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Die Gräfin von Grossenborau
1867 –1886 »Konts Ruth«

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Früh an einem kalten Februarmorgen werden die Bauern in Großenborau vom Läuten der Kirchenglocken geweckt. Die meisten von ihnen eilen zum Hoftor des Gutshauses, wo die Hausdame, ein breites Lächeln auf dem Gesicht, bereits wartet. Seit Robert und Agnes, Graf und Gräfin von Zedlitz und Trützschler, als frisch getrautes Ehepaar in Großenborau einzogen, ist es das dritte Mal. Damals betrachteten die stolzen Dorfbewohner die neuen Herrschaften mit einer Mischung aus Hoffnung und Angst – Hoffnung, der neue Besitzer des alten Guts würde Reformen einführen, um so die kränkelnde Landwirtschaft zu retten, und Angst, er könnte dieser streng katholischen Gemeinde den evangelisch-lutherischen Glauben aufzwingen. Ihre Hoffnungen wurden bald erfüllt, ihre Ängste aber zerstreut. Großenborau hat noch immer ­sei­nen katho­lischen Priester. Unter der Aufsicht von Graf Robert wurde sogar die alte Fachwerkkirche renoviert und neu ausgestaltet.

Die Kirche, nur durch einen bescheidenen Friedhof vom Gutshaus getrennt, ist so nah, dass die Hausdame es nicht vermag, sich bei dem Glockengeläut Gehör zu verschaffen. Die Dorfbewohner jedoch sind geduldig – ein Charakterzug, der sich im Laufe der Jahrhunderte des Feudalismus in diesem alten Land entwickelt hat. Sie wissen, der Priester wird die Glocken erst verstummen lassen, wenn seiner Meinung nach eine hinreichend große Menschenmenge zusammengekommen ist.

Als die Glocken endlich schweigen, erhebt die Hausdame die Stimme. Mit der ihrer herausgehobenen Position in der Dienstbotenhierarchie des Hauses angemessenen Selbstsicherheit verkündet sie, es sei ihr eine Ehre, die Geburt eines kräftigen und gesunden Mädchens mitzuteilen. Ihr Name werde Ruth sein. Ein überraschtes Murmeln geht durch die Menge – Ruth, ein biblischer Name; wie ungewöhnlich, dass die schlesische Aristokratie einen Namen aus dem Alten Testament wählt! Dennoch, einige Jubelrufe ertönen aus der Menge, dann gehen die Männer an ihre Arbeit und die Frauen eilen nach Hause. An diesem Tag wird wenig gearbeitet werden, denn jeder im Dorf wird die Geburt auf die eine oder andere Weise feiern.

Einen Monat nach ihrer Geburt wird die kleine Komtess Ruth von Zedlitz und Trützschler von einem Kindermädchen auf die Taufe in der Familienkapelle vorbereitet. Für die Familien von Robert und Agnes sind Taufen, Hochzeiten und Begräbnisse mehr als nur religiöse Ereignisse, sie dienen auch dazu, die Bindungen zu festigen, die nicht nur Familien, sondern ihre ganze soziale Schicht zusammenhalten. Aus Schwentnig und aus Dannenwalde, aus Frankenstein, ­Altenburg und Frauenhain – von den großen Gütern Schlesiens, Thüringens und Brandenburgs – kommen die Tanten und Onkel, Vettern, Cousinen und Pateneltern am nahe gelegenen Bahnhof Freystadt an, wo sie vom Kutscher im Lan­dauer des Gutes abgeholt werden. Robert fährt persönlich zweimal die Strecke, zuerst, um die Gäste aus Dannenwalde, Agnes’ Eltern, abzuholen und ihnen zu versichern, dass ihre Tochter bei guter Gesundheit sei, und dann, um seinen Vater Karl Eduard aus Schwentnig willkommen zu heißen. Kaum sitzt der alte Graf im Wagen, erkundigt er sich schon nach dem Namen des Kindes. »Ruth«, antwortet sein Sohn. Karl Eduard ist verblüfft. Diesen Namen gab es noch nie in der Familie – warum also gerade jetzt? Bestimmt, jedoch freundlich erklärt Robert seinem Vater: »Du solltest noch einmal das Alte Testament und die Geschichte der Moabiterin Ruth lesen. Dies ist auch die Geschichte unseres Volkes – ›Treue bis zum Tode‹.« Der Vater verstummt, vielleicht weil er mit ihm übereinstimmt, vielleicht aber auch, weil er weiß, dass er kein Recht hat, sich hier einzumischen.

Der Pastor aus Freystadt ist in Begleitung seiner Frau mit der Kutsche gekommen, um den Taufgottesdienst abzuhalten. Für die meisten Pastoren in Preußen ist eine Taufe in der Aris­tokratie ein ganz besonders willkommenes Geschenk. Im Gegensatz zu den katholischen Priestern, die oft die zweit­ältesten Söhne polnischer oder österreichischer Aristokraten sind, stammen die protestantischen Pfarrer Preußens aus den kleineren und größeren Städten der Provinzen. Oft sind es Söhne von Kaufleuten oder schlecht bezahlten Lehrern. Pfarrer zu werden, ist also ein Schritt nach oben. Pfarrer an einer Kirche des Landadels zu sein, bedeutet jedoch ein isoliertes, spartanisches Leben auf dem Lande. Daher sind solche religiösen Festtage, an denen die Aristokratie zusammenkommt, willkommene und glanzvolle Abwechslung im Leben der Dorfpfarrer und ihrer Frauen. Auf den Pastor von Freystadt trifft das offensichtlich ganz besonders zu.

Heute wird in allen Öfen des großen Hauses Feuer entfacht und das größte Kaminfeuer brennt in der großen Festhalle, die zu Ehren des alten Grafen Karl Eduard in den Farben Schwarz und Gold der Familie Zedlitz geschmückt ist.

Außer dem Pastor, den Familienmitgliedern und den Pateneltern befindet sich noch ein weiterer, etwas unerwarteter Gast in der Festhalle, der manchen persönlich, jedoch allen dem Namen nach bekannt ist. Es ist Otto von Bismarck, Ministerpräsident von Preußen. Als Robert hörte, dass Bismarck kurz vor der Taufe auf Staatsbesuch in Schlesien sein würde, lud er seinen alten Freund kurzerhand ein und dieser nahm die Einladung an.

Otto von Bismarck steht dem preußischen König Wilhelm I. als sein engster innenpolitischer Berater von allen anderen Politikern am nächsten. Mit seiner Außenpolitik mach­te er Preußen zu einem ebenbürtigen Rivalen des Habsburger Reiches und Frankreichs unter Napoleon III. In den Kreisen der Zedlitz und Trützschler lässt allein das Erwähnen des Namens Bismarck die Herzen höher schlagen. Seine Anwesenheit bei der Taufe der kleinen Ruth verleiht diesem an sich schon bedeutenden Ereignis noch mehr Glanz.

Endlich betreten der Graf und die Gräfin mit ihren beiden Kindern Robert und Lisa an der Hand die Halle. Ihnen folgen Pate und Patin mit der friedlich schlummernden Ruth auf dem Arm, einem kleinen Bündel, in ein langes Taufkleid ­gehüllt, das vor ihr schon mindestens zehn Kinder aus drei Generationen bei der Taufe getragen haben. Die Gäste treten zur Seite und machen der kleinen Prozession den Weg frei in die Familienkapelle. Der Pastor, die Bibel in der Hand, eröffnet die Zeremonie mit einem Bittgebet und einer Lesung aus dem Neuen Testament. Danach sprechen zuerst die Eltern und dann die Pateneltern das Taufgelübde. Der Pastor taucht seine Hand in das Taufbecken und berührt die Stirn des Kindes. »Ich taufe dich Ruth … im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Die Zeremonie endet mit einer Segnung und erst nach dem Amen fängt Ruth an zu weinen. Ein Kindermädchen führt die beiden anderen Kinder aus der Kapelle hinaus. Das Kind wird der Mutter in die Arme gelegt, nun beruhigt es sich wieder.

Einer nach dem anderen kommen die Gäste zum Gratulieren, je nach Art des Verhältnisses mit einem Händedruck, einer Umarmung oder einem Kuss. Der Ministerpräsident, der ja nicht dem engeren Familienkreise angehört, möchte sich hier nicht ausschließen. Er ergreift behutsam die Hand der kleinen Ruth, befreit sie aus den Rüschen des Tauf­kleides und drückt einen Kuss darauf. Auf den Gesichtern der stolzen Eltern und Großeltern steht Überraschung und Freude. Diese Taufe ist wirklich anders als all die vorausgegangenen.

Wenn Ruth alt genug ist, um es zu verstehen, wird man ihr von diesem bemerkenswerten Ereignis erzählen. Sie wird sehr stolz sein auf die Tatsache, dass sie von dem großen Otto von Bismarck einen Kuss erhielt. Sie wird auch glauben, dieser Kuss habe ein tieferes Verständnis der Politik in sie hineingelegt, was man, wie spätere Ereignisse zeigen werden, durchaus glauben mag.

Zwei Jahre nach diesem Fest folgt die nächste Taufe, diesmal ist es Marie Agnes, die den Rufnamen Anni erhält; wieder zwei Jahre später folgt Stefan und nach zwei weiteren Jahren wird Ehrengard getauft. Insgesamt schenken der Graf und die Gräfin sechs Kindern das Leben, die alle im herrschaftlichen Schlafzimmer, das auf der Gartenseite des großen Gutshauses liegt, das Licht der Welt erblicken. Nur eines dieser Kinder wird den Untergang Großenboraus erleben.

Die Kinder wachsen zunächst unter der Obhut eines französischen Kindermädchens im turmartigen Kinderzimmer über dem Garten auf. Es wird nur Französisch gesprochen. Später wird das Spielzimmer zum Schulzimmer und in Großenborau zieht ein Privatlehrer ein. Er bekommt eines der Zimmer zum Hof hinaus, wohnt den Morgen- und Abendgebeten bei und nimmt mit der Familie an der langen Tafel die Mahlzeiten ein. Das sonnige Turmzimmer dient nun dem Erlernen der Grammatik, Arithmetik und Geschichte.


Komtess Ruth von Zedlitz und Trützschler

Ruth entwickelt sich zu einem aufgeweckten, etwas eigensinnigen, aber immer liebenswerten Mädchen. Sie verbringt Stunden beim Spiel mit ihren Puppen im Landauer der Familie, der im Stall auf der anderen Seite des Hofes steht. Dem Kutscher ist es ein Vergnügen, seine Arbeit zu unterbrechen und je nach Anweisung der kleinen »Konts Ruth« das Verdeck nach vorne oder nach hinten zu verstellen, was davon abhängt, ob sie gerade Froschkönig oder Dornröschen spielt. Oft bringt Ruth dem Kutscher Blumen oder Zweige aus dem Garten. Er ahnt nicht, dass sie ihm in ihren Märchenspielen Charakterrollen zugedacht hat.

Auf diese Weise lebt Ruth ihre Fantasien aus, in denen sie träumt, eines Tages werde sie ein schöner Prinz holen und auf ein Schloss irgendwo in den weiten Ländereien Preußens bringen. Freilich kommt es ihr nie in den Sinn, dass sie ja schon das Leben einer Märchenprinzessin führt.

Mit dem Mut einer Frau

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