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Die Frau in den Ruinen
ОглавлениеEr zielte durch Kimme und Korn der Pistole Modell Walther P 38, die er aus seiner Zeit bei der Wehrmacht behalten hatte. Von dieser Stelle wurde der Schuss abgegeben, der tödliche, denn dort auf dem Trümmergrundstück lag der Körper der Frau und er konnte ihre Wunde am Kopf erkennen, wo der mörderische Schuss sie getroffen hatte, das war keine 15 Meter entfernt.
Er machte ein Foto mit seiner Leica, um den Blick auf den Tatort aus der Position des Täters einzufangen. Die Frau lag reglos zwischen den Steinen, nur der Wind, der hier über das Grundstück fegte, pustete ihr Sommerkleid ein wenig auf. Sie war schön. Er würde das Foto allen zeigen.
Er steckte seine Militärpistole wieder ein. Und die Leica, die er um den Hals an einem Lederband trug, packte er unter seinen Tweetmantel. Es war zugig. Der Wind blies vom Rhein kommend durch Derendorf. Nach den vielen Luftangriffen waren nur noch ein Drittel der Häuser stehen geblieben, seit Mitte der 50er Jahre füllten sich die Baulücken allerdings wieder, Zug um Zug.
Ein Mann trat an ihn heran. Es war Georg, der fragte: „Und, hast du es im Kasten?“
„Ja, du kannst gehen!“, sagte er. „Und noch mal: Danke!“ Herbert schätzte den Freund.
„Immer wieder gerne, bis zum nächsten Mal Herbert! Hier hast du noch was zum Abwischen“, sagte Georg. „Und tschüss!“
Herbert Weber nahm das Tuch mit der linken Hand, in der anderen trug er eine Ledertasche, stieg über das Trümmerfeld zu der Frau und sagte: „Ich habe das Foto.“
Die schöne Leiche öffnete die Augen. „Mir ist kalt. Länger hätte ich das nicht durchgehalten.“
Herbert Weber öffnete die Ledertasche und entnahm ihr eine Wollhose und einen Wollpullover.
„Hier zieh das an! Aber warte noch!“
Der Maskenbildner Georg hatte gute Arbeit geleistet, schließlich war er Profi und arbeitete an der Deutschen Oper am Rhein, die eben erst gegründet worden war. Er wischte mit dem Tuch über ihre Stirnwunde und das Theaterblut verschwand.
„Du hast toll ausgesehen“, sagte Herbert. „Das Bild wird in der Ausstellung bei Schmölke großartig wirken.“
„Das hoffe ich, denn dauernd für dich die Tote in den Trümmern zu geben ist anstrengend, schließlich liegt es sich nicht bequem auf den Steinen hier in diesen Ruinen.“
Anne Gebhardt war das Model für Herbert Webers Fotoserie. Der Fotokünstler wollte die Trümmergrundstücke als Orte des Todes inszenieren. Dass die Galerie Schmölke ihn zeigte, sollte für ihn der Durchbruch seiner Künstlerkarriere sein. Albert Schmölke hatte Herbert Weber unter Vertrag genommen. Er war der erste Kunsthändler im Rheinland, der in den 50er Jahren künstlerische Fotografie anbot. In der Szene nannte man ihn das „Trüffelschwein der Kunst“, weil er unbekannte Künstler entdeckte, die dann Weltruhm erlangten.
Anne hatte sich inzwischen warm angezogen. Herbert Weber sagte: „So, nachdem du auferstanden bist, mein Engel, fahre ich uns beiden Hübschen nach Hause.“
„Lass mich fahren!“
„Gerne“, sagte Herbert zögernd. Es war in den 50ern nicht üblich, dass Männer ihre Frauen oder Freundinnen gerne ans Lenkrad ließen.
Anne steuerte den waldgrünen Opel Kapitän Baujahr 1955. Herbert himmelte seine Geliebte an. Und so schaute er sich während der Fahrt nicht um, er versuchte souverän und ohne Furcht zu wirken. Beide saßen sie auf der durchgezogenen Vorderbank, denn das Fahrzeug hatte keine getrennten Sitze. Und auch keine Sicherheitsgurte.
Herbert war Jahrgang 1917. Er würde nächstes Jahr seinen Vierzigsten feiern. Anne war 30 Jahre alt. Beide vermieden sie das Thema Heirat. Wenn er nur endlich mit seiner Kunst Geld verdienen würde, dann würde er Anne einen Antrag machen, das war sein Plan, den er seinem Freund Georg schon oft mitgeteilt hatte. Er hatte in dieser Hinsicht konservative Vorstellungen. Er wollte ihr etwas bieten können.
Aber noch war Herbert auf andere Aufträge angewiesen. Die brachten im Moment mehr Geld als die Fotokunst und auch bei den anderen Jobs kam oft seine Leica zum Einsatz. Und gelegentlich setzte er dabei auch seine Pistole Typ Walther P 38 ein.