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Die Frau des Landrats
1886–1897 Besuch in Kieckow

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Februar. Die Hochzeitsreise beginnt am Bahnhof von Oppeln. Mit dem Schnellzug fahren Ruth und Jürgen nach Breslau, von dort über Posen nach Berlin. In der Berliner Wohnung von Jürgens Vater wird Ruth mit ihrer neuen Rolle als Schwägerin von Elisabeth und Anton, Jürgens Geschwistern, konfrontiert. Die beiden lassen sie eine gewisse Zurückhaltung spüren und Ruth fragt sich, woran das liegen mag. Es ist die erste Enttäuschung in ihrer jungen Ehe, wodurch ihre seit dem Hochzeitstag anhaltende Begeisterung etwas gedämpft wird.

Ruths anfänglicher Respekt Vater Kleist gegenüber entwickelt sich schnell zu einer immer tiefer werdenden Zuneigung, was sie selbst überrascht, denn ihr Schwiegervater besitzt weder die Flexibilität noch den Optimismus, den sie an ihrem eigenen Vater so liebt. Ihr Schwiegervater gilt als Konservativer unter den Konservativen. Er sieht mit eher negativen Erwartungen in die Zukunft – sowohl die Politik und die Religion als auch private Familienangelegenheiten betreffend.

Vor 40 Jahren hatten Vater Kleist und Otto von Bismarck ein kleines Zimmer in einer bescheidenen Pension in Berlin geteilt. Sie waren beide Aristokraten und Mitglieder des preu­ßischen Herrenhauses. Bismarck hatte gerade Johanna von Puttkamer, Hans Hugos Nichte, geheiratet, sodass Hans Hugo von Kleist zu »Onkel Hans« für seinen Freund und Altersgenossen wurde. Damals war Bismarck noch ein Gegner der liberalen und nationalistischen Ideen, die sich in Preußen, aber auch in anderen deutschsprachigen Ländern und fast in ganz Europa schnell ausbreiteten, er war also mit Hans Hugo von Kleist noch einer Meinung. In dieser Zeit schien es Bismarck in den Augen von Hans Hugo an der richtigen Frömmigkeit zu fehlen, was Hans Hugo durch tägliche Gebete und Gespräche mit ihm in der gemeinsamen Unterkunft zu verbessern suchte.

Die Herkunft und die Lebenseinstellung dieser beiden Landbesitzer aus Pommern hatten einen gemeinsamen Ursprung. Ihre Übereinstimmung ging so weit, dass Bismarck seinen noch ledigen Onkel bei der Wahl seiner Braut – Gräfin Charlotte zu Stolberg und Wernigerode – beriet, ja weit mehr noch, er schritt sogar ein, als Hans Hugo von Kleist seinen Heiratsantrag so lange hinausschob, bis Komtess Charlotte als Probeschwester ins Diakonissenmutterhaus eingetreten war und kurz vor der Einsegnung als Diakonisse stand.

Im Laufe der Jahrzehnte verblasste Otto von Bismarcks preußische Grundhaltung, ganz zu schweigen von seiner Einstellung gegenüber Pommern. Er wurde zu einem immer stärkeren Verfechter eines expandierenden deutschen Reiches, nämlich des von ihm geschaffenen Nationalstaates. Als überragendem Politiker gelang es ihm, Feinde in Verbündete und Freunde in Gegner zu verwandeln, ganz nach Bedarf seiner politischen Zielsetzung.

In jenen Tagen zeigt sich in Vater Kleists Gesichtsausdruck ein gewisses Unbehagen, das selbst in glücklichsten Momenten nicht von ihm weicht. Ruth vermutet, seine Traurigkeit sei auf die Politik zurückzuführen, da allgemein bekannt ist, dass Otto von Bismarck Hans Hugo von Kleist und Gleichgesinnte öffentlich zu »Reichsfeinden« erklärt hat.

Ruths Mutmaßungen sind jedoch nur teilweise richtig. Die Sorge um die Zukunft seiner Heimat und seiner Län­dereien in Pommern beschäftigt Kleist in zunehmendem Maße. In schlaflosen Nächten grübelt er darüber nach, wie er seine Güter Kieckow und Klein Krössin seinem jüngeren Sohn vermachen könnte, ohne seine beiden anderen Kinder zu verletzen, die unverheiratet sind. Im preußischen Adel plant man für die zukünftigen, noch ungeborenen Generationen.

Am Ende ihres Aufenthalts in Berlin besteigen Ruth und Jürgen wieder den Zug und hoffen, nun etwas mehr Zeit füreinander zu finden. Die letzte Etappe ihrer Reise führt sie nach Köslin in Pommern, wo Jürgen seinen ersten richtigen Posten in der königlichen Verwaltung antreten wird. Von Berlin aus reisen sie in Richtung Nordosten, überqueren die Oder und fahren langsam von Ort zu Ort in Richtung Ostsee. Hier gibt es keine Schnellzüge, denn das Land ist nur dünn besiedelt – ein deutliches Zeichen, dass Pommern nicht mit Schlesien vergleichbar ist. Die Landschaft unterscheidet sich sehr von der Umgebung Großenboraus mit den hübschen Dörfern, den sauberen Häusern mit den rot gedeckten Dächern und gepflegten Gärten. Allein wäre Ruth vielleicht versucht gewesen umzukehren, aber mit Jürgen an ihrer Seite würde sie ohne zu zögern in eine Wüste ziehen, was Pommern nun wirklich nicht ist!

Als Ruth und Jürgen mit dem Zug in Köslin ankommen, ist es kalt und düster, die Stadt liegt unter einer Schneedecke begraben. Die winterliche Stimmung verstärkt noch die graue Monotonie. Selbst das Haus, in das Jürgen seine Braut bringt, ist äußerlich, auch für niedrigste Ansprüche, trostlos – die Wohnung befindet sich über einem kleinen Geschäft. Ruth und Jürgen erreichen ihre Räume im zweiten Stock des schmucklosen Steinhauses über eine dunkle Treppe. Die Zweifel, die Ruth über ihr neues Heim am Ende der Treppe gehabt haben mag, verfliegen jedoch schnell. Jürgen öffnet mit Schwung die Tür und als Ruth die Wohnung betritt, steht vor ihr eine ehemalige Spielgefährtin ihrer Kindheit aus dem Dorf in Großenborau in einem frisch gestärkten Dienstmädchenkleid. Voller Freude umarmt Ruth die junge Frau, vergessend, dass Herrin und Bedienstete immer eine gewisse Distanz wahren sollten.

Ruths Blicke wandern über die frisch gestrichenen und renovierten Räume, die ihr neues Heim sein werden. Wie jedes der sechs Zimmer wurde auch der Eingangsraum von Jürgen speziell für seine junge Frau eingerichtet – zwar spärlich, aber hier und dort befinden sich kleine Dinge und Erinnerungsgegenstände aus Kieckow. Den Fremdenführer in einem touristischen Bergdorf nachahmend, erklärt Jürgen mit wichtiger Stimme, dies sei der »Berliner Salon«, eine Kombination von Ess- und Wohnzimmer, wie sie in den großen, modernen Wohnungen in Deutschlands Hauptstadt jetzt üblich ist. Eingerichtet ist dieser Salon unter anderem mit einem prächtigen alten Büfett mit Bleiglastüren; dahinter entdeckt Ruth im Licht der Wandleuchter funkelnde Kristallgläser. Sie waren unter den Hochzeitsgeschenken, die alle vorausgeschickt worden waren. Es besteht kein Zweifel, das Dienstmädchen musste während seiner ersten Tage in Pommern sehr emsig gearbeitet haben. Am Arm führt Jürgen Ruth in das kleine Arbeitszimmer, dort ist ein Schreibtisch ganz für sie allein. Dann geht es weiter in einen sonnigen Salon, wo sie ihren Nachmittagstee einnehmen werden. Zurück im Berliner Salon treten sie durch die halb geöffneten Doppeltüren in das etwas dunkler gehaltene Herrenzimmer mit den schweren Aschenbechern und der Zigarrenkiste und weiter in das Schlafzimmer mit dem großen Doppelbett und einem riesigen Kleiderschrank. Mit den Worten: »Dies ist unser Raum«, nimmt Jürgen seine frisch angetraute Frau in die Arme.


Ruth und Jürgen von Kleist auf ihrer Hochzeitsreise

An ihrem ersten Sonntag in Köslin bereitet sich Ruth auf den lang erwarteten Besuch in Kieckow vor. Trotz des Neuschnees und der eisigen Kälte lässt Jürgen die Kutsche vom Gut nach Köslin kommen, um seine junge Frau und ihn zum ersten Besuch ihres späteren Zuhauses abzuholen. Die Entfernung beträgt 36 Kilometer, sodass der Kutscher noch bei Dunkelheit aufbrechen muss. Einige Stunden später stehen Pferde und Kutsche vor dem Haus in Köslin bereit.

Das junge Paar – Ruth in Pelzmütze, Mantel und Muff, Geschenken ihres Vaters, die sie im Norden vor der Kälte schützen sollen – besteigt die Kutsche, die sich sogleich in Richtung Süden in Bewegung setzt. Voller Temperament preschen die Pferde durch die kalte Morgenluft, die jungen Eheleute sind warm in eine Felldecke gehüllt.

Der Weg von Köslin nach Kieckow führt durch Belgard, das alte Zentrum der Kleistschen Ländereien. Man spürt deutlich, wie sehr sich Jürgen hier zu Hause fühlt. Er beginnt, Ruth aus seiner Familiengeschichte und den noch heute starken, aus grauer Vorzeit stammenden Familienbindungen zu erzählen. Die Familie geht zurück auf einen Conrad Klest, der erste Kleist, der sich hier im 13. Jahrhundert niederließ, als Masowien noch dem polnischen Königreich angehörte.

Jürgen fährt mit seinen Schilderungen auch fort, als die Kutsche die lebhafte Stadt Belgard, Sitz der Kreisverwaltung, erreicht. Im 16. Jahrhundert wurde praktisch der gesamte Kreis von der einen oder anderen Linie der Kleists beherrscht. Bis zum 18. Jahrhundert war das Land weiter aufgeteilt worden; die Dörfer und Güter Muttrin, Villnow, Tychow, Schmenzin, Kieckow und Krössin blieben aber allesamt im Besitz der Familie Kleist. Schließt man auch die weiblichen Nachfahren Klests aus Belgard in die Nachforschungen mit ein, kann man mit großer Sicherheit annehmen, dass alle Landbesitzer dieses Kreises auf irgendeine Weise mit dem slawischen Einwanderer Conrad Klest verwandt sind.

Hinter Belgard wird die Fahrt angenehmer und die Landschaft einladender. Jürgen erzählt weiter von früher. Der Großvater, Hans Jürgen von Kleist, war im Besitz von drei Belgarder Gütern: Kieckow, Klein Krössin und Groß Tychow, insgesamt 24 000 Morgen Land. Als der König ihn zum Landrat des Kreises Belgard ernannte, war er der größte Landbesitzer der Gegend. Kaum im Amt, begann der Großvater mit dem Bau befestigter Straßen, die alle Güter des Kreises und Belgard miteinander verbinden sollten. Diese neuen Straßen sollten auf beiden Seiten von Bäumen – Linden, Buchen und Ulmen – gesäumt werden zum Schutz gegen die von der Ostsee kommenden eisigen Winterwinde.

Die von Hans Jürgen von Kleist angelegten Alleen unterscheiden diesen Landstrich deutlich von anderen Landschaften Deutschlands. Selbst die 50-jährige Benutzung durch Pferdegespanne konnte den stabil gebauten Straßen kaum etwas anhaben. Und erst die Bäume! Nach einem halben Jahrhundert sind die Baumkronen von Großvaters Linden zu einem schützenden Dach zusammengewachsen, das selbst ohne Blätter der Kutsche aus Kieckow guten Windschutz bietet.

24 Kilometer hinter Belgard erscheint das Schloss von Groß Tychow am Horizont, jetzt das Zuhause von Jürgens Vetter und Cousine zweiten Grades, Graf und Gräfin von Kleist. Früher lebte dort einmal sein Großvater Hans Jürgen, der nach dem Tod seiner ersten und in der Folge auch seiner zweiten Frau mit seinen fünf Kindern nach Kieckow gezogen war. Dort heiratete er ein drittes Mal – die Witwe Auguste von Borcke, Jürgens Großmutter. Hans Hugo von Kleist, Jürgens Vater, war das einzige Kind, das aus dieser Ehe hervorging und in Kieckow das Licht der Welt erblickte. Er erbte das Gut sowie das benachbarte Klein Krössin. Wie schon sein Vater zuvor wurde auch Hans Hugo von Kleist eines Tages zum Landrat des Kreises Belgard ernannt. Im Gegensatz zu Hans Jürgen jedoch machte Hans Hugo von Kleist Karriere in der preußischen Verwaltung und entwi­ckelte sich zu einer einflussreichen Persönlichkeit in der preußischen Politik. Jürgen äußert Ruth gegenüber seine Enttäuschung darüber, dass Kieckow und Klein Krössin in den letzten Jahrzehnten gelitten haben. Seiner Erfahrung nach gehe eine längere Abwesenheit des Gutsbesitzers meis­tens mit einer Vernachlässigung der Landwirtschaft und einer Verschlechterung der Stimmung im Dorf einher. Von diesen Beobachtungen sagt er seiner Frau jedoch nichts.

Drei Kilometer südlich von Groß Tychow hält die Kutsche kurz an einer Kreuzung und biegt dann in einer Neunzig-Grad-Kurve nach links ab, um in ein Dorf zu gelangen. Die weiterhin gut ausgebaute Straße wird hier von Ahornbäumen gesäumt. Zur Linken liegen wie hingestreut ein Dut­zend bescheidene, strohgedeckte Holzhütten, in einer kleinen Senke im Norden erkennt man einen Stall sowie eine Kornkammer. Jürgen zeigt auf ein niedriges Fachwerkhäuschen dahinter, wo, wie er sagt, sein Gutsverwalter wohne. Dies ist also das Dorf Klein Krössin. Ruths Stimmung sinkt, als sie das Dorf der Kleists mit Großenborau vergleicht, aber sie beißt sich auf die Zunge, um nichts zu sagen, was ihren gutherzigen Mann verletzen könnte.

Auf ihrem Weg durch das Dorf begegnen sie einem Mann mit einem Kind, die ihnen beide zuwinken. Jürgen grüßt spontan zurück. Ruth gefällt das freundliche, breite Lä­cheln auf den Gesichtern und sie sagt sich, das Leben könne hier nicht so schlecht sein, wie es zunächst den Anschein erweck­te. Dem Kutscher fällt es immer schwerer, die Pferde im Zaum zu halten, da sie bereits den Stall wittern – es sind nur noch drei Kilometer und sie befinden sich bereits auf Grund und Boden von Jürgens Vater. Da kommen die ersten Gebäude von Kieckow in Sicht – ein Hühnerhaus, ein Kornspeicher, ein Schuppen zur Linken, dann die ersten Dorfhäuser zur Rechten, in der Ferne mehrere aus Ziegeln gebaute Ställe. Was Ruth jedoch nicht entdecken kann, ist die Brennerei, die normalerweise die Güter überragt und prägt. Auf Kleistschem Land gab es so etwas noch nie, und das wird auch in Zukunft so bleiben.

Aber wo befindet sich das Gutshaus? Kurz darauf, als die Kutsche links in einen überfrorenen Weg einbiegt, der auf beiden Seiten mit einer kahlen, ausgewachsenen Hecke eingefasst ist, taucht es auf. Jürgen drückt Ruth fester an sich und zeigt mit der anderen Hand auf die kahlen Büsche: »Warte nur bis zum Frühling, mein Liebling, dann werden die Fliederbüsche über und über blühen.« Offenbar ist ihm die Enttäuschung seiner Braut nicht entgangen.

Die Kutsche fährt in den offenen Hof des Gutshauses von Kieckow, eines einstöckigen Bauwerks mit steinernen Grundmauern. Das weitläufige Gebäude ist reich mit Stuck verziert, das kunstvoll entworfene Dach mit roten Ziegeln gedeckt – selbst die gewölbten kleinen Giebel über jedem Dachfenster in den Unterkünften der Dienstboten. Für Ruth ist dieses Dach die schönste Überraschung des Tages – nie hatte Jürgen erwähnt, dass Kieckow das hübscheste Dach habe, das sie je gesehen hat. Unter dem Dach befinden sich die Wohnräume der Familie. Das Zentrum des Hauses bildet die große Halle mit symmetrisch angeordneten, zweiflügeligen hohen Sprossenfenstern.

Der Wagen rollt die leicht steigende Anfahrt zum Eingang hinauf und hält unmittelbar vor dem verglasten Eingang. Der Kutscher springt vom Bock, doch kommt er einen Moment zu spät, denn Jürgen steht schon da, bereit, Ruth beim Aussteigen die Hand zu reichen. Während sie die Decke zurück­wirft und aus der Kutsche steigt, öffnen sich die Glastüren. Das Paar wird von der Hausdame mit einem freundlichen Lächeln, einem Knicks und festem Händedruck begrüßt.

Hans Hugo von Kleist lebt mit dem von Geburt an kränklichen Hans Anton und Elisabeth, auf deren Hilfe er stark angewiesen ist, hauptsächlich in Berlin. So kommt es, dass sich die Hausdame während der letzten Jahre meist allein in dem Haus aufhält. Vater Kleist ist nun 71 Jahre alt und die Bewohner von Kieckow wünschten, er käme wieder in sein Zuhause zurück. Das Dorf und die landwirtschaftlichen Betriebe haben sehr unter seiner langen Abwesenheit gelitten. Nie kann ein Pächter oder angestellter Verwalter die Anwesenheit engagierter Besitzer ersetzen.

Ruth durchquert die verglaste Veranda und betritt durch die massiven Holztüren die Eingangshalle von Kieckow. Im Inneren erscheint ihr alles vertraut, obwohl sie noch nie so weit oben im Norden war. Wie in jedem Gutshaus, das sie kennt, gibt es auch hier schwere Samtvorhänge, die im Winter gegen die bittere Kälte schützen. Genau wie zu Hause hängen im Salon Porträts von früheren Königen und treuen Vasallen an den Wänden, von denen die Landbesitzer abstammen.

Auf dem Tisch wurde bereits der Tee angerichtet, doch Ruth möchte sich nicht setzen, bevor sie nicht die anderen »Persönlichkeiten« in diesem Raum kennengelernt hat. Als Erster und Wichtigster ist da natürlich Friedrich der Große, zwar schon seit genau 100 Jahren tot, aber sehr wohl lebendig im Herzen eines jeden Preußen. Er wird auf der einen Seite von General von Borcke und auf der anderen Seite von General von Kleist flankiert, beides Jürgens Vorfahren.

Auf der gegenüberliegenden Wand sieht man Hans Jürgen, dreimal verheiratet, und seine letzte Frau Auguste, die Großmutter, an die sich Jürgen in Liebe erinnert. Wie doch die Vergangenheit und die Gegenwart ineinander übergehen, denkt Ruth, wenn man in einem alten Gutshaus aufwächst. Dann gibt es noch Porträts neueren Datums vom Vater, Hans Hugo von Kleist, und der Mutter, der verstorbenen Gräfin Charlotte. Sie trägt eine goldene Halskette mit einem großen schwarzen, goldumrandeten Kreuz, in dessen Mitte ein riesiger Amethyst sitzt. Ruth fragt, ob es dieses Kreuz wirklich gibt oder ob der Künstler seiner Fantasie freien Lauf gelassen hätte. Jürgen versichert ihr, seine Mutter habe immer, solange er zurückdenken könne, an Sonntagen und während der Fastenzeit dieses Kreuz getragen. Das Kreuz war ein Geschenk des Königs von Preußen an Jürgens Großvater, Graf Stolberg; nach dem Tod des alten Grafen ging das Kreuz an seine Tochter Charlotte, Jürgens Mutter. Im Laufe der Jahre erhielt das Kreuz mystische Kräfte in den Augen der Dorfbevölkerung von Kieckow, da die Mutter es immer auf ihrem üblicherweise dunklen Kleid trug, wenn sie Kranke oder Sterbende besuchte. In der Familie wird es heute noch das Stolbergsche Kreuz genannt. Derzeit gehört es Jürgens Schwes­ter Elisabeth. (Was Jürgen nicht weiß, ist, dass es die Dorfbewohner das Zauberkreuz nennen und dass sich Jung und Alt fragt, wer es nach Elisabeth tragen wird.)

Unter Charlottes Porträt steht eine Vase mit Birkenzweigen, deren Knospen sich gerade öffnen – die Hausdame hat sie offenbar dorthin gestellt. Kieckow trauert noch über den Verlust der Herrin, die das Kreuz getragen hat.

Endlich begeben sich Ruth und Jürgen zum Tee, der mit belegten Broten serviert wird. Es werden auch verschiedene Kuchen mit und ohne Früchte angeboten, wie es die Tradition seit Urzeiten gebietet. Jürgen besteht darauf, nicht zu viel Zeit zu verlieren, da er seiner Frau vor Anbruch der Dunkelheit jedes einzelne Zimmer aus der Welt seiner Kindheit zeigen möchte. Neben der Eingangshalle, der Bibliothek und dem Salon befinden sich die Privaträume der Familie und die große Festhalle, an die eine glasbedachte Terrasse angrenzt. Ruth nimmt sich vor, sehr viel Zeit auf der Terrasse zu verbringen, da sie eine schöne Aussicht auf den Wald von Kie­ckow bietet und auch an Regentagen geschützt ist. Als sie noch ein Kind war, sagte ihr der Vater, der Wald gebe einem Weisheit und Stärke; dieser Gedanke hat sich in ihr festgesetzt.

Die klamme Kälte und graue Monotonie dieses Februarnachmittags lasten jedoch weiter schwer auf der Stimmung der Besucherin. Sie würde zu gerne einige Veränderungen vornehmen, hier einen Vorhang entfernen, dort eine Tür öffnen, ein Möbelstück umstellen, ein anderes ersetzen. Ruth ist sich aber bewusst, dass sie sich zurückhalten muss, da sie nicht die Herrin von Kieckow ist. Bis Vater Kleist zu einer langfristigen Entscheidung kommt, ist Elisabeth, die sich seit dem Tod ihrer Mutter um das Wohl des Vaters und des Bruders kümmert, die Herrin. Dies ist also Elisabeths Haus. Ruth erinnert sich an die kühle Atmosphäre bei ihrem Zusammentreffen mit der Schwägerin – vielleicht sollte man es verstehen. Als Tochter eines Gutsbesitzers erzogen zu werden und dann nie Frau eines Gutsherrn zu werden, ist ein bitteres Los. Möglicherweise beantwortet das auch die Frage, warum viele Frauen aus dem preußischen Adel in Diakonissenmutterhäuser eintreten.

Während Ruth über Elisabeths Stellung und ihre eigene Jugend nachdenkt, erscheint plötzlich der Kutscher. Er müsse leider stören, aber es werde schon dämmerig und die Kutsche stehe vor der Tür bereit, um sie beide in die Kirche zu bringen. Seit mehr als einer Stunde warten dort Vertreter des Dorfes im Freien in der Hoffnung, die neue Frau von Kleist begrüßen zu dürfen.

Die Kutsche nimmt den Weg zurück, an den Fliederhecken entlang, biegt links in die gepflasterte Straße ein, die in das Zentrum des Dorfes führt, und fährt am zugefrorenen Teich vorbei bis zur Kirche. In der Kälte stehen die drei Gutsverwalter des Kreises, zwei für Kieckow, einer für Klein Krössin, die gewählten Sprecher jedes Dorfes und der Dorflehrer, alle sonntäglich gekleidet. Jürgen stellt jeden der Männer in der Reihenfolge ihres Ranges vor. Ihm ist klar, dass sie die noch sehr junge Frau begutachten, die ihrer Meinung nach die nächste Herrin des Gutes Kieckow sein wird.

Nach der Verabschiedung der Delegation steigen Ruth und Jürgen allein die vier Steinstufen hinab, die in die Gruft unter der Kirche führen. Ein schwaches Licht erhellt notdürftig den Raum. Ruth erkennt am anderen Ende des nied­rigen Gewölbes einen Altar und davor einen Sarg. Zunächst ist sie schockiert, denn Jürgen hat sie auf diesen Anblick nicht vorbereitet, er erklärt ihr aber schnell, hier lägen die sterblichen Überreste seiner Mutter. Seit ihrem Tod war fast ein Jahr vergangen. Ruth kann sich nicht erinnern, dass in Großenborau oder Schwentnig, ihrer schlesischen Heimat, die Toten so lang nicht beerdigt wurden, es sei denn, es herrschte tiefster Winter! Sollten die Gebräuche im Norden etwa anders sein? In Wahrheit unterscheiden sich die Sitten Pommerns nicht so sehr von denen Schlesiens. Nur hat der Vater bislang nicht die Kraft besessen, die endgültige Beerdigung seiner Frau anzuordnen. Für ein Weilchen sitzen Ruth und Jürgen auf der Bank vor dem Altar. Sie legen ihre Hände gemeinsam auf den Sarg der Mutter, während Jürgen einen Psalm rezitiert. Eigenartigerweise einen Psalm des Dankes.

Jürgen führt Ruth die wenigen Stufen hinauf aus der Gruft. Ein paar Schritte weiter und sie gelangen in die bescheidene Kirche, die Vater und Mutter Kleist erbaut haben. Kieckow besitzt keinen eigenen Pastor, denn das kleine Gotteshaus ist eine Nebenkirche, so ist es der Pfarrer von Groß Tychow, der bereits vor dem Altar wartet. Jürgen zeigt auf den Steinboden der Kirche und erzählt von dem denkwürdigsten Gottesdienst, der hier in dieser kleinen Kirche stattgefunden hat. Im Jahr 1878 wurde auf Kaiser Wilhelm I. ein Mordanschlag verübt. Als diese Schreckensnachricht Kie­ckow erreicht hatte, rief Vater Kleist alle Dorfbewohner in der Dorfkirche zusammen, wo sie sich hinknien sollten, während er, auch auf Knien, ein Mea culpa im Namen der gesamten Gemeinde sprach. Er bezichtigte das ganze Volk, sich selbst eingeschlossen, der schweren Sünde der Unterlassung, da sie alle dem Kaiser ihre uneingeschränkte Ergebenheit versagt hätten. Er schloss mit einer Bitte, über die noch heute im Dorf geredet wird: »Himmlischer Vater! Wir liegen vor dir, tief in den Staub gebeugt. Schlag auf Schlag trifft uns deine Hand.«2 Dieses Ereignis zeigt, Gott und König standen im Land der Kleists auf einer Stufe.

Zusammen mit dem Pastor betrachten Ruth und Jürgen das große aus Holz geschnitzte Kreuz über dem Altar. Es ist eine exakte Kopie des berühmten Achtermann-Kruzifixes, das für die Gruft des Schlosses Charlottenburg in Berlin geschaffen wurde. In ihrer tiefen Religiosität ist Ruth stark berührt von diesem künstlerisch wertvollen Symbol. Unzählige Male in ihrem späteren Leben wird es ihr Trost spenden und es wird die große Katastrophe überstehen.

Spätnachts, als Ruth sich nach der langen Fahrt zurück nach Köslin zur Ruhe gelegt hat, denkt sie noch einmal über die Ereignisse des Tages nach. Alles in allem war Kieckow für sie eine Enttäuschung und in keinster Weise mit den großen Gütern Schlesiens vergleichbar. »Jürgen«, entfährt es ihr, »wo sind eigentlich die pommerschen Schlösser?« Im Halbschlaf antwortet Jürgen: »Unsere Vorfahren wohnten in Lehmkaten. Pommern war von je her ein armes Land und zwang zu einer bescheidenen Lebensführung.«

Mit dem Mut einer Frau

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