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Der König ist tot

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1886, April. Es ist bereits Frühling, dennoch ist in Pommern der Schnee noch kaum von den Feldern gewichen. Zum zweiten Mal in ihrem Leben reist Ruth nach Kieckow, diesmal für eine ganze Woche, um mit Jürgens Familie Ostern zu verbringen.

Jürgens Vater ist in Begleitung von Elisabeth und Hans Anton aus Berlin nach Kieckow zurückgekehrt. Ungeachtet der politischen Probleme in der Hauptstadt hat er sich vorgenommen, während der Karwoche auf seinem Landsitz zu sein. Der Zustand des Hauses zeugt leider von der langen Abwesenheit der Familie, daher waren die Dorfbewohner tagelang damit beschäftigt, das Innere des Hauses und den Hof in Ordnung zu bringen. Dieses Jahr geben sie sich besondere Mühe, denn schließlich kommt Jürgen, der Erbe Kieckows, mit seiner Frau zum Osterfest nach Hause.

Wie viel freundlicher ist Kieckow doch im Frühjahr. Zwar gibt es außer den früh blühenden Krokussen noch kaum Blumen, die Wiesen und Bäume sind jedoch in einen zartgrünen Hauch getaucht, der neue Hoffnung ausdrückt. In Ruth erwacht eine erste Zuneigung zu ihrer künftigen Heimat.

Hans Hugo von Kleist hat zu seiner Rolle als Hausherr zurückgefunden und die zweimal täglich stattfindenden Gebete in Kieckow wieder eingeführt. Morgens und abends versammeln sich alle Bediensteten und Familienmitglieder in der weiß getünchten Eingangshalle des Gutshauses. Der einzige Unterschied zu früher besteht darin, dass Jürgens Mutter nicht mehr dabei sein kann und dass es keine kleinen Kinder gibt, die auf dem Boden sitzend mit ihren zarten Stimmen in den Abschlusschoral einstimmen. Im Gutshaus von Kieckow hat es immer Kinder gegeben und Hans Hugo von Kleist hofft, dass bald wieder welche im Haus sein werden.

Entlang der Wände stehen einfache Holzbänke, die für alle ausreichend Sitzplatz bieten. Der Vater bleibt als Einziger stehen und liest einen Text aus der Bibel, den er im Anschluss erläutert. Die Einfachheit und Klarheit dieser Aussagen und das Singen des Chorals »Morgenglanz der Ewigkeit«, der zur Familienhymne der Familie Kleist erkoren wurde, bewegen Ruth sehr.

Jürgen erinnert sich an ein Ereignis in seiner Kindheit, an dem dieses Kirchenlied ebenfalls gesungen wurde. Es war ein herbstlicher Morgen, kurz vor Sonnenaufgang, als er sich auf dem Weg ins Internat befand. Er saß neben seinem Vater in einer der Kutschen aus Kieckow und zitterte nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Angst, denn es war noch dunkel, als sie sich auf den Weg machten.

Als sie Klein Krössin erreichten und in die Postkutschenstraße einbogen, verfärbte sich der Himmel rot von der aufgehenden Sonne. In dem Moment ertönte des Vaters Stimme mit dem Jürgen so bekannten Kirchenlied. Der Kutscher stimmte mit ein (es gab damals in Kieckow niemanden, der dieses großartige Lied nicht kannte), nach einer Weile erhob auch der Junge zaghaft seine Stimme. Wie durch ein Wunder verschwand seine Angst vor der noch unbekannten Schule. Ruth ist mit dieser Geschichte nun ebenso vertraut wie Jürgen selbst, denn sie ist Teil des Kleistschen Erbes, das jetzt auch das ihre ist.

Als die Eltern Kleist in Kieckow lebten, wurden die morgendlichen und abendlichen Gebetsstunden durch die große, am Dach des Hauses außen angebrachte Eisenglocke eingeläutet. Damals nahmen alle Dorfbewohner an den Andachten teil, was Ruth tief berührt. Wenn sie und Jürgen einmal Kieckow übernehmen, wird diese Glocke wieder alle Dorfbewohner zum Gebet des Haushalts rufen. Ruth ist zu der Überzeugung gelangt, Gott ist in Kieckow allgegenwärtig. Trotz ihrer Jugend entsteht bei ihr das Gefühl, es werde einmal an ihr sein, diesen Zustand aufrechtzuerhalten.

Ruths erstes Osterfest in Kieckow wird jedoch von einigen Unsicherheiten überschattet. Sie treten hauptsächlich in Gesprächen zwischen Jürgen und seinem Vater zutage, wirken sich jedoch auch auf Ruths Verhältnis zu Hans Anton und Elisabeth aus.

Gibt es keine gegenteiligen Abmachungen, so wird in Preußen der gesamte Landbesitz an den ältesten Sohn vererbt. Laut Gesetz dürfen Güter nicht geteilt werden, was historisch gesehen der Machterhaltung im Königreich gedient hat. Innerhalb der Familien ist dadurch jedoch häufig Zwietracht entstanden.

Hans Anton, der älteste Sohn, leidet seit seiner Kindheit an einer Lähmung, weshalb ihm die militärische Laufbahn verwehrt blieb. Sein Studium konnte er aber beenden und er begann eine Karriere in der preußischen Verwaltung. Jürgen, Kleists zweitältester Sohn, wünschte sich nichts sehnlicher, als die militärische Laufbahn einzuschlagen – ein Junker3 im ursprünglichen Sinne des Wortes zu werden. Vater Kleist aber war anderer Meinung und wählte für seinen dritten Sohn die militärische Laufbahn, denn dessen Erfolgsaussichten für ein Studium waren gering. Dieser Sohn namens Friedrich Wilhelm, Patenkind des verstorbenen Königs, dessen Namen er auch trug, erkrankte im Verlauf seines Militärdienstes und starb. Nun gibt es noch Elisabeth, die den Namen der verstorbenen Königin, ihrer Patin, trägt. Sie begleitet und versorgt ihren Vater, seitdem er zum Witwer wurde. Traditionsgemäß ist sie die Herrin von Kieckow. Wie Ruth sollte auch Elisabeth eines Tages heiraten und Herrin eines anderen großen Landsitzes werden, also das Leben führen, auf das sie vorbereitet wurde. Dies ist jedoch nicht eingetreten – und es wird auch nie mehr der Fall sein. Elisabeth bleibt mit Kie­ckow verbunden, wo sie, wann immer sie dort ist, wie ihre Mutter früher das einfache dunkle, auf dem Land übliche Kleid trägt. An Sonntagen und während der Fastenzeit legt sie, wie einst ihre Mutter, das schwarze Stolbergsche Juwelenkreuz an, das Symbol der Herrin von Kieckow.

Oktober. Wieder einmal, zum dritten Mal im 19. Jahrhundert, wird ein Kleist aus Kieckow Landrat des Kreises Belgard. Die Ernennung und der Umzug bringen viele Vorteile mit sich. Jürgens rascher Aufstieg zum Landrat von Belgard war eigentlich überraschend, denn in diesem Kreis gibt es einige, die der Meinung sind, die Kleists seien zu etabliert und zu mächtig. Vater Kleist wurde jedoch nicht müde, sich für seinen Sohn einzusetzen, was schließlich zum Erfolg führte.


Ruths Schwiegervater Hans Hugo von Kleist

Der Landrat von Belgard muss sich mit einer bescheidenen Wohnung zufriedengeben. Sie befindet sich im zweiten Stock eines alten Fachwerkhauses am Ufer des Flusses, der sich von Kieckow in nördlicher Richtung bis zur Ostsee schlängelt. Der Besitzer des Hauses, der im Nachbarhaus eine Färberei betreibt, wohnt im Erdgeschoss. Beide Wohnungen und die Färberei verbindet ein viel genutzter, belebter Hof, in dem sich auch Stallungen befinden. Ein weiterer positiver Aspekt der Belgarder Wohnung, außer der Lage am Flussufer, ist der parkähnliche Garten auf der anderen Straßenseite, der dem Hausbesitzer gehört. Von ihrem kleinen Balkon aus können Ruth und Jürgen über den Hof auf die riesige alte Eiche blicken, die das beherrschende Element des Gartens darstellt, und sich die Fliederbüsche vorstellen, die sie hier zum Frühlingsbeginn pflanzen werden.

November. Hans Jürgen von Kleist, Namensvetter seines Urgroßvaters und der ganze Stolz seiner Eltern, erblickt zu Hause in Belgard das Licht der Welt. Der Termin für die Taufe wird so gewählt, dass alle noch lebenden Großeltern teilnehmen können. Der Graf und die Gräfin von Zedlitz und Trützschler sind von Posen gekommen; Hans Hugo von Kleist hat eine besonders hitzige parlamentarische Debatte in Berlin verlassen und ist nach Kieckow geeilt, um an diesem großen Ereignis teilhaben zu können. Persönlich bringt er die Taufschale aus Kieckow nach Belgard. Sie hat bereits zwei Generationen von Kleist-Kindern zur Taufe gedient. Wegen des rauen Klimas muss die Taufe in der bescheidenen Wohnung der Eltern abgehalten werden. Danach findet ein kleines Essen statt, auf dem natürlich die unvermeidlichen Reden nicht fehlen dürfen! Beide Großväter sind begabte Redner, die es sich nicht nehmen lassen, die Bedeutung dieses Familienereignisses und den Platz des neugeborenen Kindes in der Ewigkeit und der Vergänglichkeit des Universums darzustellen.

1887, März. Wilhelm I., Kaiser des Deutschen Reiches, feiert seinen 90. Geburtstag im Neuen Palais zu Potsdam. Das gesamte preußische Herrenhaus, darunter auch Hans Hugo von Kleist und Graf Robert von Zedlitz und Trützschler, wurde zu diesem Ereignis eingeladen. Die Feier ist mehr eine Versammlung der preußischen Aristokratie, der alten Garde, als ein Staatsakt des Deutschen Reiches. Wie üblich steht Reichskanzler Bismarck im Mittelpunkt des Geschehens. An diesem Tag scheint er erregt, er ärgert sich offensichtlich über einige von Kronprinz Friedrich Wilhelm und seiner Frau Victoria getroffene Anordnungen.

Kronprinzessin Victoria, die erstgeborene Tochter der Queen Victoria und des Prinzen Albert, hat nach Meinung Bismarcks einige gefährliche politische Ideen aus England in ihre neue Heimat mitgebracht, die auch ihren Mann infi­ziert haben. Ungeachtet seiner früheren Zuneigung zu englischen Frauen (ihm wird nachgesagt, als junger Mann zwei englische Schönheiten geliebt zu haben), verachtet er Prinzessin Victoria und ist voller Sorge um die Zukunft des Deutschen Reiches nach dem Tod Wilhelms I. Der in die Jahre ge­kommene Reichskanzler ist so beunruhigt, dass er auf eine gött­liche Fügung hofft – vielleicht könnte der Kronprinz vor seinem Vater sterben? Die ganze Welt weiß von Friedrich Wilhelms schwacher Gesundheit, auch wenn es der Hof nie zugegeben hat; daher befindet sich bei dem festlichen Anlass in der großen Halle des Palastes Prinz Wilhelm, der älteste Sohn des Kronprinzen und Enkel des Kaisers und damit Zweiter in der Thronfolge, an der Seite des Fürsten Bismarck. Nachdem Hans Hugo und Graf Robert auf ein langes Leben mit vielen derartigen gesellschaftlichen und politischen Ereignissen zurückblicken können, sind sie in der Lage, politische Schlussfolgerungen aus scheinbar so banalen Dingen wie den Bewegungen des Reichskanzlers während einer Geburtstagsfeier zu ziehen. Die beiden tauschen leise, hinter vorgehaltener Hand, ihre Beobachtungen und ihre Besorgnis darüber aus.

Weit entfernt von der spannungsgeladenen Situation in Berlin geht der junge Landrat von Belgard mit Energie und voller Optimismus an seine berufliche Aufgabe. In einer geräumigen Wohnung neben der Färberei von Belgard sorgt Ruth liebevoll und zufrieden für ihren kleinen Sohn. Ein leichter Schatten, der im zweiten Jahr der vielversprechenden Ehe über dem Glück der jungen Familie liegt, steht mit der unsicheren Zukunft, über die sich die ältere Generation in Berlin sorgt, jedoch in keinem Zusammenhang. Er wird vielmehr verursacht von der besitzergreifenden Art der jungen Ehefrau ihrem Mann gegenüber, beruhend auf einer übertrie­benen Angst, Jürgen zu verlieren, von der sie schon einmal, kurz nachdem sie ihn kennengelernt hatte, befallen war. Zwar schilt sie mit sich wegen ihres kindischen Benehmens, doch kann sie unglücklicherweise nur schwer die Fassung bewahren, wenn Jürgen die Nacht nicht zu Hause verbringen kann, was mindestens einmal im Monat sein muss.

60 Kilometer südlich von Belgard liegt Bad Polzin, die zweite blühende Stadt des Kreises Belgard. Jeden Monat verbringt Jürgen zwei Tage in Polzin; der Abschied ist für Ruth schier unerträglich. Vom Balkon aus beobachtet sie, wie die Kutsche in Richtung Süden auf der Landstraße ihren Bli­cken entschwindet, und jedes Mal bricht sie in Tränen aus.

Jürgen erfüllt die Arbeit in seinem Kreis mit großem Optimismus. Seine täglichen Aufgaben erledigt er äußerst gewissenhaft, die Fahrten nach Polzin genießt er. Er stellt Fragen und beobachtet alles genau, in der Hoffnung, die hier verwirklichten innovativen Ideen in Belgard einführen zu können. Glücklicherweise wird er nicht abgelenkt durch Gedanken an die auf dem Balkon weinende, vom Abschiedsschmerz überwältigte Ruth. Weder sie noch die Dienstboten werden ihm je ein Sterbenswörtchen davon erzählen.

Auf seinen Besuchen in Polzin tankt Jürgen Energie und Inspiration. Außer der Einwohnerzahl – in beiden Städten leben etwa 3 000 Menschen – haben Belgard und Polzin so gut wie nichts gemeinsam. Belgards Gründung geht zurück auf Jürgens Vorfahren Klest, der im 13. Jahrhundert dem Deutschen Ritterorden nach Pommern folgte, während Polzin im 16. Jahrhundert unter polnischer Herrschaft entstand und ursprünglich von jüdischen Siedlern bewohnt war. Heu­­te sind zehn Prozent der Bevölkerung jüdisch, die Stadt ist reich an vorbildlichen, modernen Unternehmen – ein blühendes Zentrum des Handels in der sonst trägen pommerschen Wirtschaft. Die Juden sind hauptsächlich im Viehhandel und in der Lederherstellung beschäftigt. Daneben gibt es die nichtjüdischen Weber, deren Fleiß und Handwerkskunst die Stadt in ganz Preußen berühmt gemacht und ihr einen beneidenswerten Reichtum verschafft haben. Die Straßen in Polzin sind gesäumt von prächtigen, aus Ziegel und Stein gebauten Wohn- und Geschäftshäusern, umgeben von sorgfältig gepflegten öffentlichen Promenaden und Parks. In der Stadt verkehren so viele Kutschen wie nirgendwo sonst im ländlichen Pommern. Für den Kreis Belgard ist es ein Segen, über ein so reiches Zentrum innerhalb seiner Grenzen zu verfügen. Jürgen hegt den Wunsch, die Lebendigkeit und die außerordentlichen Leistungen Polzins auch in die nördlichen Randgebiete seines Bezirks übertragen zu können.

Diesbezügliche Pläne hat er bereits mit seinem Vater besprochen, der vor 30 Jahren ähnliche Beobachtungen gemacht und Vergleiche angestellt hat. Als der Vater noch Landrat von Belgard war, setzte er beispielsweise bei der Kreisverwaltung höhere Steuern auf Grundbesitz durch, die dem Polziner Krankenhaus zuflossen, damit jeder Bürger des Kreises kostenlose medizinische Behandlung erhalten konnte.

Für Vater Kleist ist das Leben eine Schwarzweißmalerei mit wenigen Grauschattierungen dazwischen. Vor zehn Jahren hatte er damit begonnen, sich sehr für eine neue politische Bewegung, die Christlich-soziale Partei, zu engagieren. Diese Bewegung wurde von Adolf Stoecker ins Leben gerufen, dem charismatischen Oberhofprediger, dem Vater Kleist sehr zugetan war. Der Name von Stoeckers Vereinigung besagt bereits, wofür sie sich einsetzt – soziale Reformen, Ver­bes­serung der Situation der Arbeiterschaft, Verminderung der Klassengegensätze und vor allem für eine Verbrüderung auf christlicher Basis. Einem feudalistischen, vom Konservativismus durchdrungenen Menschen, der gleichzeitig vom Geist der Wiederbelebung des Christentums im Pommern des 19. Jahrhunderts erfüllt ist, bieten Stoeckers radikale Ideen eine gesellschaftliche Erneuerung im evangelischen Sinne.

Die Kehrseite dieser Partei ist ihr heftiger, eklatant zur Schau getragener Antisemitismus, den Kronprinz Friedrich Wilhelm als »Schande und Schmach für Deutschland« bezeichnet hat. Hans Hugo ist sich der Schattenseite von Stoeckers christlichem Idealstaat wohl bewusst, verteidigt ihn aber mit der Aussage, die Darstellung der Juden sei nicht ganz ungerechtfertigt und überhaupt nur Teil eines Programms, mit dem die geistigen Qualitäten ganz Deutschlands neu belebt werden könnten.

Männer wie Hans Hugo haben eine zwiespältige Einstellung zu den wenigen Juden, denen sie im täglichen Leben begegnen. Zum einen bewundert er die Betriebsamkeit der Stadt Polzin, des Handelszentrums des Kreises Belgard, dessen Mittelschicht von Juden dominiert wird. Dennoch distanziert er sich von allen Juden mit der Behauptung, sie seien nicht besser als Straßenmusikanten. Als sein Sohn sein Befremden über diesen unpassenden Vergleich äußert, berichtet ihm der Vater von seinen Schwierigkeiten, als er noch für Kieckow zuständig war.

Damals gab es nichts Schlimmeres für die Arbeit auf dem Gut als eine Gruppe von Straßenmusikanten. Sie kamen morgens, blieben den ganzen Tag, machten Musik für das ganze Dorf und kassierten bei den Dorfbewohnern ab. Die Arbeiter opferten ihre letzten, hart verdienten Münzen, eine reine Geldverschwendung für die Leute und ein verlorener Arbeitstag für den Gutsbesitzer. Nach Vater Kleists Ansicht seien die jüdischen Händler nicht besser. Sie kamen nach Kieckow in der Absicht, Tierhäute zu kaufen, kamen aber nur dann, wenn der Gutsverwalter nicht da war. Die Arbeit im Dorf kam zum Stillstand, während sie zankten und feil­sch­ten und Geld oder wertlosen Plunder anboten im Tausch gegen die großen und kleinen Häute, welche die Männer während der Saison zusammengetragen hatten. Dafür bekamen sie nach Vaters Überzeugung viel weniger, als die Häute wert waren, weswegen er seit dieser Zeit die Juden in Kie­ckow nicht mehr duldete.

Jürgen erinnert seinen Vater daran, dass die jüdischen Händler die Bauern wenigstens mit Geld bezahlt hätten, wovon es in Kieckow wahrhaftig äußerst wenig gab. Außerdem, fährt Jürgen voller Zuversicht fort, werden die expandierende Eisenbahn und die neuen landwirtschaftlichen Methoden die fahrenden Händler und Musikanten bald vertreiben. Für Neinsager und noch mehr für Demagogen hat er nichts übrig. Was Jürgen dabei übersieht, ist, dass Ideen nur langsam sterben und die Menschen glauben, sich nicht er­innern zu können, aber auch nicht bereit sind, zu vergeben und zu vergessen. 30 Jahre nach Vaters Verwicklung in Adolf Stoeckers idealistischen Feldzug wird ein Mann namens Adolf Hitler Stoeckers Thesen überarbeiten, alle christlichen Elemente daraus verwerfen und die antijüdischen As­pekte wei­terentwickeln. Hitlers Thesen werden in ein Buch mit dem Titel »Mein Kampf« eingehen. Nur wenige Deutsche werden dieses Buch lesen, einige dieser wenigen aber werden von der idealisierten Darstellung der Nation und des Volkes begeistert sein. Sie werden vielleicht sogar Entschuldigungen für die unvertretbaren und widersinnigen rassis­tischen Thesen finden, ähnlich wie Vater Kleist damals mit Stoeckers Ideen verfahren war.

Unter den wenigen, die »Mein Kampf« gelesen haben, wird es aber auch Einzelne geben, die erkannt haben, wie ernst es Adolf Hitler mit seinen rassistischen, gegen die Ju­den oder die Slawen gerichteten Theorien meint. Dazu wer­den zwei Kleists aus Pommern gehören, der eine aus Kie­ckow und der andere aus Schmenzin. Sie werden ihre Warnung schriftlich in einem Traktat niederlegen, das keine Beachtung finden wird. Dessen ungeachtet werden die Deutschen 60 Jahre später, 100 Jahre nach Stoeckers Umtrieben, einander zuflüstern: »Ja, die Kleists aus Pommern, die sind schon seit Jahrhunderten Antisemiten.«

1888, März. Ruth erwartet ihr zweites Kind, aber dennoch befindet sie sich mit Jürgen auf Händen und Knien im Garten gegenüber der Färberei von Belgard. Die beiden pflanzen zusammen die Fliederbüsche, die sie aus Kieckow mit­gebracht haben, und der kleine Hans Jürgen sieht ihnen dabei zu.

Graf Robert von Zedlitz und Trützschler steht bloßen Hauptes vor der Garnisonskirche in Potsdam. Vor seinen Augen wird der Sarg Kaiser Wilhelms I. von einem bespannten Leichenwagen heruntergehoben. Die Leibgarde des Königs salutiert vor dem Sarg. Robert ist begeistert von den präzisen Bewegungen der Leibgarde und erinnert sich an die Zeit, als er selbst Leibgardist war. Fast reflexartig salutiert auch er. Wie hat sich die Welt doch verändert in all den Jahren.

In seiner Nähe steht auch Hans Hugo von Kleist, ebenfalls in Gedanken versunken, während er den Weg des Sarges und das Salutieren für den verstorbenen Kaiser beobachtet. Der heutige Tag ist ein Tag der Trauer für Vater Kleist. Kalt bläst der Wind; der neue Kaiser Friedrich III., wie er sich entgegen der preußischen Tradition nennt, ist todkrank; Otto von Bismarck wirft nicht einen Blick in Richtung seines »Onkels Hans«.

Juni. Schon wieder stehen Graf Robert von Zedlitz und Trützschler und Hans Hugo von Kleist bloßen Hauptes ne­beneinander vor der Garnisonskirche. Diesmal wird der Sarg Friedrichs III. in die Familiengruft der Hohenzollern getragen. Er, der bei Amtsantritt bereits schwer an Krebs er­krankt war, konnte sein Amt nur 99 Tage ausüben. Die königliche Leibgarde salutiert vor dem Sarg und wendet sich dann, um dem neuen König und Kaiser, Friedrichs Sohn Wilhelm II., zu salutieren.

Mit dem Mut einer Frau

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