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Ein außerordentlicher nächtlicher Parteitag

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Seit Ostern 1933 besuchte ich die Schule, die ich aber nicht sehr liebte. Ich lernte weder lesen noch schreiben und es war ein Glück, dass mein Vater Lehrer war und mir alles das beibrachte, was ich in der Schule versäumt hatte. Seit 1941 war der Zweite Weltkrieg bereits auch für die Zivilbevölkerung in Deutschland spürbar geworden. Die Wehrmacht hatte das Auto meines Vaters requiriert und durch die Bombenangriffe der alliierten Luftwaffe waren wiederholt Ziele in der Nähe unserer Wohnung getroffen worden. Durch die hierbei entstandenen Druckwellen waren die Fensterscheiben unseres Wohnzimmers zu Bruch gegangen und hatten durch neue ersetzt werden müssen.

Meine Mutter, mit der ich nachts meistens allein zu Hause war (weil mein Vater als Flakhelfer eingesetzt war und seine Nächte in der Nähe eines Flugabwehrgeschützes verbringen musste), hatte eine panische Angst vor den Bombenangriffen und stürzte bei dem ersten Ton der Alarmsirenen in unseren Luftschutzkeller. Ich, der ich einen bleiernen Schlaf hatte, lag währenddessen in meinem Bett und merkte nichts von Fliegeralarm, von Geschützdonner und dem Krachen explodierender Bomben. Im Luftschutzkeller fiel es natürlich auf, dass ich fehlte, und da meine Mutter aus Angst vor den Bomben von keiner Macht der Welt dazu zu bewegen war, wieder in unsere Wohnung zurückzukehren und mich zu holen, ließ sich meistens ein anderer Hausbewohner den Schlüssel zu unserer Wohnung geben, um mich zu wecken und mit in den Keller zu nehmen. Einem solchen tapferen Mitbewohner des Mehrfamilienhauses, in dem wir wohnten, habe ich es zu verdanken, dass ich noch lebe. Denn bei einem der nächtlichen Luftangriffe wurde unser Haus getroffen und die Wand, neben der mein Bett stand, stürzte ein. Hätte ich noch in dem Bett gelegen, gäbe es mich wahrscheinlich nicht mehr.

Als die Luftangriffe überhandnahmen, wurden viele Menschen, deren Anwesenheit in den Städten nicht unbedingt nötig war, in ländliche Gebiete gebracht, die von Bombardements verschont waren. Man nannte das die Städte „evakuieren“. Infolge dieser Vorgänge waren meine Mutter und ich nach Süddeutschland gekommen. Wir kamen in ein Bauerndorf in Württemberg, in dem es eine Möbelfabrik gab. Der Fabrikbesitzer, den meine Eltern persönlich kannten, bot uns eine Unterkunft in seinem Haus an, um eine Zwangseinquartierung von unbekannten Stadtflüchtlingen zu vermeiden. Zunächst wohnten nur meine Mutter und ich dort. Später, als die Schule, in der mein Vater Direktor war, 1943 von Bomben zerstört worden war, kam mein Vater - wie bereits gesagt - nach und übernahm die Stelle eines Arbeitsdirektors in der Firma.

Mein Vater lehnte inzwischen genauso wie mein Großvater das nationalsozialistische Regime ab. Daher freute es ihn nicht, dass ein bombastisches Zeremoniell auf ihn wartete, als er am späten Nachmittag seines ersten Arbeitstages den Mitarbeitern der Firma vorgestellt werden sollte. Für mich waren dagegen diese Vorgänge ein aufregendes Ereignis und ich erinnere mich noch sehr gut daran.

Die Fabrikantenfamilie, ein Prokurist und eine Arbeiterarmee von russischen und polnischen Kriegsgefangenen mit vielen schwangeren Frauen, die ebenfalls in der Fabrik arbeiten mussten, waren in der größten Fertigungshalle der Fabrik aufmarschiert. Ganz vereinzelt gab es auch einige deutsche Arbeiter, wahre Methusalems, zu sehen. Die Parteiprominenz war auch versammelt und veranlasste ein donnerndes „Heil Hitler“ zu seiner Begrüßung.

Mein Vater, der das Zeremoniell nicht auf sich bezog, guckte sich dauernd um, ob nicht irgendein prominenter Parteibonze hinter ihm stünde. Aber hinter ihm stand keiner, dem der Aufmarsch hätte gelten können. Als mein Vater jetzt warten wollte, bis die noch unsichtbare Koryphäe, der die Feierlichkeit offensichtlich galt, in Erscheinung treten würde, trat der Fabrikbesitzer ans Mikrophon und hielt folgende Rede: „Sehr geehrter Herr Gauleiter, Herr Kreisleiter, Herr Ortsgruppenleiter, sehr geehrte Herren Blockwarte, Zellenleiter und Parteimitglieder, liebe Arbeiter und Arbeiterinnen! Heil Hitler! Ich habe hiermit die große Ehre, Ihnen den neuen Arbeitsdirektor dieser Fabrik vorzustellen: Herrn Sprenger. Herr Sprenger wird jetzt einige Worte an Sie richten.“ Damit trat er zurück und schob meinen Vater an das Mikrophon.

Mein Vater war auf diese Situation nach Absprache mit dem Fabrikbesitzer vorbereitet, aber obwohl er ein großer Redner war, hatte er keine Lust, mit einer patriotischen Ansprache der anwesenden Parteiprominenz zu schmeicheln. Daher spielte er den rhetorischen Tölpel, drehte verlegen den Hut zwischen den Händen und stotterte: „Tach, Leute! Morgen fängt die Arbeit an. Heute könnt ihr nach Haus’ gehen. Wiedersehen! Und viel Vergnügen!“ Die Arbeiter trauten ihren Ohren nicht, dass sie außerplanmäßig ein paar Stunden frei haben sollten. Aber dann ging ein donnernder Applaus, vor allem von den gefangenen Russen und Polen los, der die Parteigrößen in einen Zustand blindwütiger Raserei versetzte. Und noch während die „Zwangsarbeiter“ die Halle verließen, gingen sie wie die Furien auf meinen Vater los, haspelten was von Wehrkraftzersetzung, von Sabotage, Diebstahl am Volksvermögen, Minderung der Arbeitsmoral, von Defätismus und Konspiration mit dem Feind durcheinander.

Mein Vater aber blieb ganz ruhig und wies nur mit bedeutungsvoller Geste auf die große Fensterfront der Halle, durch die man auf den Fabrikhof sehen konnte. Dort fuhr soeben ein Lastwagen vor, der mit Weinflaschen beladen war. „Ich konnte diese Ladung für meinen Einstand in dieser Firma bei dem Winzer, der mich mit Wein beliefert, erstehen und möchte die nötige Arbeitsbesprechung mit den politisch und wirtschaftlich verantwortlichen Persönlichkeiten der Region zur Steigerung der Produktivität unserer Firma mit einer Weinprobe verbinden. Zudem möchte ich mir erlauben, je zwei Flaschen Königstühler Gewürztraminer den hier versammelten Persönlichkeiten zum Geschenk zu machen.“

Darauf ließ mein Vater sofort einige Flaschen Asbach Uralt, die er aus seiner Aktentasche kramte, unter den Anwesenden kreisen. Er deutete zudem auf eine zweite prall gespannte Aktentasche, die noch neben ihm auf dem Boden stand, und bemerkte, dass die Herren die in der Runde kreisenden Flaschen getrost leeren könnten, es bliebe für jeden der Anwesenden noch eine volle Flasche als zusätzliches Einstandsgeschenk übrig.

Die Parteimitglieder, die die vorübergehende Stilllegung der Fabrik wegen ihrer eigenen Wichtigkeit begründet sahen, wandelten sofort ihre Sinnesart und erklärten ihre vorausgehenden Aussagen als Ausdruck eines Missverständnisses. Daraufhin überschlugen sie sich mit Vorschlägen für eine Steigerung der Produktion. Sie schlugen Nachtschichten vor, Kinderarbeit, Lohnabzüge bei Minderleistung. Mein Vater hörte sich den Unsinn mit unbewegter, ernster Miene an, zeigte sich scheinbar auch mit allen Vorschlägen einverstanden und rechnete dann exakt aus, dass die Nachtschicht nur durch Neueinstellung vieler ungelernter Privatpersonen möglich sei, und bot den Parteileuten die Ehre an, in der nächsten Nacht und den folgenden Nächten der Woche als Vorbild für freiwillige Arbeitsverpflichtung die Nachtschicht zu übernehmen. Dieses Angebot lehnten die Parteigrößen aber mit Dank ab, worauf mein Vater den Vorschlag mit den Nachtschichten als illusorisch abtun konnte.

Inzwischen war der Alkoholspiegel der Nazis so erheblich gestiegen, dass eine ernsthafte Besprechung über eine effektivere Organisation der Arbeit kein Thema mehr sein konnte. Hier und da wurden Rufe nach „Weibern“ laut, und der eine oder andere verlangte, man solle die Polinnen holen, die nicht unweit der Fabrik in einer bewachten Baracke zu Hunderten zusammengepfercht waren. Meinem Vater, dem ein Licht aufging, warum so viele Polinnen dicke Bäuche hatten, lehnte dieses Ansinnen entschieden ab und erklärte, dass die Feier – im Interesse eines geregelten Betriebsablaufs am folgenden Tag – beendet sei.

Hierauf reagierten die politischen „Führer“ aber mit lautstarkem Protest und erklärten die Fabrik wegen einer wichtigen Parteiveranstaltung bis zum Beginn der Arbeit am folgenden Morgen für beschlagnahmt. Die Kartons mit dem Wein, die mittlerweile in der Halle gelandet waren, beschlagnahmten sie „zwecks Sicherstellung der nötigen Verköstigung“ während des „außerordentlichen nächtlichen Parteitages“ sofort mit. Mein Vater ließ sich beide Maßnahmen schriftlich bestätigen und durch die Unterschriften aller Beteiligten absegnen. Er steckte das Schriftstück ein, und danach verschwanden meine Eltern und der Fabrikant und seine Frau vom Schauplatz des Geschehens.

Zurück blieben die bereits 18 und 20 Jahre alten Kinder der Fabrikantenfamilie, Sofie und Hans Jörg, sowie der Prokurist der Firma, Herr Weiß, und ich – und natürlich der kleine grölende „Reichsparteitag“.

Dieser beschäftigte sich jetzt mit der Erstellung von Stabsplänen zur Erstürmung der Baracke, in der die Polinnen hausen mussten. Hans Jörg und ich wollten bei dieser Aktion auch beteiligt sein, stießen bei der grölenden Horde aber auf Widerstand, weil diese uns denn doch für zu jung für die erotische Eroberung von „feindlichem und zudem minderwertigem weiblichen Menschenmaterial“ hielt. Anders war es bei dem Prokuristen, Herrn Weiß, der sich an der geplanten „Heldentat“ um keinen Preis beteiligen wollte, aber von den Wortführern der Horde mit allen Mitteln dazu genötigt wurde.

Plötzlich fiel irgendeinem ein irrsinniges Spiel ein, nach dessen Ausgang es sich erweisen sollte, ob Herr Weiß von der militärischen Aktion freigestellt werden konnte oder nicht und ob wir daran teilnehmen durften oder nicht. Das Spiel hieß: „Der Tellschuss“. Herr Weiß sollte den Sohn des Wilhelm Tell darstellen, den Walther, und sich in einem Abstand von 5 Metern von Hans Jörg und mir aufstellen. Ihm sollte ein Apfel auf den Kopf gelegt werden, und wir sollten diesen Apfel mit je zehn Würfen mit vollreifen Tomaten mindestens dreimal treffen. Falls Herr Weiß den Würfen standhielt, sollte er von der Aktion freigestellt werden, falls er aber vorzeitig seine Rolle bei dem Spiel aufgäbe, sollte er gezwungen werden, daran teilzunehmen. Wir „Jungen“ aber hätten unsere Bewährungsprobe bestanden, wenn wir den Apfel mit zehn Würfen dreimal träfen.

Seltsamerweise erklärte sich Herr Weiß sofort bereit, seine Rolle zu übernehmen, und Hans Jörg und ich waren bedenkenlos bereit, unseren Teil zum Gelingen dieses Schauspiels beizutragen. Der Organisator dieser Schau schickte darauf zwei der Männer nach draußen, um aus dem Privatgarten der Fabrikantenfamilie Tomaten und Äpfel zu holen. Im Nu waren sie wieder zurück und hatten die inzwischen geleerte zweite Aktentasche meines Vaters mit Tomaten und einigen Äpfeln gefüllt. Die „Ernteausbeute“ wurde auf einem Tisch ausgebreitet, wobei mehrere angefaulte Tomatenexemplare mit besonderem Jubel bemerkt wurden.

Das Los hatte mich dazu bestimmt, als Erster zu werfen. Die beiden „Erntehelfer“, die die Tomaten aus dem Garten geholt hatten, spielten sich als „Sekundanten“ auf und suchten mir freundlicherweise die faulsten Tomaten aus. Irgendein traditionsbewusster Zecher übernahm darauf das Kommando und befahl: „Laden! Lunte anlegen! Schuss!“ Das bedeutete: Tomate in die Hand nehmen, ausholen, werfen. Ich folgte dieser Anweisung zunächst noch etwas unsicher. Die linke Krücke unter den Arm geklemmt (ich hatte meine Erkrankung an „Kinderlähmung“ bereits hinter mir), auf dem rechten Bein balancierend traf ich nur den Fußboden vor den schwarz glänzenden Lackschuhen des Herrn Weiß. Dort bildete sich schnell eine blutrote Lache. Herr Weiß, der mit unbewegtem Gesicht und in kerzengerader Haltung an seinem Platz stand, lächelte mir für den Bruchteil einer Sekunde zu, meine mechanischen Schwierigkeiten als seelische Hemmungen verkennend. Als ich darauf einen Augenblick zögerte, um das Signal zu verarbeiten, folgte ein unmerkliches Kopfnicken von Herrn Weiß, mit dem er mir die Genehmigung gab, weiter zu werfen, was ich schamloserweise auch ausnutzte. Zwar versuchte ich nicht mit aller Kraft zu werfen, aber das Ziel, den Apfel, verlor ich nicht aus den Augen.

Dies hatte zur Folge, dass ich beim fünften Wurf das blütenweiße Frackhemd, das Herr Weiß trug, traf, welches sich sofort rot färbte. Beim sechsten Wurf traf ich Herrn Weiß genau ins Gesicht. Hierauf hatten die Umstehenden schon längst gewartet und amüsierten sich nun maßlos über die von Tomatenmark verschmierte Brille und Stirn des Herrn Weiß und seinen verdutzten Gesichtsausdruck. Das wiehernde Lachen, das sie anstimmten, widerte mich an. Trotzdem dachte ich nicht daran aufzuhören. Immerhin ließ ich trotz des wiederholten Kommandos: „Laden! Lunte anlegen! Schuss!“ Herrn Weiß Zeit, sich seine Brillengläser zu putzen. Und mein nächster Wurf landete dieses Mal ganz bewusst sofort in der träge dahin fließenden Lache, die sich auf dem Boden gebildet hatte. Mit dem achten Wurf traf ich dann zum ersten und einzigen Mal den Apfel, worauf sich das hellblonde Haar von Herrn Weiß ebenfalls verfärbte. Als ich dieses verunstaltete blutig rote Menschengesicht sah, auf dem das Tomatenmark wie zerfasertes Muskelgewebe hing, hatte ich plötzlich die Vision von einem zerschossenen Soldaten, der da wankend vor mir stand; und mir war alle Lust auf weitere Treffer vergangen. Das pausenlose Gelächter der angetrunkenen Parteirepräsentanten tat ein Übriges und ich warf nur noch lustlos die letzten Tomaten in den blutigen Brei, der sich auf dem Boden gebildet hatte.

Zwar hatte der Parteitag meine Lustlosigkeit bemerkt, doch da ich die letzten Tomaten sehr schnell geworfen hatte, bestand die gute Laune, die ich mit meinen Treffern bewirkt hatte, noch weiter, und man erklärte sich gönnerhaft bereit, mich trotz des vereinzelten Treffers voll an der „Belustigung“ mit den Polinnen zu beteiligen.

Mittlerweile hatte eine zur Erkundung der Situation in die Polinnenbaracke ausgeschickte Kommission berichtet, dass einige „knackige“ junge Polinnen bereit seien herüberzukommen und dass die Soldaten, die sie bewachten, gegen die Übergabe von zwei Kartons Wein auch willens seien, ein Auge zuzudrücken und die Mädchen gehen zu lassen. Allerdings würden die Soldaten keinen Herrenbesuch in der Baracke dulden, geschweige irgendwelche Gesetzlosigkeiten. Dieses Verhandlungsergebnis wurde sofort akzeptiert und ein Bonze mit zwei Kartons Wein zur Baracke hinübergeschickt, um die Mädchen zu holen.

In der Zwischenzeit durfte Hans Jörg seine Wurfkünste an Herrn Weiß ausprobieren. Hans Jörg war ein Athlet, wie er im Buche steht: Zehnkämpfer und Handballspieler. Er war ein hohes Tier in der HJ, Parteimitglied und Hilfspolizist. Er war in dieser Eigenschaft auch mit der Bekämpfung von Sabotageakten und zum Schutz vor möglichen Rebellionen der sich in Überzahl befindlichen ausländischen Gefangenen beauftragt. Hans Jörg kehrte seine Polizeigewalt aber nie hervor, lief auch nie mit einem Revolver, wie es andere Werkschutzleute taten, herum und half seinen Eltern mehr bei der Führung der Fabrik und der termingerechten Erledigung ihrer Aufträge, als dass er die Gefangenen schikaniert hätte.

Hans Jörg trat im Gegensatz zu mir kühl und selbstbewusst in Aktion. Er ließ sich erst gar nicht die faulen Tomaten andrehen, sondern nahm die grünen, zielte und warf, ohne sich im Geringsten um das Kommando des alten Landsknechts zu kümmern, und traf mit drei Würfen den Apfel dreimal, ohne dass Herr Weiß auch nur den geringsten Spritzer abgekriegt hätte. Die markigen Schreier waren von diesem Kunststück mehr als verblüfft, aber da Hans Jörg einer der ihren war, wurde seine Leistung überschwänglich gefeiert, was dieser auch geduldig über sich ergehen ließ. Als ihm dann aber dieselbe Offerte gemacht wurde wie mir, lehnte er ruhig, aber entschieden ab, da ihn morgen ein arbeitsreicher Tag erwarte, und zog mit Herrn Weiß, der sich durch seine Tapferkeit Respekt verschafft hatte, und seiner Schwester ab. Ich konnte bleiben, weil mein Vater inzwischen zurückgekommen war, um bei nächster Gelegenheit den in jedem Sinne „außerordentlichen Parteitag“ so bald wie möglich zu beenden.

Mittlerweile war der Bonze mit drei blutjungen, etwa 16 bis 18 Jahre alten Polinnen zurückgekommen. Andere Polinnen hatten die „Einladung“ abgelehnt und es vorgezogen, ins Bett zu gehen, um sich von den Strapazen der Arbeit auszuruhen. Die Enttäuschung des „außerordentlichen Parteitages“ über diese magere Ausbeute seiner Bemühungen war natürlich groß. Und dem Bonzen, der die Polinnen geholt hatte, wurden wenig schmeichelhafte Komplimente in Bezug auf sein Verhandlungsgeschick und seine Virilität gemacht. Dies machte den Bonzen so wütend, dass er seine Hose herunterließ, was die Zuschauer so sehr ablenkte, dass sie in ein erneutes Gelächter ausbrachen und ihre Bemerkungen unterließen. Obwohl der Bonze seine hintere und vordere Unaussprechlichkeit sehr schnell wieder verhüllte, war doch der Bann der Befangenheit bei den jungen Polinnen, die in ein irres Gekicher ausbrachen, gebrochen.

Die führenden Persönlichkeiten der Region wandten sich dann auch ohne weitere Umstände den drei Spatzen zu, die sie in der Hand hatten, statt den Tauben auf dem Dache nachzutrauern, die nicht erschienen waren. Ein Grammophon war plötzlich da, Schallplatten tauchten auf und Musik erklang. Dem alten Landsknecht fiel ein Spiel ein, das scheinbar das Defizit an Frauen ausgleichen sollte, in Wirklichkeit aber zum Anheizen und zur Vorbereitung der geplanten Orgie dienen sollte. Frauen und Männer sollten sich oben frei machen und sich die Augen zubinden. In diesem Zustand sollten sich Männer und Frauen gegenseitig betasten, und wer hierdurch die Identität des Partners herausfand, durfte mit ihm tanzen. Ich muss zugeben, dass dies ein sehr reizvolles Spiel war, was immer wildere Formen annahm.

Zu der für damalige Verhältnisse heißen Jazz-Musik von Glenn Miller und Louis Armstrong, die überdies noch den Reiz des Verbotenen hatte, torkelten die Genossen durch die Fabrikhalle, fielen hin, wenn sie einen Rock erwischt hatten und dieser durch Flucht seiner Besitzerin den Händen entglitt, oder wälzten sich mit ihrer Beute auf dem Boden, wenn sie ihnen nicht entkommen konnte. Trotz ihrer natürlichen Fluchtimpulse wurden die jungen Mädchen mehr und mehr erregt und sie tanzten sich mit immer schneller hämmernden Füßen in Ekstase.

Der Lärm wurde größer und größer, die Wildheit der Frauen und Männer immer hemmungsloser. Das laute Getümmel rief meinen Vater wieder auf den Plan. Der Landsknecht war trotz seines nicht mehr jugendlichen Alters besonders entfesselt und wollte seine Beute sogar ins Büro meines Vaters abschleppen. Dieser wollte aber vermeiden, dass die Veranstaltung völlig aus dem Ruder lief, und beschloss dies zu verhindern. Er kippte sich einen kräftigen Schluck Wein aus einer herumstehenden Flasche in die Kehle und übertönte dann das Gegröle: „Ja seid ihr denn alle verrückt geworden! Ihr seid schlimmer als die Bürger von Sodom und Gomorrha! Der Führer des Weltgeschehens sollte mit Blitz und Feuer zwischen euch fahren! Die Erde sollte sich auftun und euch verschlingen!“ Das Wort „Führer“ tat sofort seine wohl berechnete Wirkung. Die meisten rissen sich die Binden von den Augen und versuchten Haltung anzunehmen, während mein Vater in seiner Philippika fortfuhr. „Ist das eine würdige arische Parteifeier oder ein Hexensabbat des Untermenschentums mit artfremder Musik und rassenschänderischem Umgang?“, fragte er erbost den alten Landsknecht.

„Wir sind dreimal sieben und wissen, was wir tun. Wenn Sie diese harmlose Vergnügung verurteilen, haben Sie keinen Humor!“, muckte dieser auf. „Was, dreimal sieben“, fiel mein Vater ihm ins Wort und war mit ein paar Sätzen bei dem Grammophon und den Schallplatten, die er alle mit einer konfiszierenden Gebärde in die Hand nahm. „Dies ist musikalische Feindpropaganda“, schimpfte er weiter. „Glenn Miller und Louis Armstrong! Das ist Musik für die alliierte Truppenbetreuung! Das deutet auf Kollaboration mit dem Feind! Wo haben Sie die Platten überhaupt her? Von Ihren amerikanischen oder englischen Freunden? Wenn ich diesen Sachverhalt zur Anzeige bringe, sind Sie geliefert. Ihnen droht die Todesstrafe. Zudem schwächen Sie die Arbeitskraft meiner Arbeiterinnen und Arbeiter durch diese nächtliche Orgie. Von Sachbeschädigung an Geräten der Rüstungsindustrie, von Sabotage des Nachschubs für unsere Frontsoldaten ganz zu schweigen. Auch der gemeine Tomatendiebstahl im Garten unseres Arbeitgebers wird geahndet werden und die mutwillige Verschmutzung unserer Fabrikhalle!“

Die Bonzen waren plötzlich stocknüchtern. Sie hatten deutliche Angst, dass mein Vater seine Drohungen wahr machen könnte. Dieser wollte aber nur die „Feier“ beenden und benutzte die erbeutete „Konterbande“ als Druckmittel. „Wenn Sie jetzt nicht innerhalb von zehn Minuten angezogen sind und in weiteren zwanzig Minuten die Halle gereinigt und verlassen haben, werde ich meine Drohungen wahr machen“, grollte er. Aber er fügte auch beruhigend hinzu: „Ansonsten will ich noch einmal ein Auge zudrücken. Nur die Platten behalte ich als Beweismaterial.“ So schnell habe ich Parteibonzen nie wieder sich bewegen sehen wie diese Genossen der nächtlichen Feier. Jedenfalls bis Kriegsende nicht mehr, als sie jedes nicht niet- und nagelfeste Fahrzeug klauten, um schleunigst aus der Region zu verschwinden, in der sie sich durch schikanöses Verhalten maßlos unbeliebt gemacht hatten.


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