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Stippvisite in der Galerie

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Siegfried Weber schaute auf seine Taschenuhr. Er wollte pünktlich sein, denn er hasste nichts mehr als Unpünktlichkeit. Er hatte Feierabend, aber trotzdem noch nicht den Sessel im Büro verlassen, denn hier stand das Radio, sein Radio, ein Siemens Radio des Typs Super H53, ein modernes Röhrenradio. Er hatte es gekauft, als es neu auf den Markt kam, denn drei Lautsprecher an drei Seiten des Gerätes erzeugten einen Raumklang. Das Radio hatte eine eckige Form. Die Seitenleisten hatten ein Linienmuster und wirkten durch das helle Holz golden. Der stolze Besitzer drehte am rechten Drehknopf für die Senderwahl. Der Holzkasten reagierte, die Röhren waren aufgeheizt, das Radioprogramm wechselte.

Siegfried Weber hatte das Fenster zur Kaiserswerther Straße geschlossen, damit der Lärm der Baustelle draußen blieb. Sie bauten die Nordbrücke. Die Düsseldorfer Nachrichten schrieben, dies wäre ein nie dagewesenes Brückenprojekt, das Epoche machen würde. Siegfried hasste dieses Strebertum. Immer wollten alle nur die Ersten und die Besten sein. Er sah darin noch den Hochmut der Nationalsozialisten.

„Ejal“, sagte er dann und schaute erneut auf die Uhr. Jetzt musste er wirklich los. Er schaltete das Radio aus. Dann schlüpfte er in seinen Mantel, griff seinen Hut und Stock, löschte das Licht und schloss hinter sich ab. Er verließ das Haus Nummer 241 und ging die Kaiserswerther Straße entlang. Rechts ließ er die Hochhäuser hinter sich zurück, die, elf Stockwerke hoch, die Baustelle der Nordbrücke überragten.

Dann ging er in Richtung Roßstraße. Er war ein rüstiger alter Herr, der einen Spaziergang zu unternehmen schien. Nach 45 Minuten Fußweg erreichte er die Roßstraße 7, sein Ziel an diesem Abend. Das Schaufenster war erleuchtet. Die Glastür rechts daneben stand offen. In der Vitrine hing ein Plakat, unter dem in fetten Lettern stand: Heute Eröffnung. Siegfried hatte die Galerie Albert Schmölke pünktlich erreicht. Er betrat den Raum, in dem an drei Wänden 12 großformatige Fotos hingen. Zahlreiche Gäste drängten sich um die Kunstwerke. Der Galerist Schmölke hatte eine gedrungene Gestalt, er trug einen Anzug, dessen Hose kein Gürtel hielt, weil er auf Hosenträger vertraute, die man jedoch nicht sah, weil er einen Pullunder unter dem Jacket anhatte, sein Haar war schütter und über die Glatze gekämmt, seine Augen funkelten lebendig, er war eine imponierende Persönlichkeit. Siegfried bemerkte ihn sofort. Er ging auf ihn zu und fragte: „Wo ist er?“

Schmölke sagte: „Da freue ich mich aber sehr, dass Sie gekommen sind, Herr Weber.“

„Papperlapapp! Kommt er zu seiner eigenen Ausstellung zu spät?“

„Ach, Herr Weber, das ist nicht so wichtig, die Bilder sind ja da. Ihr Sohn wird schon kommen, er ist sehr verlässlich.“

„Unpünktlich ist er, unpünktlich!“

Schauen Sie doch erstmal in Ruhe seine Fotos an, großartig sind die! Entschuldigen Sie mich bitte!“ Schmölke ließ Weber stehen und begrüßte einen neuen Besucher.

Siegfried Weber war Jahrgang 1887. Er hatte noch das Kaiserreich in seinen Knochen stecken. Sein Sohn Herbert machte ihm Kummer. Der wollte unbedingt Künstler sein. Damit konnte man keine Existenz begründen, war sich Siegfried sicher.

In der Galerie Schmölke hingen Fotos von Ruinen. Auf einem lag eine leicht bekleidete Frau, die übel zugerichtet war, eine Schussverletzung. Siegfried erkannte die Frau, mit der sein Herr Sohn eine Liebesaffäre hatte.

„Das ist doch …“, sagte Siegfried.

„Vater, Sie hier?“ Herbert stand mit Anne am Arm neben Siegfried. Siegfried schaute auf die Uhr.

„Grausig!“, sagte Siegfried. „Widerlich! Abstoßend!“

„Ach, Vater, das ist Kunst. Das darf verstörend sein.“

„Und haben Sie was verkauft?“

„Nein, noch nicht.“

„Also ein Flopp!“

„Das wird sich erst noch zeigen. Der Galerist will mich groß rausbringen.“

„Kommen Sie morgen um elf in die Kanzlei! Wir haben eine neue Mandantin, die stelle ich Ihnen vor.

Da können Sie Geld verdienen.“ Siegfried schusterte seinem Sohn Herbert tatsächlich Aufträge zu.

„Alles Weitere morgen! Und seien Sie pünktlich!“ Siegfried Weber verließ die Galerie und stapfte zu Fuß zu seiner Wohnung zurück, dabei fluchte er: „Kommt zu seiner eigenen Ausstellung eine Viertelstunde zu spät!“

Mordbrücke

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