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Die Schulzeit
ОглавлениеWie in den anderen Volksschulen des Remstals fanden sich unter der Lehrerschaft der Dorfschule Geradstettens sowohl NS-Eiferer wie auch Pädagogen, die mit der Bewegung wenig anfangen konnten. Der Schulleiter in Geradstetten war in Personalunion auch der Propagandabeauftragte der NSDAP-Ortsgruppe. Psychisch gelitten hat Helmut Palmer auf jeden Fall stark unter der organisierten Hetze gegen die Juden, die auch, wie überall im Deutschen Reich, im Schulunterricht betrieben wurde. Palmer sollte später in seinen Büchern und in Interviews immer wieder eines seiner traumatisierenden Erlebnisse dieser Zeit erzählen. In seiner Autobiografie Mein Kampf und Widerstand. Späth-Lese von 1979 schrieb er:
„Oft erschien dieser unser Klassenlehrer in blankgewichsten Reitstiefeln, die Tür flog auf und knallte ins Schloss. Nach dem markigen ‚Heil Hitler!, alle Hände flogen hoch, kam die gebrüllte Frage: ‚Wer ist schuld am Krieg?‘ und wir mussten zurückschreien: ‚Die Juden!‘ (…) Vor Angst schiss ich anfangs in die Hose, gnädig wurde ich nach Hause zur Reinigung entlassen.“
In Geradstetten wussten viele, dass Helmut das uneheliche Kind eines Juden war. Er wurde häufig von den anderen Kindern „Jud“ oder auch „Mose“ genannt. Noch heute verwenden einige Einwohner Geradstettens die Bezeichnung „Mose“, wenn sie über Helmut Palmer sprechen – selbst manche, die erst nach dem Krieg nach Geradstetten gezogen sind. Von seinen Schulkameraden wurde er gehänselt, manchmal verprügelt. Ob dabei neben seiner jüdischen und unehelichen Abstammung auch sein Verhalten eine Rolle spielte – von seinen damaligen Freunden wurde er jedenfalls schon damals als aufbrausend und impulsiv wahrgenommen – lässt sich nach so langer Zeit nicht mehr feststellen.
Der kleine Helmut reagierte auf die Ausgrenzungen durch seine Umwelt mit besonderem Fleiß. Er sammelte massenweise Teekräuter, um bei seiner Lehrerin ein Plus zu bekommen. Schließlich wurde er auch in die Hitlerjugend aufgenommen. Auch dort stach Palmer mit besonderem Fleiß und Ehrgeiz hervor. Er wollte unbedingt dazugehören – wie die meisten anderen Jungen in seinem Alter. Einschneidend war für den heranwachsenden Palmer, als sein Onkel Reinhold auf Heimaturlaub aus Polen von Erschießungen von Juden berichtete. Reinhold Palmer fiel 1942 im Russlandfeldzug vor Charkow.
Helmut Palmers frühere Lehrerin sagte in einem Prozess vor dem Amtsgericht Esslingen 1963 aus: „Er hat damals viele Demütigungen hinnehmen müssen. Immer wieder hat er versucht, diese Scharte durch besonderen Fleiß für die Schule auszuwetzen. Ich bin sicher, daß all diese Umstände Helmut einen Knacks fürs Leben gegeben haben.“, zitierte die Esslinger Zeitung am 15. Mai 1963 die Lehrerin. Jedenfalls sollte er für den Rest seines Lebens extrem empfindlich gegenüber jeglichen Äußerungen bezüglich seiner jüdischen Abstammung werden. Er wies sowohl in Gerichtsverhandlungen als auch in den Wahlkämpfen immer wieder auf sein für ihn so schmerzhaftes Schicksal als Sohn eines jüdischen Vaters hin. So dürften es die meisten seiner Zeitgenossen außerhalb Geradstettens erst erfahren haben.
Am 20. April 1945 nahmen amerikanische Truppen die Dörfer des Remstals ein. Und Helmut Palmer erlebte, wie sich mancher Einwohner Geradstettens vom überzeugten Nationalsozialisten sehr schnell zurück zum eifrigen Christen wandelte und die Dorfkirche ab Mai 1945 wieder voll wurde. In dieser Zeit, so Palmer in seiner Autobiografie, habe er den Entschluss gefasst, sich niemals, durch welche Machthaber auch immer, bevormunden zu lassen. Nicht durch Taten würden die Menschen schuldig, sondern durch das Untätigsein.
„Die Wendehälse haben sich gedreht wie Pirouetten … mit ihrem Hakenkreuz, das haben sie einfach weggemacht, die Haken, dann blieb das Kreuz, so schnell ging das.“
Palmer über das Verhalten vieler Deutscher
nach dem Krieg, 2001 in der Fernsehsendung
Boulevard Bio
Noch in den letzten Wochen des Krieges begann Palmer eine Lehre als Obstbauer in einer Fellbacher Baumschule, die er erfolgreich abschloss. 1948 zog es ihn als Achtzehnjährigen in die Schweiz, um sich im Obstbaumschnitt, seinem zukünftigen Fachgebiet, fortzubilden.