.

Die Ökologie war mithin Palmers wichtigstes Feld, wo er schon sehr früh Positionen bezog, die die Umweltbewegungen, Anfang der 1980er-Jahre dann auch parlamentarisch institutionalisiert durch die Grünen, allmählich aufgriffen. Palmer zielte vor allem auf die Änderung des Verbraucherverhaltens der Bürger ab. Er erhob den Verzicht als Leitlinie zu einem ausgewogeneren Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Dazu gehörten für ihn als Obstfachmann und -händler der Vorzug einheimischer und saisonaler Nahrungsmittel ohne Einsatz von Chemie sowie die Stärkung des regionalen Anbaus und der regionalen Vermarktung mit kurzen Transportwegen. Diese trieb er selbst voran. Mit seinen Obstannahmestellen förderte er den alten, lokalen Anbau im Remstal trotz einer zunehmend globalisierten Waren- und Konsumwelt. In seinen Obstinseraten belehrte er seine Mitmenschen über ökologisches Kauf- und Konsumverhalten. Legendär wurde die Belohnung von Kunden, die mit Weidenkorb bei ihm einkauften, beziehungsweise die Nichtbedienung inklusive Beschimpfung von Kunden, die arglos mit Plastiktüten kamen. Die Landwirtschaft im Allgemeinen und der Streuobstbau im Besonderen waren für ihn die wichtigsten Felder im Umweltbereich. Doch wetterte er ebenso heftig gegen die sich in seiner politisch aktivsten Zeit ausbreitende Nutzung der Kernenergie, gegen Aufrüstung und Atomversuche.


Palmer und die Leitplanken: Mit provokativen Aktionen wies Palmer unermüdlich auf kritische Stellen im Straßenverkehr hin. Vielen gilt er heute als Initiator, dass die gefährlichen Enden von Leitplanken in die Erde versenkt wurden.

Das Verkehrswesen war neben dem Umweltschutz das zweite Feld, wo Palmer als Bürger und Redner selbst viel zu der öffentlichen Auseinandersetzung beitrug. So plädierte er schon in den 1960er-Jahren für eine Stärkung der Bundesbahn als sicherstes Verkehrsmittel und für den Ausbau des Schienennetzes, anstatt zunehmend auf den Ausbau von Straßen und auf den LKW-Verkehr zu setzen. Als die größte Leistung, mit der sich Helmut Palmer im kollektiven Gedächtnis seiner Generation in Württemberg hält, wird ihm das Verdienst angerechnet, dafür gesorgt zu haben, dass die Leitplanken auf den Straßen im Land an ihren Enden versenkt und somit diese tödlichen Unfallgefahren vermindert wurden. Dass tatsächlich Helmut Palmer die maßgeblichen Denkanstöße geliefert hatte, kann nicht belegt werden. Tatsache ist jedoch, dass in etlichen Zeitungsartikeln, Leserbriefen und mündlichen Äußerungen noch heute Palmer als der Erfinder der versenkten Leitplanken gilt. Außerdem beriet er Oberbürgermeister wie Manfred Rommel (CDU) oder Bundestagsabgeordnete wie Hermann Scheer (SPD) über mangelhafte Verkehrssysteme in ihrer Stadt beziehungsweise ihrem Wahlkreis. Auch mit seinen zahlreichen Aktionen war Palmer auf dem Verkehrssektor besonders aktiv, wenn er beispielsweise seinen PKW demonstrativ auf einem schlecht gesicherten Bahnübergang parkte oder mit dem Betonmischer anrückte, um unübersichtliche Einfädelspuren auszubauen.

Helmut Palmer äußerte sich zu allem und jedem. Auch dies war ein Markenzeichen, seine Meinung und Stellungnahmen zu fast jedem Thema kundzutun, ob das nun die Bauplanung im Remstal oder die bundesdeutsche Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion war.

„Schwarz oder Rot wählen ist, wie wenn ein Rheumakranker sich von der einen auf die andere Seite legt.“

Palmer 1996 in Bruchsal

Von den etablierten Parteien war Palmer enttäuscht, denn nach seiner Meinung trafen sie „Absprachen übelster Art hinter dem Rücken des Wahlvolks“. Vor allem die CDU sah er als von ehemaligen Nazis durchwandert an. Obwohl er Sympathien für die SPD und eine Hassliebe für die gerade im Remstal starken Liberalen hegte, sah er alle drei der damals im Bundestag vertretenen Parteien als einen großen Klüngel an und bezeichnete sie als „westdeutsche Einheitspartei“. Die in den 1980er-Jahren hinzugekommenen Grünen bezeichnete Palmer als „Brennesselgärtner“ und sich selbst als „einzigen echten Grünen“ zu einer Zeit, als die heutigen noch gar keine Farbe gehabt hatten. Sein eigenes Programm konnte er in seinem ersten politischen Buch mit dem Titel Mein Kampf und Widerstand. Späth-Lese schlicht auf zwei Seiten abfassen: die Parteien seien von Volksorganisationen zu Staatsinstitutionen verkommen und von Steuergeldern finanziert. Statt Ideologie solle in der politischen Auseinandersetzung Pragmatik den Ton angeben.

Die Bürokratie war neben der Parteienherrschaft das zweite Angriffsfeld Palmers. Sie bezeichnete er als aufgebläht, schwerfällig, arrogant, korrupt und unfähig, ganz im Gegensatz zum Wirken eines freien Unternehmers, der für seine Taten verantwortlich sei und die Konsequenzen selbst (er-)tragen müsse. Wenn die Leute ihm vorwarfen, dass ihm für ein Bürgermeisteramt die verwaltungstechnische Erfahrung fehle, pflegte Palmer zu erwidern: „Erfahrung ist nach meinem Wissen die Summe der gemachten Dummheiten, welche der Privatmann selbst zahlt und beim Beamten die Stadt oder der Staat.“ Die Lacher waren dabei auf seiner Seite. Gegen das Beamtentum stellte er eine Bürgerselbstverwaltung nach dem Vorbild der Schweizer Gesellschaft.

Helmut Palmer

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