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»Wo du hingehst«

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1886. Normalerweise würde die Hochzeit im Frühjahr stattfinden, damit für die traditionellen Besuche bei beiden Familien genügend Zeit bleibt. Betrachtet man die Stammbäume von Ruth und Jürgen, so findet man fast die Hälfte des gesamten preußischen Adels darin vereint. Um der Tradition gerecht zu werden, machte Mutter den Vorschlag, während der Wintermonate Ruths Garderobe und die zahlreichen Gegenstände ihrer Aussteuer zusammenzustellen und zu Beginn des Frühjahrs eine große Rundreise durch Preußen zu unternehmen, auf der Jürgen und Ruth gemeinsam all ihre Verwandten aufsuchen würden. Am Ende der Reise im Juni stünde dann die Hochzeit in Großenborau.

Ruth ist mit diesem Plan ganz und gar nicht einverstanden: »Doch nicht nach diesen drei langen Jahren des Wartens! Nein, liebe Mutter, man darf von uns nicht verlangen, noch länger zu warten.« Ruths Intuition sagt ihr, jede weitere Verzögerung in ihrem gemeinsamen Leben mit Jürgen würde einen herben Zeitverlust bedeuten. Dies wird sich später als wahr erweisen. Jürgen teilt ihre Ungeduld; drei lange Jahre lang musste er schwer mit sich ringen, um ausreichend Abstand zu seiner auserkorenen Braut zu wahren, bis er ihr einen angemessenen Lebensunterhalt bieten könne. Müsste er so etwas noch einmal durchleben, könnte er nicht mehr so lange schweigen. Mit ihren überzeugenden Argumenten erringen die beiden das Einverständnis beider Eltern, die übliche Verlobungszeit zu umgehen und eine baldige Heirat zu planen.

Das auserwählte Datum, der 4. Februar, ist gleichzeitig Ruths 19. Geburtstag. Die Hochzeitsfeier wird in Oppeln stattfinden, da Vaters Verpflichtungen ihn den ganzen Winter über dort festhalten. Wie sich herausstellen wird, ist dieses frühe Datum sowohl für den Vater als auch für Bruder Rob von Vorteil.

Zunächst hat sich der Vater in Roberts militärische Laufbahn eingeschaltet. Wissend, dass sein Sohn in der Armee nicht glücklich ist, wird er die Sorge nicht los, dieser könne eines Tages doch nach Amerika auswandern. Um dies von vornherein zu verhindern, erwirkt er beim Auswärtigen Amt in Berlin Roberts Versetzung an die deutsche Botschaft in Rom. Dies bedeutet eine neue Richtung in der Laufbahn seines Sohnes, die er kurz nach dem 4. Februar einschlagen wird.

Auch in Vaters öffentlicher Karriere bahnt sich eine neue, völlig unerwartete Wende an. Seit Oktober hat ihn Bismarck, der in einer politischen Krise steckt, bereits zweimal nach Berlin gerufen. Wie es scheint, ereignet sich in Berlin mindestens einmal im Jahr, vielleicht auch öfter, eine Regierungskrise. Der Kanzler selbst wird verdächtigt, diese Krisen herbeizuführen, da sie immer dann am Horizont auftauchen, wenn seine Koalition im Parlament auseinanderzubrechen droht. Die jüngste Krise hängt mit der preußischen Provinz Posen zusammen, die zu Polen gehörte, bevor die drei Großmächte – Preußen, Österreich und Russland – das Land aufgeteilt hatten. In Posen hat es schon immer Probleme unterschiedlichster Art gegeben, da die Polen nicht bereit sind, ihre nationale Identität aufzugeben. Preußen vom Schlage der Zedlitz und Kleist können nicht verstehen, warum sich die Polen gegen die scheinbaren Vorteile deutscher Sprache und Kultur wehren, die ihnen von Preußen beschert wurden. Und nun schürt Bismarck dieses Feuer. In Zeiten in­nenpolitischen Aufruhrs und seines Autoritätsverlusts als Kanzler kommt es ihm gelegen, einen alten deutschen Traum wiederzuerwecken – nämlich das fruchtbare polnische Agrar­land mit Deutschen zu besiedeln.

Es wurde eine Ansiedlungskommission gegründet und die deutsche Regierung ermutigt deutsche Bauern aus dem Westen, in die polnischen Gebiete Preußens überzusiedeln. Die Regierung gibt sogar bekannt, sie würde den Kauf von Land aus polnischem Besitz durch Deutsche bezuschussen. Familien wie die der Zedlitz und Kleist betrachten diese Politik Bismarcks als Schutzmaßnahme zur Abwehr polnischer Einflüsse entlang der deutschen Ostgrenze. Bauern ohne Landbesitz im Westen sehen darin die Erfüllung ihrer Träu­me, während die polnischen Bauern und Landbesitzer diesen Schritt als Angriff auf ihr nationales Erbe und glatten Diebstahl polnischen Besitzes, an den dieses Erbe gebunden ist, empfinden. Die Verwirklichung dieser Politik wird sich als Durchbruch in der Vereinigung der Polen unter einem nationalen Banner ohne Trennung nach den alten gesellschaftlichen Klassen erweisen.

Bismarck hat seinen alten Freund Robert von Zedlitz und Trützschler gebeten, erster Präsident dieser umstrittenen Ansiedlungskommission zu werden. Robert hat gegen diese Ernennung folgenden Einwand erhoben: Die Präsidentschaft sollte vom Oberpräsidenten der Provinz Posen übernommen werden, um die Aufgaben der Kommission auf menschlichere Art und Weise durchzuführen. Er, Robert, würde beide Posten annehmen, sollte der Kanzler mit ihm einer Meinung sein.

Bismarck teilte seine Meinung und Ruths Vater kehrt mit zwei neuen Aufgaben aus Berlin zurück. Er wird seinen Pos­ten als Regierungspräsident in Schlesien aufgeben und mit seiner Familie unmittelbar nach der Hochzeit von Oppeln nach Norden in die polnische Stadt Posen umziehen.

4. Februar. Obwohl Ruth heute heiratet, wird der Tag mit einem traditionellen Geburtstagsfrühstück beginnen, das Ruth als die letzte Feier vor dem Eintritt in das Eheleben im Gedächtnis bewahren wird. Die ganze Familie aus Großenborau ist anwesend, dazu kommen noch Jürgen, Jürgens Vater Hans Hugo, seine Schwester Elisabeth und sein Bruder Hans Anton.

Während der Feier ergreift Hans Hugo von Kleist das Wort, um der Braut und dem Bräutigam eine Ansprache zu halten. Er betont, das Leben sei wechselhaft und könne Schicksalsschläge mit sich bringen, wenn nicht innerhalb der Ehe, dann sicherlich von außen. Auch ihr gemeinsames Leben werde nicht ohne Tränen sein, warnt er sie, aber das Wichtigste sei, auf Gott zu vertrauen.

Mittags beginnt die Hochzeitsfeier. Vor der Residenz herrscht ein buntes Durcheinander von Pferden, Droschken, Kutschern und Stallburschen. Die meisten Kutschen werden wäh­rend der Hochzeitszeremonie und des Essens bei der Residenz abgestellt, sodass Ställe und Aufenthaltsräume für Dienstboten völlig überfüllt sind. Die Gäste, 70 an der Zahl, versammeln sich im Empfangssaal im Erdgeschoss. Dieser sogenannte rote Salon dient normalerweise dem Empfang offizieller Gäste des Vaters. So trafen sich zum Beispiel Otto von Bismarck und Graf Robert in diesem Salon bereits mehrmals und selbst Kaiser Wilhelm stattete hier dem Vater einen Besuch ab. Im Allgemeinen wird dieser Saal nur mit großer Ehrfurcht betreten.

Die erlesene Ausstattung des Salons ist beeindruckend – elegante rote Wandverkleidungen, mit rotem Samt bezogene Sessel und raumhohe Türen mit doppelten Paneelen aus dunkler Eiche, die normalerweise geschlossen gehalten werden. Heute steht an jeder Tür ein Diener, um sie für jeden einzelnen Gast zu öffnen und wieder zu schließen. Drinnen warten Vater und Mutter, sie reichen Freunden und Verwandten die Hand, um sie willkommen zu heißen. Die Mutter trägt ein weißes Kleid im Empirestil, das zu Hause nach einer Abbildung der neuesten Berliner Mode genäht wur­de. Es kann kein Zweifel bestehen, sie ist die Gräfin. Graf Robert trägt seinen Galaanzug. Seine Brust ist geschmückt mit all den königlichen und kaiserlichen Orden, die ihm für seine Dienste verliehen wurden. Ganz offensichtlich ob­liegt ihm die Leitung des Tagesablaufs und mit seiner unglaublichen Fähigkeit, jedes noch so kleine Detail wahrzunehmen, gibt er gleichzeitig jedem Gast das Gefühl, nur diesem seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. So ist es auch der Graf, der feststellt, dass nun alle Gäste anwesend sind und die Zeremonie beginnen kann. Daraufhin verlässt er den Raum. Kurz danach betritt Jürgen den roten Salon und geht geradewegs auf die Gräfin zu, ohne die anderen Anwesenden zu beachten. Er umarmt sie und wendet sich mit ihr der geschlossenen Tür zu, während sich auf den Gesichtern aller Gäste allgemeine Anerkennung bemerkbar macht.

Zum ersten Mal werden von zwei Dienstboten beide Flügel der Doppeltür geöffnet. Der altgediente erste Diener von Großenborau, er trägt die abgelegte Abendjacke des Grafen, nimmt seinen Platz an der linken Tür ein. Unter allen Dienstboten wurde er ausgewählt zum Dank für seine langen und treuen Dienste für den Hausherren von Gro­ßen­borau. Ruth betritt den Raum am Arm ihres Vaters und geht mit ihm direkt auf Jürgen zu. Dem Bräutigam in die Augen sehend, spricht der Vater die Worte, mit denen die Braut an ihn übergeben wird. Würde die Braut über diese Worte genau nachdenken, könnte sie vielleicht vor einer Heirat zurückschrecken. Aber wie für jede andere Braut vor ihr sind sie eben doch nur Teil einer alten Tradition. Es ist ein bewegender Augenblick, den niemand durch ein Geräusch stören möchte. Um den Bann zu brechen, nimmt der Vater den Arm der Gräfin und bedeutet in seiner gastfreundlichen Art, ihm und dem Brautpaar zu folgen. Die Prozession führt nach oben in einen Saal, der normalerweise nur für Zusammenkünfte genutzt wird, bei denen der Kaiser entweder selbst oder häufiger noch einer seiner Vertreter anwesend ist.

Dieser relativ kleine Raum ist vielleicht der eleganteste Konferenzsaal in den Regierungsbezirksstädten des deutschen Ostens. Er ist zwar nicht vergleichbar mit ähnlichen Einrichtungen in Bayern, aber Preußen erhebt auch nicht den Anspruch, mit Süddeutschlands barocker Eleganz konkurrieren zu wollen. Für diesen Tag wurde der Raum in eine Hochzeitskapelle verwandelt und geschmückt wie nie zuvor. Schwarz-gelbe Girlanden – in den Trützschlerschen Farben – schmücken die Kronleuchter und Wandkerzenhalter. Der große Tisch wurde entfernt, jede freie Fläche sowie die Ecken sind unter einem Meer von Blumen aus dem Gewächshaus verschwunden. Das gesamte Arrangement wurde genau nach den Anweisungen des Grafen gestaltet, der es bis zu diesem Moment keinem gestattete, sein Werk zu betrachten. Er ließ sogar das Altargemälde aus der Familienkapelle von Großenborau als ein sichtbares Symbol der Familientradition herbeischaffen. Die feierlich-melancholische Stimmung von vorhin verwandelt sich in diesem Überfluss an Farbe und duftenden Blumen in Ehrfurcht und Freude.

Das Brautpaar steht vor dem Altar, ihm gegenüber Konsistorialrat Geisler, Mitglied des evangelischen Konsistoriums in Schlesien. Der Geistliche trägt eine farbenfrohe und reich verzierte Robe, die Ruth unangebracht erscheint und ihrer religiösen Erziehung völlig fremd ist. Sie hätte sich viel lieber von dem Pastor aus Freystadt trauen lassen, doch hat sie den Wünschen ihres Vaters nachgegeben. Dies ist das erste Mal, dass Ruth mit der Institution Kirche nicht einverstanden ist, und es wird nicht das letzte Mal sein!

Der Geistliche beginnt den Gottesdienst mit dem Trau­spruch, den der Vater, die Einstellung seiner Tochter gut kennend, für sie ausgewählt hat. Er ist dem Buch Ruth aus dem Alten Testament entnommen:

Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch; da will ich auch begraben werden.

Darauf folgt eine lange, nicht erinnerungswürdige Predigt über die religiöse Bedeutung der Ehe. Ruth hat Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit diesem Fremden zu widmen, und ist erleichtert, als die Moralpredigt endlich vor­über ist. Sie tröstet sich damit, dass nicht dieser Geistliche, son­dern Gott sie in Wirklichkeit mit Jürgen verbunden hat. Jürgen steckt ihr den Trauring an die rechte Hand. Er wurde aus zwei alten Golddukaten gegossen, die im Namen von Jürgens Vorfahren geprägt worden waren – ein echter Kleist-Ring also! Konsistorialrat Geisler erklärt die beiden zu Mann und Frau und beschließt die Zeremonie mit dem Segen.

Nun ist Ruth keine Gräfin mehr. Als wollte der Vater diese entscheidende Statusänderung betonen, gibt er Jürgen die Anweisung, seine Braut von der linken auf die rechte Seite zu führen. Dies soll, ebenfalls nach alter Tradition, die Besitznahme der Braut durch den Bräutigam symbolisieren.

Wieder zieht die ganze Gesellschaft – Graf und Gräfin voran, das Brautpaar als Nächstes – hinunter in den großen Empfangssaal, wo bereits die Tafel für ein üppiges Hochzeitsmahl gedeckt ist. An jedem der 70 Plätze steht ein Namenskärtchen. An beiden Enden der Tafel hält je ein Diener einen Stuhl bereit für Ruth und für ihre Mutter. Auf beiden Seiten der Tafel sorgen die Herren dafür, dass ihre Tischdamen sich gesetzt haben, bevor sie selber Platz nehmen. Als alle zum Grafen hinüberblicken und warten, wie es weitergeht, senkt dieser den Kopf zum Gebet, wie es vor jeder Mahlzeit in der Familie gesprochen wird. Nun hört man Geschirrklappern und während die Suppe aufgetragen wird, schlägt der Graf mit dem Löffel an das Glas, um sich Gehör zu verschaffen. Alles erhebt sich in Erwartung des Trinkspruches, der seit Generationen von getreuen Preußen immer als erster ausgebracht wird – nämlich der Trinkspruch auf das Wohl Wilhelms, König von Preußen und deutscher Kaiser.

In den nächsten zwei Stunden wird in dem prächtigen Saal mit der gebotenen vornehmen Zurückhaltung gespeist und getrunken. Immer wieder ertönt ausgelassenes Gelächter und Heiterkeit breitet sich über die ganze Tafel aus. Gegen Ende der Mahlzeit erhebt der Graf sein Glas zum Abschied seiner Tochter, »dem Sonnenschein des elterlichen Hauses«. An diesem Punkt versagt ihm die Stimme und er muss seine Abschiedsrede kurzerhand abbrechen. Ruth am anderen Ende des Tisches wird ebenfalls von Gefühlen übermannt und würde sich am liebsten ein letztes Mal ihrem Vater in die Arme stürzen. Natürlich tut sie es nicht.

Ruths Schwiegervater Hans Hugo von Kleist beendet das Schweigen sofort mit einer Darstellung seines Respekts und seiner Wertschätzung des Grafen und der Gräfin sowie seiner Freude über die Vereinigung zweier so alter und treuer Familien wie denen der Zedlitz und Kleist. Er legt dar, von welch großer Bedeutung diese Heirat für die Zukunft Preußens sei, und schließt mit einer Anspielung auf die deutsche Nation, einer zugleich humorvollen, aber auch etwas scharfen Bemerkung. Alle Anwesenden verstehen Kleists respektlose Nebeneinan­derstellung Preußens und Deutschlands. Hans Hugo von Kleist, ältester Freund und Zimmergenosse Otto von Bismarcks aus Junggesellentagen, ist mit des Kanzlers Ansichten über einen modernen deutschen Nationalstaat nicht einverstanden.

Am späten Nachmittag begeben sich Ruth und Jürgen auf Hochzeitsreise. Die Kutsche aus Großenborau, deren Messingbeschläge in der Sonne funkeln, steht schon bereit. Der Kutscher befindet sich auf seinem Platz und der alte Diener der Familie, der Ruth die Tür aufhält, verabschiedet sie mit den Worten: »Gnädige Frau, Gottes Segen sei mit Ihnen.« Was für ein eigenartiges Gefühl, gnädige Frau genannt zu werden! Selbst in Großenborau wird sie nie wieder »Konts Ruth« sein.

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