Читать книгу Aus dem Leben eines Liebhabers - Jan Pelzer - Страница 11
Die gelöschten Flammen der Leidenschaft
ОглавлениеIn der Folge dachte ich viel und bohrend darüber nach, warum wir Menschen uns selbst gegenüber und auch untereinander so fremd sind, dass selbst bei unserem Liebeswerben so groteske Situationen entstehen können, wie ich sie so häufig erlebt habe. Ich begann mich zu fragen, ob dies nur an mir liege oder ob dergleichen auch anderen Liebhabern oder Liebhaberinnen begegne. Als ich mich unter Bekannten und Unbekannten daraufhin umsah, entdeckte ich so viele groteske Beziehungen zwischen Männern und Frauen, dass ich mich nicht mehr als die große Ausnahme betrachten konnte. Es gab verheiratete Männer und Frauen, die, obwohl sie von ihren Partnern geliebt wurden und Kinder miteinander hatten, mit jeder entgegenkommenden anderen Partnerin oder jedem geneigten Partner ins Bett gingen. Es gab Scheinehen, die nie vollzogen worden waren und nur zu Zwecken der Aufrechterhaltung einer gesellschaftlichen Fassade beibehalten wurden. Es gab berechnende mittellose blutjunge Frauen, die sich einen betuchten Methusalem geangelt hatten und nur darauf warteten, dass dieser baldmöglichst das Zeitliche segnete, um an sein Vermögen zu kommen. Es gab diese vielen Kompensationsverhältnisse, bei denen die Partner nur dazu dienten, eigene Defizite an Körper- oder Geistesgröße, an gesellschaftlicher Position oder beruflichem Erfolg zu kompensieren. Die Ergebnisse solcher Zusammenschlüsse waren selten ernst zu nehmen und häufig nicht weniger komisch und zum Scheitern verurteilt als meine Beziehungsbemühungen.
Ich konnte solch ein unverhältnismäßiges Liebeswerben - allerdings erst sehr viele Jahre später - sogar in meiner nächsten Umgebung beobachten. Und zwar hatte sich mein Adoptivsohn, der auf Grund mannigfacher Lernbehinderungen mit viel Mühe und viel Hilfe eine Schreinerlehre absolviert hatte und Geselle geworden war, in eine hochintelligente Studentin verliebt, die zudem eine hervorragende Tennisspielerin war.
Sie war die Freundin meiner ältesten Tochter Hella und bereits in jungen Jahren überregional bekannt: mehrfache Stadt- und Landesmeisterin, die auch in mehreren internationalen Turnieren erfolgreich gewesen war. Diese Freundin bekam seit einigen Monaten von einem anscheinend sehr loyalen Fan anonyme Liebesbriefe. In seinem letzten Brief hatte dieser Fan nun versprochen, sein Inkognito zu lüften, wenn die Verehrte sich am nächsten Sonntagnachmittag von ihm in dem stadtbekannten Ausflugslokal „Meckenstocks Garten“ zu Kaffee und Kuchen einladen lasse. Da Daniela Listel diesen Termin frei hatte und auch neugierig darauf war, wer sich hinter dem Kürzel R.S. verbarg, hatte sie dem unbekannten Schreiber das vereinbarte Zeichen gegeben und einen ihrer Tennisschläger an den Griff ihres Zimmerfensters gehängt. Allein wollte sie sich aber nicht der Begegnung mit dem Unbekannten aussetzen und hatte meine Tochter gebeten, sie zu begleiten. Da Hella in dem Unbekannten überraschenderweise ihren Bruder Ron erkennen musste, hat sie mir auf meine Bitte hin einen Bericht über den Ablauf des Geschehens geschrieben.
„Wir sind in Anorak und Jeans zu ‚Meckenstocks Garten’ gefahren und haben an einem Fenster mit Blick auf den See Platz genommen. Es dauerte nicht lange und ein langer, hagerer, blasser ‚Jesuit’ im schwarzen Anzug betrat das Lokal. Ich traute meinen Augen nicht, es war Ron. In der rechten Hand trug er eine qualmende Pfeife, über dem linken Arm hatte er seinen altmodischen Lodenmantel drapiert, obwohl der Tag sehr warm war und die Wärme seinen Mantel völlig überflüssig machte. Nach einem kurzen orientierenden Blick durch das Lokal steuerte er schüchtern und etwas zögernd auf unseren Tisch zu. Er war sichtlich überrascht, mich zu sehen, aber da er wusste, dass Daniela meine Freundin war, obwohl sie uns noch nicht in unserem Haus besucht hatte, konnte er sich die Situation schnell zusammenreimen und akzeptierte meine Anwesenheit als etwas Selbstverständliches.
Vor Daniela blieb er stehen, verbeugte sich, manövrierte seinen Mantel vom linken auf den rechten Arm und reckte der verdutzten Daniela einen jetzt sichtbar werdenden riesigen Strauß von dunkelroten Rosen entgegen. Dabei begleitete er seine Gesten mit etwa folgenden Worten: ‚Hochverehrte gnädige Frau! Gewähren Sie mir die Gnade, Ihnen diesen Blumenstrauß als Ausdruck meiner Verehrung und Dankbarkeit überreichen zu dürfen. Sie haben mich immer wieder mit Ihrer hohen Kunst des Tennisspiels und Ihrer glanzvollen Ausstrahlung beseligt. Sie beglücken mich auch jetzt mit Ihrer erfreulichen Gegenwart, die Sie meiner Wenigkeit völlig unverdient zuteilwerden lassen. Seien Sie versichert, dass ich Ihnen in ewiger Treue und Anbetung mein Leben widme. Mit vorzüglicher Hochachtung! Ihr Ron Sprenger.’
Mit diesen Worten drückte er Daniela den Blumenstrauß in die Hand und blieb demütig und unschlüssig stehen. (Daniela und ich mussten uns kneifen, um nicht laut zu lachen.) Daniela fasste sich als erste, und da sie nicht auf den Mund gefallen ist und nach gewonnenen Turnieren öfter kleine Reden improvisiert hatte, spielte sie die Szene vor den aufmerksam werdenden Gästen des Restaurants wie eine Theaterszene weiter und nahm ihr dadurch die Peinlichkeit. Sie sagte etwa Folgendes: ‚Lieber Freund! Beschämen Sie mich nicht durch die Überbewertung meiner bescheidenen Fähigkeiten! Ihre treue Verehrung und Ihre großzügigen Aufmerksamkeiten sind Balsam auf den seelischen Wunden einer oft enttäuschten Frau. Sie haben ein gebrochenes Herz wieder geheilt und ein angeknackstes Selbstbewusstsein wieder aufgerichtet. Aus Ihrer ermutigenden Bewunderung für meine Person habe ich die Kraft bezogen, mich mit aller Leidenschaft und vollem Einsatz in meine sportlichen Aufgaben zu knien und gewisse Erfolge zu erringen. Betrachten Sie diese Erfolge auch als die Ihrigen und bleiben Sie mir weiter gewogen!’
Damit versuchte sie den verwirrten Ron auf den nächsten Stuhl zu drücken, um ihn und uns aus dem Blickfeld der anderen Gäste zu entfernen. Normalerweise hätte das auch geklappt, aber Ron war derart von Daniela hingerissen, dass er nichts anderes mehr als Daniela wahrnahm und wie hypnotisiert vor ihr stehen blieb. Er bemerkte auch nicht, dass die Glut seiner Pfeife sich mittlerweile durch den Stoff seines geliebten Lodenmantels gefressen hatte und ihren beizenden Qualm durch die Ärmel sowie den Mantelkragen in den Raum verbreitete. Er hatte wohl den Impuls, Daniela die Hand zu küssen, aber er war zu schüchtern, um diesem Impuls entschlossen zu folgen. Als er dann schließlich Danielas Hand ergriff, entzog sie ihm diese sofort, denn sie hatte mittlerweile begriffen, warum der Rauch aus allen Öffnungen des Lodenmantels kroch. Geistesgegenwärtig ergriff sie seinen Mantel und warf ihn auf den Steinfußboden des Lokals. Darauf ergriff sie die Literflasche mit Sprudelwasser, die uns der Ober kurz vor Rons Erscheinen auf den Tisch gestellt hatte, und schüttete ihren Inhalt über dem rauchenden geschwärzten Loch aus, das die Glut in den Mantel gebrannt hatte. Den Inhalt ihres Wasserglases goss sie auf Rons Oberschenkel, weil dort einige glühende Fäden des Mantelgewebes dabei waren, auch noch in Rons Konfirmationsanzug ein Loch zu brennen und womöglich Ron selbst in Brand zu stecken. Und sie hatte den Erfolg, den Brand damit vorerst einzudämmen. Den Rest besorgte der eilends mit einem Feuerlöscher herbeieilende Ober, der Rons Mantel und ihn selbst so in Schaum hüllte, dass kaum noch etwas von ihm zu sehen war, jede Glut aber vollständig gelöscht wurde.
Vor den Augen der anwesenden Gäste müssen die Vorgänge wie eine Filmsequenz oder Theaterszene vorübergehuscht sein und sie in nicht geringe Spannung versetzt haben. Diese Spannung löste sich jetzt in einem befreienden Gelächter und demonstrativen Beifall für die beteiligten Akteure. Daniela, die ja den Umgang mit Publikum gewohnt war, nahm diesen Beifall freundlich entgegen und animierte auch den Ober und Ron dazu, sich zu verbeugen. Dann war sie aber entschlossen, dem Spektakel ein Ende zu machen, und drückte dem Ober zehn Mark für den Sprudel und die Bedienung in die Hand und zog Ron, der noch seinen Mantel mitnahm, und damit auch mich aus dem Lokal.“