Читать книгу Aus dem Leben eines Liebhabers - Jan Pelzer - Страница 4
Kriegsdienstverweigerung
ОглавлениеIch war Einzelkind und litt unter der Nichtbeachtung meiner Eltern. Sie schämten sich, weil ich eine Hasenscharte hatte, und versuchten diese „Entstellung“ und deswegen auch mich vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Wenn „Herrschaften“ kamen und sich mit meinen Eltern im „Herrenzimmer“ unterhielten, wurde ich auf meinen „Abstellplatz“ in die Küche geschickt und mir selbst überlassen. Ich durfte die Gäste nur begrüßen und nur etwas sagen, wenn ich von ihnen angesprochen oder gefragt wurde. Damit mein „Ausschluss“ von der offensichtlich „höheren Gesellschaft“ auch unwiderruflich war, wurde die Tür zum „Herrenzimmer“ geschlossen.
Meine Hasenscharte operieren zu lassen, war meinen Eltern zu kostspielig. Sie erkundigten sich zwar bei einem Spezialisten nach den Chancen und Kosten einer Operation. Aber da dieser keinen hundertprozentigen Erfolg garantieren wollte und die Kosten ihnen einigen Verzicht abverlangt hätten, nahmen sie von einer Behandlung Abstand. Für mich war diese Entscheidung sehr enttäuschend. Ich verlor dadurch viel Zutrauen in die Fürsorglichkeit meiner Eltern und musste meine Entstellung als etwas Unabänderliches akzeptieren lernen. Hierdurch wurde mein Selbstbewusstsein geprägt und ich betrachtete mich fortan als ein minderwertiges und behindertes Wesen. Die Entstellung empfand ich so sehr als mir zugehörig, dass ich auch später, als ich die finanziellen Mittel dazu hatte, keinen Versuch machte, eine kosmetische Korrektur vornehmen zu lassen.
Neben meiner Hasenscharte erschien meinen Eltern auch meine „Linkshändigkeit“ als unnormal. Und so machten sie die größten Anstrengungen, um mich auf die mehr verbreitete „Rechtshändigkeit“ umzustellen. Mit der rechten Hand war ich natürlich viel ungeschickter, als ich es mit der linken Hand gewesen wäre. So galt ich bald als grundsätzlich unpraktischer und „linkischer“ Mensch.
Dies erregte meinen Trotz und Widerstand. Mit Schlägen wurde nun versucht, mir mein eigenwilliges Pochen auf meine Menschenrechte und meine Menschenwürde auszutreiben. Ein derart missratenes Wesen hatte keinen Anspruch auf eine gerechte Behandlung noch auf einen eigenen Platz oder auf eigenen Besitz in einer Gesellschaft der Tüchtigen und Makellosen. Ich hatte demzufolge „zu Hause“ kein eigenes Zimmer. Meine „Schlafstelle“ war in der Diele. Meine Eltern verfügten nach Belieben über mein Eigentum, meine Kleidung, meine Spielsachen, meine Bücher, verschenkten, vertauschten und verkauften sie oder „rangierten sie aus“, wenn es ihnen angebracht oder nützlich erschien. Sie verfügten sogar über mein als Schüler durch Ferienarbeit verdientes Geld. Wenn ich dagegen protestierte und auf der verfassungsrechtlich garantierten Unantastbarkeit meines Eigentums bestand, sagte meine Mutter mir: „Mach die Augen zu! Was du dann siehst, das gehört dir.“ Ich machte die Augen zu und sah „nichts“. Und genau so hatte meine Mutter es auch gemeint. Mir gehörte nichts – schlimmer noch – ich war für sie ein „Nichts“. Ein „entstelltes“ Kind passte nicht zu der glamourösen Selbstdarstellung meiner Eltern, und selbst ein normales Kind wäre ihrer Vergnügungssucht im Wege gewesen. Ein behindertes Kind aber hatte überhaupt keine Ansprüche an sie zu stellen und seine Versorgung war nur ein Gnadenakt von ihrer Seite.
Im Grunde hatte ich in ihren Augen kein Lebensrecht wie normale Kinder. Wenn ich überhaupt eine Funktion für ihr Leben hatte, dann als Requisit für die theatralische Darstellung einer „normalen“ Familie. Diese Behandlung machte mich, da ich selbst schwer unter meiner Entstellung litt, sehr unsicher und ängstlich. Und meine Ängste wurden durch die zeitweilig ungesicherte wirtschaftliche Situation meiner Eltern und durch das Erleben der Bombennächte in der Zeit des Zweiten Weltkrieges noch vergrößert. Ich bekam Zustände, wenn ich abends allein gelassen wurde, was sehr oft der Fall war, da meine Eltern häufig ausgingen, und bildete mir mit meiner lebhaften Fantasie bei jedem Geräusch die schlimmsten Gefahren, das Erscheinen von Räubern und Mördern, von giftigen Schlangen und Blut saugenden Vampiren ein.
Natürlich war das Verhalten meiner Eltern kein Ausdruck von Bösartigkeit und sadistischen Neigungen, sondern von Unreife, von einem falschen Bewusstsein als gesellschaftliche Aufsteiger und von unbewusster Anpassung an den damaligen Zeitgeist. Sie dachten, es sei vornehm, wenn sie das Kind von der Unterhaltung der Erwachsenen ausschlössen. Sie waren geprägt vom Fortschrittsglauben und der Aufstiegsideologie des 19ten Jahrhunderts und hingen – wie viele ihrer kleinbürgerlichen Zeitgenossen auch – einem populären Vulgärdarwinismus an, der besagte, dass das Leben „Kampf ums Dasein“ sei und nur der „Stärkere“ eine Chance habe, sich durchzusetzen. Und diesen „Kampf“ um den von ihnen verinnerlichten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstieg, so meinten sie, hätte ich durch meine entstellende Behinderung schon von vornherein verloren.
Als sie später merkten, dass ich durchaus leistungsfähig war und mich zur Not auch durchsetzen konnte, schoben sie diese Vorurteile vorübergehend beiseite, um sie aber sofort wieder zu reaktivieren, wenn ich ein Verhalten an den Tag legte, das in ihren Augen einem Versagen oder einer Niederlage gleichkam. Vor ihren Freunden verleugneten sie mich tatsächlich noch als über fünfzigjährigen, wohlhabenden Mann und mehrfachen Familienvater, weil ich meinen Betrieb einige Jahre verpachtete, um meinen kreativen Neigungen nachzugehen und ein schwer behindertes Kind aus – in ihren Augen – „asozialen“ Kreisen in meine Familie aufzunehmen.
Wie bin ich mit meiner Situation fertig geworden? Eine Methode, um mich selbst zu behaupten, hatte sicherlich den negativen Charakter der „Verweigerung“. Ich machte die gesellschaftlichen Rituale nicht mit. Ich lehnte die für Kinder in meiner Zeit vorgesehene Ausbildung ab. Ich ging nicht in den Kindergarten, wurde kein Mitglied bei den nationalsozialistischen „Pimpfen“ oder der „Hitlerjugend“ und grüßte auch nicht mit dem „Deutschen Gruß“. Nach der Einschulung suchte ich mir im Klassenraum einen Platz, der am nächsten bei der Tür war, um so schnell wie möglich wieder draußen zu sein, und schwänzte während des ersten Schuljahres etwa die Hälfte der Zeit die Schule. Auch ließ ich mich nach einigen unangenehmen Erfahrungen von keinem Arzt mehr behandeln.
Ich gab also die Ablehnung, die ich erfuhr, in vollem Maße zurück, obwohl mehr Angst der Grund für mein „Versagen“ war als Widerstand oder gar Rebellion. Meinen Eltern müssen meine Fluchtversuche allerdings wie Manifestationen meines Selbstbehauptungswillens vorgekommen sein, und da ich in meiner panischen Angst einen eisernen Willen entwickelte und mit keiner Drohung oder Strafe von meinen Fluchtversuchen abzubringen war, begannen sie mich zu respektieren. Die Gewohnheit eines engen Zusammenlebens tat noch das ihre, um gewisse solidarische Gefühle zwischen uns entstehen zu lassen, so dass ich zumindest wie ein gut dressierter und treuer Hund im Kreise der Familie gelitten und gemocht wurde.
Den Höhepunkt erreichte mein widerspenstiges und zersetzendes Verhalten (mit der Unterstützung meiner Eltern in diesem Fall), als ich 1943 mit sechzehn Jahren noch zur Wehrmacht eingezogen werden sollte. Meine Mutter und ich waren bereits 1942 aus der Großstadt im Ruhrgebiet wegen der häufigen Bombenangriffe der Alliierten in ein Dorf in Süddeutschland gezogen. Mein Vater, der Lehrer war und dessen Schule wegen Zerstörung geschlossen worden war, kam 1943 nach und übernahm dort die Stelle eines Arbeitsdirektors in einer Polstermöbelfabrik.
Als für mich der Einberufungsbescheid kam, waren meine Eltern einerseits stolz, dass ich trotz meiner Entstellung das Ehrenkleid der Nation, den Soldatenrock, tragen sollte, andererseits aber sahen sie sehr klar, dass der Krieg verloren war, und wollten nicht, dass ich für eine winzige Verlängerung der von ihnen mittlerweile abgelehnten Naziherrschaft geopfert würde. Einige ältere Hitlerjungen waren denn auch schon eingezogen und an der Front eingesetzt worden, wo sie zum Teil schwer verletzt worden waren und Arme und Beine verloren hatten. Ich hatte nicht die geringste Lust, ein ähnliches Schicksal zu erleiden und teilte die Meinung meiner Eltern, dass meine Einberufung verhindert werden müsse. Wir hielten einen Familienrat ab und kamen zu dem Ergebnis, dass die einzige Möglichkeit, dem Wehrdienst zu entgehen, darin bestand, so krank zu werden, dass ich vom zuständigen Stabsarzt als nicht kriegsverwendungsfähig eingestuft werden musste.
Mein Vater und ich informierten uns darauf in einem einschlägigen Lexikon über die Symptome, die der Kinderlähmung vorausgehen und sie begleiten, damit ich die Krankheit mit meinem mehrfach erwiesenen Schauspielertalent simulieren könnte.
Nachdem wir herausgefunden hatten, dass Mandelentzündung, Appetitlosigkeit, Darmträgheit, Verstopfung und Fieber der Krankheit vorausgehen und Fieber sie begleitet, gab ich mir die größte Mühe, alle diese Krankheitserscheinungen mehr oder minder künstlich hervorzurufen.
Die Mandelentzündung rief ich dadurch hervor, dass ich mich in voller Bekleidung unter die kalte Dusche stellte, danach alle Fenster unserer Wohnung aufriss und mich so nass, wie ich war, in den Durchzug setzte. Ich brauchte diese Prozedur nur wenige Male zu wiederholen, da begann meine Nase zu laufen, der Niesmechanismus setzte sich in Bewegung und der Hals färbte sich rot. Nun räumte ich Mutters süßen Schrank aus, den sie dauernd mit Schokolade und Pralinen bis oben hin gefüllt hatte, und stopfte von dem süßen Zeug so viel in mich hinein, dass es mir schlecht wurde.
Als meine Eltern abends nach Hause kamen, lag ich mit allen Anzeichen der beängstigenden Krankheit im Bett und hatte so unter echten Schmerzen zu leiden, dass der in höchster Eile herbeigerufene Arzt mich nicht zu berühren wagte – aus Angst, von der diagnostizierten Kinderlähmung angesteckt zu werden. Da meine Eltern sich weigerten, mich in ein Krankenhaus zu geben, wurde unsere Wohnung sechs Wochen unter Quarantäne gestellt. Meinen Eltern wurde bis auf weiteres verboten, die Wohnung zu verlassen. Der Kontakt zur Außenwelt wurde nur durch eine Rote-Kreuz-Schwester und den Arzt hergestellt, die unter Beachtung größter Vorsichtsmaßnahmen unsere Wohnung betraten oder – genauer gesagt – das Betreten der Wohnung häufig vermieden, indem sie vom Flur aus durch ein geöffnetes Fenster der Etagentür die Berichte und Bestellungen meiner Eltern entgegennahmen und Lebensmittel und Arzneien hereinreichten. Meine Eltern und ich amüsierten uns insgeheim über die Angst unserer Betreuer, aber trotzdem wurde uns die Zeit lang. Ich selber fühlte durch die Notwendigkeit, die ganze Zeit im Bett liegen zu müssen, bald am ganzen Körper Schmerzen und Lähmungserscheinungen. Meine Eltern hatten außerdem durch die Eingabe von Malariaplasmodien eine künstliche Infektion in meinem Körper hervorgerufen, so dass ich dauernd Fieber hatte, was den Arzt, wenn er sich denn ausnahmsweise an mein Bett traute, in seiner Diagnose bestärkte, mich aber sehr schwächte.
Schließlich gingen die sechs Wochen Quarantäne aber doch vorbei, und wir mussten überlegen, welches kriegstaugliche Glied meines Körpers fortan gelähmt bleiben sollte, damit ich vor dem Zugriff der Wehrmacht sicher war. Wir beschlossen, das linke Bein zu „nehmen“, weil ich die Hände für meine Schularbeiten und mein sehr fortgeschrittenes Violinspiel brauchte.
Zur Kompensation meiner künftigen Körperbehinderung kauften mir meine Eltern zwei Krücken und einen Spazierstock. Damit übte ich nun die kunstgerechte Fortbewegung eines einbeinig Gelähmten. Durch die lange Bettlägerigkeit musste ich das Laufen ohnehin wieder von neuem lernen, und so geriet mir die Handhabung der Krücken durchaus natürlich. Das scheinbar gelähmte Bein ließ ich schlaff herunterhängen und schleifte es beim Gehen hinter mir her. Weil ich das Bein nicht belastete, bildete sich auch keine neue Muskulatur und es wirkte so dünn und kraftlos, dass es wirklich den Eindruck eines von der Kinderlähmung ruinierten Körpergliedes machte.
Unser Arzt jedenfalls ließ sich voll von der bewegungsmäßigen und militärischen Unbrauchbarkeit des Beines überzeugen. Auch der hinzugezogene Stabsarzt, der übrigens ein Stammtisch- und Skatbruder meines Vaters war, unterließ eine Untersuchung der nervlichen Intaktheit des Beines mit dem Hämmerchen, beschränkte sich auf das vorsichtige Abtasten der erschlafften Muskulatur und stellte mir anstandslos das ersehnte Attest über eine schwere Körperbehinderung aus. So konnte ich in der Folgezeit mein schauspielerisches Talent bis Kriegsende unter Beweis stellen und mit Krücke oder Stock eindrucksvoll an der Wehrmacht und den Nazis vorbeihinken.