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Ein Fest zur Erntezeit

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1892, Mai. Hans Hugo von Kleist liegt im Sterben. Von Kieckow aus geht die Nachricht nach Belgard, Stettin und Berlin. Kaiser Wilhelm sendet ihm eine persönliche Botschaft, in der er ihm die Wiedererlangung voller Gesundheit wünscht. Hans Hugo, der noch bei vollem Bewusstsein ist, belächelt die Botschaft, weiß er doch, dass der Kaiser solche Wünsche nur verschickt, wenn der Zustand hoffnungslos ist. Trotzdem ist er hocherfreut; als preußischer Aristokrat freut er sich über die Anteilnahme seines Königs.

Frühmorgens am 20. des Monats erlischt Vater Kleists Lebenslicht. Seine Kinder Hans Anton, Jürgen und Elisabeth sind an seinem Sterbebett versammelt. Bis zum Abend ist auch Ruth mit den Enkelkindern Hans Jürgen, Spes und Konstantin eingetroffen. Es wird Ruths erste Beerdigung in ihrem Erwachsenenleben werden, für die sie, wie sie feststellen muss, noch nicht die entsprechende Kleidung besitzt. Die Hausdame kommt ihr sofort zu Hilfe, indem sie ihr innerhalb von 24 Stunden von der Schneiderin des Dorfes eine vollständige Trauerbekleidung mit Hut und langem Schleier anfertigen lässt. Ruth erkennt sich im Spiegel kaum wieder und hofft, sie werde dieses Kleid viele Jahre lang nicht mehr benötigen.

Wie sollte sie auch ahnen, dass sie in nur fünf Jahren diese Kleidung wieder anziehen und dann zwölf Monate lang Tag für Tag tragen wird!

Die Plätze in der Kirche von Kieckow reichen nicht aus, um allen Trauergästen Platz zu bieten, viele stehen in den Gängen oder hören, so gut es geht, von draußen zu. Außer den Familienangehörigen und den Dorfbewohnern sind Gutsbesitzer und Bekannte anwesend, die meisten kommen aus dem Kreis Belgard, manche jedoch auch aus weiter entfernten Orten wie Stargard, wo die Herrensitze der Puttkamers und Bismarcks liegen. Die meisten Zeitgenossen von Vater Kleist sind zwar nicht mehr unter den Lebenden, aber einige wenige gibt es noch. Dazu gehört Philipp von Bismarck, Otto von Bismarcks Neffe, ein langjähriger Freund von Hans Hugo von Kleist. Die Abwesenheit des ehemaligen Reichskanzlers fällt auf. Im Alter von 77 Jahren befindet sich Otto von Bismarck auf einer Vortragsreise durch Deutschland, durch die er die Gunst der Deutschen erwerben und wieder an die Macht gelangen möchte. Die langjährigen Freunde und Familienmitglieder sind empört über seine Abwesenheit und erinnern sich daran, wie sie ihn einst, als sie alle noch viel jünger waren, den »wilden Junker« getauft hatten.

Viele offizielle Gäste sind angereist, die sich in das Gästebuch des Gutshauses eintragen und im Gedächtnis von drei Generationen der Kleists aus Kieckow bleiben werden. Unter ihnen sind als des Kaisers persönlicher Vertreter Adjutant von Jacobi, der Oberpräsident von Pommern von Puttkamer sowie der Staatssekretär des Reichsschatzamtes Freiherr von Maltzahn und Freiherr von Manteuffel, der Vizepräsident des Herrenhauses.

50 Jahre später wird Ruths Sohn Hans Jürgen das Gästebuch verbrennen, denn im Dritten Reich werden die Menschen nach ihren Kontakten beurteilt und verdächtigt.

Der Herr von Kieckow ist tot. Sein Nachfolger kann erst in vier Jahren eingesetzt werden, wenn der Pachtvertrag für Kieckow abläuft. Für eine vorzeitige Ablöse des Pachtvertrags ist nicht genug Geld vorhanden. In der Zwischenzeit regiert Elisabeth über Kieckow, während Hans Anton kommt und geht, ganz wie ihm gerade zumute ist. Jürgen und Ruth kehren mit ihren Kindern nach Belgard zurück. Über die Zukunft des Gutes spricht Jürgen wenig, vertraut Ruth jedoch wehmütig an: »Ach, könnten wir doch nur zusammen in Kieckow leben, aber wahrscheinlich wäre das zu viel des Glücks.«

In der Gruft unter der Kirche von Kieckow stehen nun zwei Särge; Vater Kleists sterbliche Überreste befinden sich neben denen der Mutter. Jürgen, der sonst jede Freude und Sorge seines Lebens mit Ruth teilt, sagt dazu nichts. Sie spürt jedoch, dass sich die Geschwister mit ihm über den Ort, an dem ihre Eltern begraben werden sollen, nicht einig sind.

September. Jürgen wird als Reserveoffizier für einen Monat militärischer Ausbildung in die Armee einberufen. Zum ers­ten Mal seit seiner Hochzeit hat er einen solchen Befehl erhalten, denn eigentlich gehört er nicht zu den aktiven Reser­visten. Die Einberufung ist jedoch eine Ausnahmeübung und, wie es heißt, für den Notfall; sie hängt offensichtlich mit der immer ehrgeiziger werdenden Außenpolitik des Kaisers zusammen, die böse Zungen als »Säbelrasseln« bezeichnen. Jürgen sind diese politischen Entwicklungen nicht verborgen geblieben. Als Reserveoffizier ist er jedoch verpflichtet, seinen militärischen Pflichten nachzukommen und wieder einmal seine uneingeschränkte Loyalität dem Kaiser gegen­über unter Beweis zu stellen.

Ruth hatte immer Mitleid mit den jungen Ehefrauen empfunden, deren Männer als aktive Reservisten jedes Jahr einen ganzen Monat von ihren Familien getrennt werden. Nun muss sie diese Erfahrung selbst machen. Als ihr Vater Graf Robert die Nachricht von der Einberufung hört, lädt er Ruth umgehend ein, diesen Monat in Großenborau zu verbringen. Nach so vielen Jahren im öffentlichen Dienst ist er mit seiner Frau auf das Gut zurückgekehrt, das er nun selbst verwaltet. Ruth hat seit ihrer Heirat ihre schlesische Heimat nicht mehr gesehen und für die Kinder wird es der erste Besuch dort sein.

Am Bahnhof von Belgard vergießt Ruth Tränen beim Abschied von ihren Kindern. Der sechsjährige Hans Jürgen hält seine kleine Schwester Spes fest an der Hand, damit die quirlige Vierjährige nicht auf die Gleise fällt. Der kleine Kons­tantin, den das Kindermädchen auf den Armen trägt, lächelt tapfer und winkt seiner Mutter zu. Die vier fahren mit dem Zug voraus nach Großenborau, Ruth wird später nachkommen. Zunächst begleitet sie Jürgen nach Berlin, wo sie sein Regiment bei der Parade erleben soll, bevor es ins Manöver zieht.

Von ihrem reservierten Platz aus am Paradeplatz in Tempelhof verfolgt Ruth die großartige Parade. Ebenso wie ihr Mann lässt auch sie sich von der Atmosphäre leicht begeis­tern. Die vorbeimarschierenden Truppen mit den bunten Fahnen und den Militärkapellen, die die Melodien des Regiments spielen, begeistern sie. Schließlich ist sie eine Preußin, der alle Ideale ihrer Vorfahren, Generationen von treuen Untertanen des Königs, in die Wiege gelegt wurden.

Seit den Tagen ihrer Kindheit hat sich die deutsche Armee zu einer modernen Kriegsmaschinerie entwickelt, die bei Paraden einen großartigen Anblick bietet. Leider gelingt es ihr nicht, von ihrem Platz aus ihren Leutnant zu erkennen, sie tröstet sich jedoch mit dem Gedanken, dass ihnen beiden noch eine gemeinsame Nacht im Hotel Bellevue in Berlin verbleibt.

Früh am nächsten Morgen verabschiedet sich Jürgen in voller Uniform. Für Ruth ist es natürlich ein emotionsgeladenes Ereignis; entgegen ihren guten Vorsätzen schafft sie es nicht, ein »tapferer Soldat« zu sein.

Einen Tag später sitzt Ruth am Bahnhof Friedrichstraße geraume Zeit vor der planmäßigen Abfahrt des Zuges nach Freystadt in einem Abteil. Zum Zeitvertreib blickt sie aus dem Fenster und entdeckt zufällig ein über die Straße gespanntes Transparent. Mit Überraschung liest sie darauf die Ankündigung, das Erste Garde-Feldartillerieregiment – Jürgens Regiment – werde auf seinem Weg ins Manöver hier vorbeimarschieren. Sie ist sprachlos; in der Ferne hört sie bereits die Militärkapelle. Hastig verlässt sie ihr Abteil, steigt aus dem Zug und eilt über die Straße, um einen besseren Blick auf die herannahende Militärkapelle zu gewinnen. Hinter der Kapelle befinden sich der Kommandeur, sein Adjutant sowie der Hauptmann, alle drei hoch zu Ross. Dann folgt in präzisem Gleichschritt ein Zug nach dem anderen, jeder unter Führung eines Leutnants. Da kommt auch schon der Zug mit Jürgen an der Spitze! Einen kurzen Moment sieht er sie direkt an, ohne jedoch die geringste Regung zu zeigen. Dann ist er aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden. Sie weiß aber, er hat sie erkannt, da er mit einer minimalen Bewegung seinen Degen senkte.

Jetzt ist Jürgen also ganz Soldat und gewaltsam derjenigen entrissen, die ihn mehr als alles andere auf der Welt liebt. Ruth ist diese Vorstellung unerträglich. Tränenüberströmt kehrt sie ins Abteil zurück, verbirgt ihr Gesicht in dem gepolsterten Sitz und weint untröstlich, bis sie in Freystadt ankommt, wo sie ihre drei glücklichen Kinder auf dem Bahnsteig erblickt. Erst hier kann die junge Ehefrau und Mutter ihre Fassung zurückgewinnen. Später wird sich Ruth wegen ihres unziemlichen Verhaltens Vorwürfe machen, aber sie wird sich auch vergeben, da sie glaubt, ihr Herz habe bereits vorher gewusst, was so unerbittlich auf sie zukommen würde.

1893, Mai. Ruths und Jürgens zweite Tochter Maria wird in der Residenz des Landrats von Belgard geboren. Von Geburt an hat das entzückende kleine Mädchen dichte, schwarze Löckchen und einen fröhlichen Gesichtsausdruck.

Marias Taufe ist die erste ohne Vater Kleist, aber dafür sind Ruths Eltern sowie ihre Schwester Anni von Tresckow mit ihrem Mann Hermann anwesend. Das Kind ist gesund, die Taufschale funkelt im Licht. Kann sich eine Familie mehr wünschen?

1896, Mai. Viele Ereignisse, gute wie schlechte, treffen aufeinander. Der Pachtvertrag für Kieckow ist endlich ausgelaufen, das ganze Gut samt allen Schulden gehört jetzt also Jürgen, so wie Vater Kleist es verfügt hat. Tagelang werden leere Wagen nach Belgard geschickt, die voll beladen mit Kisten und Möbeln nach Kieckow in das Gutshaus zurückkehren. Die Mutter, ihre vier Kinder, eine Köchin, ein Dienstmädchen und das Kindermädchen ziehen einen Sommer lang von der Residenz des Landrats in das Gutshaus von Kie­ckow um. Das halbe Dorf ist in die Vorbereitungen mit eingebunden, denn seit Jahren ist für die Instandhaltung des Hauses fast nichts geschehen. Als wollten sie ihre neue Herrin willkommen heißen, blühen in Kieckow die Kastanienbäume, die Flieder- und Schneeballbüsche um die Wette. Selbst die Azaleen haben schon dicke Knospen, obwohl sie normalerweise erst in einem Monat blühen.

Für Ruth wäre dies eine Zeit höchster Freude, wäre da nicht der Auszug von Elisabeth. Während Ruth sich seit ihrem ersten Besuch vor zehn Jahren ständig auf diese Heimkehr gefreut hat, bedeutet sie für Elisabeth Vertreibung, obwohl ihr Jürgen versichert hat, ihr Zimmer stehe ihr jederzeit zur Verfügung, wann immer sie es wünsche. Sie zieht jedoch nach Berlin in die Wohnung, die sie einmal zusammen mit dem Vater und Hans Anton bewohnte. Vor seinem Tod hat der Vater sie ihr vermacht, damit sie immer ein eigenes Zuhause ganz für sich allein haben würde. Für Elisabeth ist der Einzug der neuen Herrin von Kieckow ein bitteres Los. Sie wird nur noch zweimal in das Haus zurückkehren, in dem sie aufgewachsen ist, jedes Mal zur Beerdigung eines Bruders. Mit Elisabeth geht auch das Stolbergsche Kreuz; Ruth tadelt sich insgeheim dafür, jemals dieses Symbol weiblicher Macht begehrt zu haben.

Der Bruch mit Elisabeth wird bald von Jürgens gesundheitlichen Beschwerden in den Schatten gestellt. Der Umzug war natürlich sehr anstrengend für ihn, hinzu kommt, dass er nun die ganze Woche über allein in Belgard ist. Jeden Freitagnachmittag steht die Kutsche aus Kieckow vor dem Büro des Landrats, um den Ehemann und Vater nach Hause zu bringen. Eines Tages, als Ruth ihn bei seiner Ankunft umarmt, ermahnt er sie: »Nicht so heftig, mein Liebling.« Und eines Nachts im Bett erklärt er ihr entschuldigend, aber bestimmt: »Ich muss mich heute Nacht von dir wegdrehen, meine Liebe; ich verspüre zu große Schmerzen, wenn ich auf dieser Seite liege.« Dieses Geständnis versetzt Ruth einen mindestens ebenso schmerzvollen Stich ins Herz.

Schließlich gelingt es Ruth, Jürgen von der Notwendigkeit eines Urlaubs zu überzeugen – an einem Kurort, wo er in heißen Quellen baden könne. Sie verlassen Kieckow für einen ganzen Monat; die Kinder bleiben unter der Obhut der Dienerschaft, das Gut wird vom Verwalter geführt und die Verwaltung des Kreises obliegt Jürgens Assistent. Wie gut es doch ist, sich auf seine Angestellten verlassen zu können!

September. Der Urlaub hat Jürgen gutgetan; zwar ist der Schmerz noch vorhanden, aber wenigstens fühlt er sich kräftiger. Er selbst schlägt vor, das traditionelle Erntedankfest in Kieckow wieder einzuführen, was Ruth überglücklich macht. Zum letzten Mal wurde es vor zwölf Jahren abgehalten, nach dem Tod von Mutter Kleist konnte sich der Vater jedoch nie mehr überwinden, dieses beliebte Fest wieder zu feiern. Seit ihrer Ankunft in Kieckow hat Ruth im Dorf regelmäßig Besuche gemacht. In nur vier Monaten hat sie viel über die Menschen hier gelernt – über ihre Hoffnungen, ihre Erin­nerungen und ihre Traditionen. Mittlerweile kennt sie jede Familie mit Namen. Aus Unterhaltungen mit ihnen hat sie immer wieder herausgehört, wie beliebt die Feste in Kie­ckow waren. Sie versichert ihrem Mann: »Weißt du, Jürgen, dieses Jahr wird es ein Fest wie nie zuvor geben!«

Oktober. Es ist Sonntagmorgen, der Gottesdienst in der Kirche ist früher zu Ende gegangen als jemals zuvor. Aus Rück­sicht auf das Fest hat der Pastor die kürzeste Predigt seines Lebens gehalten! Die Bewohner der zwei Dörfer – Kieckow und Klein Krössin – sind vor dem Schulhaus von Kieckow versammelt. Der Dorfsprecher gibt lauthals seine Anweisungen und versucht, die aufgeregten, ungestümen Kinder in die Prozession einzureihen – »Jungens zu den Männern, Mädchen zu den Frauen«. Jeder Mann trägt eine Sense, jede Frau einen Rechen. Die Werkzeuge sind mit Blumengirlanden geschmückt.

Auf der Rampenvorfahrt vor dem Gutshaus erwarten Ruth und Jürgen die Prozession. Neben ihnen stehen ihre vier Kinder, Hans Jürgen, Spes, Konstantin und Maria, dahinter Jürgens Vetter aus dem weiter östlich gelegenen Schmenzin, Ruths Schwester Anni von Tresckow mit ihrem Mann und zahlreiche Freunde und Kollegen aus dem Kreis Belgard. Kurz nachdem die ersten Musiktöne zu ihnen herüberdringen, ist auch schon die Prozession in Sicht – zunächst nur als Farbtupfer zwischen den mächtigen Bäumen, bald ist die ganze Menschenmenge zu erkennen, die den Weg zum Gutshaus nimmt. Die Prozession wird angeführt von einem einzelnen Posaunisten, der mit seinem Instrument eine ganze Blaskapelle ersetzen muss. Direkt hinter ihm geht eine sehr alte Frau mit der Erntekrone, die sie selbst hergestellt hat – ein dicker Blumenkranz, in den je eine Ähre von den verschiedenen Getreidesorten und ein Blatt von jeder in Kie­ckow oder Klein Krössin wachsenden Frucht hineingebunden ist. Mit den Armen gestikulierend und mit dem verabredeten Kopf­nicken versammelt der Sprecher die Dorfbewohner. Als endlich alles ruhig ist, belohnen die Zuschauer die Prozession mit begeistertem Applaus. Als auch dieser verebbt, tritt der Hofmeister vor, nimmt die Erntekrone der alten Frau und überreicht sie feierlich dem Herrn von Kieckow und Klein Krössin.


Gutshaus in Kieckow

Wieder ertönt die Posaune, diesmal mit der Melodie eines Erntedankliedes, das an diesem Sonntag in jeder Kirche auf jedem Landsitz in ganz Preußen gesungen wurde, solange die Erinnerung zurückreicht:

Nun danket alle Gott

Mit Herzen, Mund und Händen …

Nun ist der Gutsherr an der Reihe. In dem Bewusstsein, in Vaters Fußstapfen zu treten, richtet Jürgen, die Erntekrone in Händen haltend, das Wort an die Menge. Das Thema dieses Erntedankliedes aufnehmend, dankt er Gott für die reiche Ernte und allen Bewohnern von Kieckow und Klein Krössin für ihre geleistete harte Arbeit, ihre Ehrlichkeit und ihre Treue zu Gott, dem Vaterland und dem Hause Kleist. Abschließend dankt er dem verstorbenen Herrn von Kieckow dafür, dass die Familie Kleist nun wieder in der traditionellen Landwirtschaft in diesem alten preußischen Gebiet tätig sein kann. Wegen seiner angeschlagenen Gesundheit ist die Rede kurz, manche Zuhörer sind jedoch zu Tränen gerührt.

Nun tritt der Vorarbeiter vor, um dem Gutsherrn mit den traditionellen Worten zu antworten. Er nimmt diese Gelegenheit mit besonderer Ergebenheit wahr, da auch das Dorf unter der jahrelangen Verpachtung des Guts gelitten hat. Anschließend dreht er sich seinen Männern zu, die mit ihm zusammen den Hochruf ausbringen: »Er lebe hoch, lebe hoch, lebe hoch.« Er wird traditionsgemäß dreimal ausgerufen – einmal für den Gutsherrn, einmal für die Herrin und das dritte Mal für die Kinder des Gutshauses. Zu jedem Wort schlagen die Männer ihre Sensen im Takt aneinander. Wieder stimmen die Dorfbewohner ein Lied an, während der Gutsherr die Erntekrone an einem gut sichtbaren Platz auf der Vorderseite des Hauses aufhängt, wo sie bis zur nächsten Ernte bleiben wird.

Dies war nur der erste Akt. Der zweite Akt ist das Festessen, das in dem leeren Kornspeicher stattfindet. Ein Dutzend lange Tische wurden für das Festmahl aufgestellt, auf der einen Seite sitzen der Gutsherr, seine Familie und seine Freunde, die andere Seite ist für die Dorfbewohner reserviert. Als alle sitzen, erhebt sich der Pastor, um das Tischgebet zu sprechen. Dann müssen alle noch einmal aufstehen, und als sie endlich so weit sind, folgt ein »Hoch« auf den Kaiser. Nun kann die Mahlzeit serviert werden, die mithilfe aller 40 Dienstboten, die auf die eine oder andere Weise mit dem Gutshaus in Verbindung stehen, zubereitet wurde. In dem großen, hohen Raum herrscht ausgelassene Stimmung, man hört fröhliches Gelächter.

Nach dem Essen erhebt sich Jürgen von Kleist, einen riesigen silbernen Weinkelch in der Hand. Er lädt alle ein, mit ihm zu trinken, nimmt einen Schluck und gibt den Kelch an Ruth weiter, die ebenso daraus trinkt; der Kelch wird von Person zu Person den ganzen Tisch entlang weitergereicht. Ein Dienstbote steht bereit, um den Kelch zum nächsten Tisch zu bringen, wo er wieder weitergereicht wird, und weiter zum nächs­ten Tisch, bis jeder von dem Wein getrunken hat.

Draußen auf dem Rasen rennen die Kinder ausgelassen hin und her. Sie können ihre Vorfreude kaum verbergen, denn sie wissen, dass der dritte Akt speziell ihnen gilt. Mitten unter den Kindern befinden sich auch Hans Jürgen, Spes, Konstantin und Maria. Nun kommt der große Moment für die neue Herrin. Ruth veranstaltet für die Kinder eine Reihe von Spielen – Sackhüpfen, Blindekuh und ein Wettklettern –, die sie selbst als Kind gern gespielt hat. Für die Gewinner gibt es kleine Preise, die offiziell mit Handschlag übergeben werden.

Der letzte Akt findet auf der Wiese unter den Bäumen statt. Dafür haben die Männer des Dorfes bereits die langen Tische und Stühle nach draußen gebracht. Die Dienerschaft deckt die Tische und schleppt Kannen mit Kaffee und Kuchentabletts herbei, während alle Plätze um die Tische herum schnell besetzt sind. Entsprechend der Tradition, die vor zwei Jahrzehnten von Ruths Schwiegermutter eingeführt wurde, geht Ruth mit den Kaffeekannen von Tisch zu Tisch und schenkt persönlich den heißen Kaffee in leere Tassen oder füllt unermüdlich halb leere nach, bis die Dorfbewohner bei Sonnenuntergang und der einsetzenden Kühle des Abends nach Hause zurückkehren. Immer wieder bedanken sie sich überschwänglich, oft mit Tränen in den Augen, und verabschieden sich bis zum nächsten Jahr.

Im nächsten Jahr wird jedoch kein Erntedankfest stattfinden; erst eine Generation später wird dieses Fest wieder in Kieckow gefeiert werden.

Mit dem Mut einer Frau

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