Читать книгу Häuschen in der Grube - Jana Auerswald - Страница 7
ОглавлениеKrisenstimmung
Ich hörte sie, noch bevor ich sie sah. Gerade kehrte ich mit den Kindern vom Einkaufen nach Hause zurück, da ertönte das Brüllen eines schwer verletzten Elefanten aus Richtung unseres Gartens.
Ich stellte den Wagen vor der Garage ab, fuhr das Fenster hoch und stieg aus. Dann befreite ich die Kinder aus ihren Gurten, wir kletterten über ein verrostetes und verbeultes Fahrrad, das jemand achtlos fallen gelassen hatte und hasteten gemeinsam hinter unser Haus, wo der Lärm herkam.
Im angrenzenden Garten erblickte ich Theodor, unseren siebzigjährigen Nachbarn, wie er durch die Gegend stakste, ein Saxofon malträtierte und ihm quälende Töne entlockte. Dabei warf er immer wieder ekstatisch Kopf, Arme und Instrument in die Höhe, als wolle er den Musikgott um Gnade anflehen – was ich an seiner Stelle unbedingt getan hätte. Begleitet wurde das Spektakel von einer heulenden E-Gitarre, die von seiner gleichaltrigen Frau geschunden wurde. Thekla, ihre flammend roten Haare hochgesteckt zu einem Adlernest beachtlicher Größe, gab sich ebenso verzückt dem Konzert hin wie einige im Garten herumlungernde Gleichgesinnte, die Hochprozentiges aus Flaschen tranken, rauchten und mit den Köpfen nach einer nicht vorhandenen Melodie wippten. Dabei waberte mir ein Geruch entgegen, der mich an einen Campingplatzurlaub vor über zehn Jahren in Amsterdam erinnerte.
Thekla hatte uns erspäht, ließ die Gitarre sinken und winkte mich herbei. »Sie! Kommen Sie mal her«, schrie sie und grub mit einer Hand in den Taschen ihres wallenden Gewandes.
Auch Theodor legte eine künstlerische Pause ein, der Lärm erstarb.
Thekla streckte mir ihre Hand entgegen, kaum dass wir uns an der Hecke gegenüberstanden. »Sehen Sie das hier?« In ihrer Handfläche lag ein schmutziges Ei – nicht größer als das einer Wachtel.
»Das ist ein Ei«, sagte ich verwundert.
»Ei, wer hätte das gedacht, oder?«, schnarrte sie. »Das haben mir Ihre Kinder an den Kopf geworfen, gestern, als ich auf der Gartenliege entspannen wollte. Das ist Körperverletzung! Ich kann so etwas nicht dulden!«
Prüfend sah ich nacheinander meine Kinder an, die alle drei unschuldig aus der Wäsche schauten. »Aber, ich kann mir überhaupt nicht vorstellen …«
»Was Sie sich vorstellen, ist mir egal!«, fiel Thekla mir barsch ins Wort. »ICH stelle mir vor, dass ICH in meinem Haus und in meinem Garten meine Ruhe habe. Bringen Sie das Ihren Kindern endlich bei.«
»Na hören Sie mal!«, blaffte ich zurück. »Woher wissen Sie denn, dass das meine Kinder waren?«
Thekla musterte mich aus kalten Spinnenaugen. »Wer soll es sonst gewesen sein?«
»Wenn Sie so fragen: Jeder hätte einen Grund dazu!«
Sie schnappte nach Luft. »Das ist eine Frechheit! Das lasse ich mir nicht bieten! Wenn überhaupt, kommen nur Kinder auf so eine idiotische Idee!«
»Sie können uns gar nichts beweisen!«
»Ich sage Ihnen eins: Wenn das noch einmal passiert, rufe ich die Polizei. Und …«, sie hackte mit ihrem Hexenfinger in Richtung der Kinder, »schreit gefälligst nicht dauernd so herum. Dieser Lärm ist nicht zum Aushalten!«
Das war zu viel. »Was nicht zum Aushalten ist, ist der Lärm, den Sie veranstalten!«, schrie ich.
Doch Thekla ignorierte mich, hatte sich umgedreht und war erhobenen Hauptes davonstolziert.
Ich seufzte. »Kommt, lasst uns reingehen.«
Ich schloss den Kindern die Haustür auf, kehrte zum Wagen zurück und trug die Einkäufe ins Haus. Dort angekommen nahm ich mir meine drei Sprösslinge vor. »Ganz ehrlich: Wer von euch war das mit dem Ei?«
»Ich nicht, Mama, die spinnt doch! Die ist voll bescheuert!«, sagte mein zehnjähriger Sohn Ramón.
»Ich auch nicht – ich schwörʼs«, beteuerte Manuel, sein achtjähriger Bruder.
Meine Tochter Leonie, mit fünf Jahren die Jüngste, schüttelte den Kopf, dass ihre blonden Locken wippten. »Die ist eine blöde Kuh«, sagte sie trotzig.
»Also war es niemand.«
Einvernehmliches Nicken.
Wer Kinder hat, der kennt ihn: NIEMAND. Fragt man, wer auf die brillante Idee kam, die Limonadenflasche im Tiefkühlschrank zu lagern, bis sie platzte, war es NIEMAND. Will man wissen, wer das Versteck mit den Süßigkeiten geplündert hat, war es NIEMAND. Und garantiert NIEMAND meldet sich, wenn man in die Runde fragt, wer den Tisch deckt oder den Müll rausträgt. Und da sich kein Schuldiger in der Eiersache feststellen ließ, bekamen meine Kinder und NIEMAND eine Generalstandpauke.
Die drei verzogen sich in das Kinderzimmer und ich schaltete die Kaffeemaschine ein. In diesem Moment heulte die E-Gitarre erneut auf. Seufzend ließ ich mich auf einen Küchenstuhl sinken und sah aus dem Fenster. Die Sonne strahlte, mitten im März schien aus heiterem Himmel der Frühling einzukehren. Es war ein herrlicher Tag, doch Thekla hatte mir gründlich die Laune verdorben.
Solche Kleinkriege waren beinah an der Tagesordnung, sodass mein Mann und ich schon länger über einen Umzug nachdachten. Die Nachbarn trieben uns in den Wahnsinn: Theodor und Thekla, die sich aufspielten, als lebten sie allein auf dieser Welt. Und ein pensionierter Lehrer an der anderen Grundstücksseite, der es als seine Aufgabe ansah, als Dauernörgler die Einhaltung des geltenden Nachbarschaftsrechts zu überwachen. Er protokollierte, wie lange wir mit unseren Gästen auf der Terrasse saßen und zögerte nicht, die Polizei zu rufen und Anzeige wegen Ruhestörung zu erstatten, wenn wir nicht auf die Minute zur vorgeschriebenen Nachtruhe im Haus verschwanden. Er hielt seinen Rasen akkurat in Schach, die Hecke im exakten Grenzabstand wirkte wie auf dem Reißbrett entworfen. Kein Zweig wuchs wild. Kein Grashalm war zu lang. Alles hatte seine Ordnung.
Es war erst eine Woche her, da hatte ich ihn vom Fenster des Kinderzimmers aus erblickt, wie er auf der Gartenleiter gestanden und mit einer Astschere Teile unseres Kirschbaumes gekappt hatte, der dicht an der nachbarschaftlichen Grenze wuchs. Gerade sank schwerfällig ein Ast neben seiner Leiter auf den Boden. Seine Antwort, als ich den Nachbarn dann zur Rede stellte? Unser Wildwuchs verschatte ihm alles und müsse einmal ordentlich gestutzt werden. Außerdem solle ich ihm dankbar sein. Wütend war ich zum Joggen aufgebrochen, und als ich zurückgekehrt war, hatte der arme Baum ausgesehen wie ein einseitig geschorenes Schaf. Dieser Nachbar hatte an allem etwas auszusetzen, nur nicht am Lärm, den Theodor und Thekla veranstalteten. Vermutlich lag das daran, dass er fast taub war.
Wenigstens gab es unter den Nachbarn noch Oma Liese: Sie herzte unsere Kinder jedes Mal, wenn sie den Weg durch ihren Garten nahmen – eine Abkürzung zur Schule und zum Kindergarten.
Ich drückte den Knopf der Maschine, die einen Kaffee in die Tasse fauchte, und fing an, die Einkäufe in den Küchenschränken zu verstauen. Plötzlich: ein Poltern, ein Schrei. Ich ließ alles stehen und rannte die Treppe nach oben in das Kinderzimmer.
»Mama, die Polizisten haben meine Piraten verhaftet!«, rief mir Manuel entgegen, der in der Ecke des Zimmers saß und eines seiner Piratenschiffe fest umklammert hielt, auf das seine Tränen tropften. »Die Polizisten geben sie nicht mehr frei!«
Die verhaftete Piratenbande war mit Paketband am Bettpfosten fixiert. Ramón war eben dabei, trotzig die Kommandozentrale der Polizei aufzubauen, die offenbar durch einen Tritt seines Bruders bei der gescheiterten Befreiungsaktion verwüstet worden war.
»Was ist los?«, fragte ich ihn. »Warum sind die Piraten gefangen?«
»Die haben die Polizeistation überfallen! Einfach so!«
Ich seufzte. »Gib sie bitte wieder frei. Du siehst doch, dass dein Bruder weint!«
»Mir doch egal! Der ist selber schuld.«
»Und wenn ich dir helfe, alles wieder aufzubauen?« Ich kniete mich nieder und half ihm dabei, die Gefängniszelle neben der ausbruchsicheren Mauer festzustecken, in der ich außer einem schwerbewaffneten Polizisten mit Vollbart noch mehr inhaftierte Piraten fand.
Widerwillig gab mein Sohn nach. Er zog die Bastelschere aus dem Schulmäppchen, schnitt die Klebefesseln der Piraten mit einem Ruck durch und warf die befreiten Geiseln seinem Bruder vor die Füße. Mit »Ich will endlich ein eigenes Zimmer!« polterte er die Treppe hinunter und ließ die Haustür krachend ins Schloss fallen.
Manuel hockte noch immer schluchzend in der Ecke und knibbelte mit seinen Fingern das Paketband von den Figuren ab.
»Weißt du was?«, sagte ich. »Komm mit ins Wohnzimmer. Dort kannst du in Ruhe spielen.«
Er nickte, wischte sich mit dem Ärmel die Tränen von der Wange und lud die Mannschaft auf das Schiff. Dann schipperte ich die Passagiere treppab in das Erdgeschoss, wo Manuel neben dem Sessel den feuerspeienden Vulkan aufbaute und die Akteure in der Landschaft verteilte, denen Leonie wenig später mit ihrem Puppengeschirr einen imaginären Brei in die Münder schaufelte. Der zornige Bruder war inzwischen zurückgekehrt und hatte sich schmollend im Kinderzimmer verbarrikadiert.
Am Abend kam mein Mann von der Arbeit heim. Ich lag auf dem Sofa, trank einen Tee und hing meinen Gedanken nach. Mit einem Mal schepperte es, ich fuhr erschrocken hoch.
»Verdammt!«, schimpfte mein Mann.
Er war über den Vulkan gestolpert und hatte dabei die Piraten durch das Wohnzimmer gekickt, die, zur Nachtruhe gebettet, unter einem Geschirrtuch geschlafen hatten.
»Können die Kinder nicht oben spielen?«, knurrte er und ließ sich auf das Sofa fallen, wo er die Socke auszog und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Zehen rieb.
Ich setzte mich auf. »Du weißt genau, dass ein Zimmer zu wenig ist für drei Kinder. Wie soll das auf Dauer funktionieren?«
Mein Mann winkte ab. »Ich weiß es doch auch nicht.«
»Ich schon. Ich will, dass wir umziehen.«
Mein Mann sah mich an. »Das haben wir so oft diskutiert.«
»Genau. Und jedes Mal hatten wir die Hoffnung, dass es endlich besser werden würde. Wird es aber nie. Mir reicht es. Ich halte das nicht mehr aus hier. Ärger mit Theodor und Thekla gab es heute auch wieder. Es hat keinen Sinn, mit denen zu sprechen. Egal, was wir sagen, die hören nicht einmal zu. Ich kann sie nicht mehr ertragen. Und ich will auch nicht mehr.«
Während ich ihm von den Vorfällen des Tages berichtete, zog mein Mann die Socke wieder an und lehnte sich auf dem Sofa zurück.
»Vielleicht sollten wir einen Schlussstrich ziehen, bevor alles noch schlimmer wird«, sagte er. »Ich habe keine Lust auf Anwälte.«
»Und ich habe keine Lust mehr auf diese ständigen Streitereien der Kinder. Wir haben ein Platzproblem, ein gewaltiges sogar. Es wird Zeit, dass jedes Kind ein eigenes Zimmer bekommt.«
»Wir können uns ja mal umsehen, was es so an Häusern gibt«, sprach mein Mann, erhob sich, gab mir einen Kuss und humpelte mit »Ich geh nach oben, muss noch was arbeiten« die Treppe hoch.
Ich ging nach draußen auf die Terrasse, wo ich auf der Gartenbank in der Abenddämmerung dem Sonnenuntergang zusah. Da bemerkte ich eine Elster, die ein Ei von einer Gartenmauer stibitze – genauso eines, wie es Thekla mir unter die Nase gehalten hatte. Die Elster flog in den Himmel und ließ das Ei fallen, bevor sie herabstürzte und es erneut in den Schnabel nahm. Das wiederholte sie ein paar Mal, bis es krachend neben mir auf der Terrasse landete, zum Rasen kullerte und schließlich dort liegen blieb.
Die Elster gab ihr Spiel auf. Laut schnarrend flog sie in den Abendhimmel davon.