Читать книгу Mordbrücke - Jan Michaelis - Страница 9
Knallerei in der Kunstakademie
ОглавлениеHerbert saß in der Küche seiner Wohnung in Derendorf, die er sich mit drei Studenten der Kunstakademie teilte. Vor ihm auf dem Küchentisch lag die zerlegte Pistole und wartete darauf, wieder zusammengesetzt zu werden. Der Vorgang lief zügig und wie selbstverständlich. Herbert hatte das bei der Wehrmacht gelernt. Er hatte es oft getan. Sehr oft. Zu oft. Aber es musste sein, auch jetzt musste es sein. Und auch jetzt beruhigten ihn die beinahe rituellen Handgriffe. Er setzte den Lauf in den Schlitten und das Ganze auf den Unterbau mit dem Griff. Er zog am Schlitten. Die Pistole war funktionsbereit.
Vor ihm auf dem Küchentisch stand die Glasschale seiner Großmutter. Darin lagen die Patronen. Er nahm sie einzeln auf. Dann lud er das Magazin. Er zog die Waffe durch. Dann zielte Herbert durch Kimme und Korn. Er hatte heute einen Termin in der Kunstakademie. Auf seinem Gesicht konnte man Vorfreude erkennen. Die Pistole Modell Walther P 38 würde ihm heute gute Dienste leisten.
Er zog seinen Wintermantel an, verstaute die Pistole in der Innentasche des schweren Wollmantels. Dann nahm er die Leica und schnallte sie sich über die Schulter, um sie auch mit dem Mantel zu schützen. Er griff seinen Motorradhelm. Schließlich stapfte er die Treppe hinunter und trat auf die Straße.
Hier stand seine Triumph. Es war eine schöne Maschine, schwarz mit silbernen Deckeln. Der Motor hypnotisierte ihn mit seinem wundervollen Gleichtakt. Er freute sich auf die Fahrt zur Kunstakademie.
Herbert erreichte die Eiskellerstraße. Er parkte sein Moped etwas abseits, damit kein Kommilitone aus Scherz die Maschine ruinierte.
Dann ging er die Eiskellerstraße entlang. In dem Gebäude linker Hand waren die berüchtigten Zellen, in denen die Gestapo ihre Vernehmungen durchgeführt hatte. Er war angewidert bei dem Gedanken und spuckte aus. Laut sagte er: „Gut, dass das vorbei ist!“
Dann erreichte er die Kunsthochschule. Er schlenderte hinein, die Korridore entlang zu den Räumen der Klasse, in der er als Gasthörer studierte. Er wehte hinein in den Klassenraum. Sofort wurde er mit einem lauten Hallo begrüßt. Alle drängten auf ihn ein: „Und hast du sie dabei?“
Er hob die Hand, zog seine Pistole und herrschte alle an: „Dort rüber!“ Dabei wedelte er mit dem kurzen Lauf der Pistole in die Ecke, wo das Waschbecken war.
Alle folgten artig und aufgeregt. Eine junge Studentin, die nur zu Besuch aus Frankreich da war, fragte ängstlich: „Qu’est-ce que ça devrait être?“ Und da Herbert nicht zu verstehen schien, setzte sie hinzu: „Was soll das?“
„Wer sind Sie denn?“, fragte Herbert zurück.
„Ich bin Niki aus Paris“, sagte Niki und sprach das „s“ nicht aus. „Ich bin zu Besuch.“
„Gut, mitgefangen, mitgehangen.“
Herbert lädt die Pistole durch, entsichert und schießt. Das Rot spritzt. Und läuft in Strömen herunter. Herbert schießt insgesamt vier Mal. Vor aller Augen wird es blau, gelb und schließlich schwarz.
Herbert hatte auf Gläser geschossen, die mit dünnen Farbbrühen gefüllt waren. Die Gläser standen auf einem Brett und darunter befand sich eine Leinwand. Niki schaut sich das gut an. Ihrem Gesicht sieht man an, dass sich bei ihr ein Hebel umgelegt hat, sie hat eine Inspiration, wenige Jahre später würde sie diese Idee weiterentwickeln und damit weltberühmt werden, dann wäre sie die große Niki de Saint Phalle, die auf eingegipste Farbbeutel schießen würde und deren Schießbilder eine Sensation werden würden. Herbert Weber macht ein Foto mit seiner Kamera. Nur gelegentlich setzte er seine Pistole Walther P 38 ein.
Der Hausmeister reißt die Tür auf. „Was ist hier los?“
„Es sind nur die Gläser geplatzt, die waren wohl eingefroren“, beschwichtigt Herbert.
„Hörte sich nach Schüssen an.“
„Ja, war ganz schön laut, die standen wohl unter Druck. Wir räumen gleich auf. Stellen Sie dann bitte die Heizung höher?“
Der Hausmeister ging. Die Studenten kicherten, während sie die Scherben wegkehrten und die überschüssige Farbe aufwischten.
Herbert hatte an diesem Tag bei der Knallerei in der Kunstakademie vier gute Treffer platzieren können. Und schließlich kamen alle lachend aus der Szene raus, nur der arme Hausmeister nicht, der an seinen Sinnen zweifelte, meinte er doch, ganz sicher vier Schüsse gehört zu haben und bei Gott, er wusste, wie sich Schüsse anhörten, denn er war an der Front gewesen. Aber die Studenten versicherten ihm, dass er den lauten Knall von berstenden Gläsern mit Schüssen verwechselt hatte. Er verstand die Welt nicht mehr und griff zur Flasche, die er für diese Art Fälle im Schrank verwahrte. Zu seinen Gästen auf einen Schnaps zählte er übrigens so einige der Herren Professoren.