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»Treu bis zum Tode«

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1896, November. Durch das Fest wurde Jürgens Gemütszustand stark verbessert, es konnte jedoch nicht dazu beitragen, seine ständig fortschreitende Krankheit aufzuhalten. Ruth ist stolz darauf, wie sehr Jürgen und den Dorfbewohnern dieses von ihr ganz allein organisierte Fest gefallen hat, ihre frohe Stimmung schlägt jedoch schnell um, als sie Jürgens schlimmer werdende Schmerzen bemerkt. Es fällt ihm bereits schwer, zu essen, er magert zusehends ab. Sein Arzt verschreibt ihm abermals einen einmonatigen Ortswechsel, diesmal in ein Sanatorium im Süden. Einen ganzen Monat lang erholen sich Jürgen und Ruth, die mit ihrem fünften Kind schwanger ist, in einem Kurort in den Bergen. Pflichtbewusst trinken sie das Wasser, baden in den mineralischen Heil­bädern und halten sich an eine milde Diät, die den Kranken gesund machen und der werdenden Mutter guttun soll. Jürgens Zustand bessert sich jedoch nicht merklich.

1897, Mai. Die dritte Tochter von Ruth und Jürgen wird in der Residenz des Landrats von Belgard geboren. Wenige Tage später wird sie in der alten Marienkirche auf den Namen Ruth getauft, das Wasser dazu wird der Taufschale aus Kie­ckow entnommen. Ihre Mutter vergießt Tränen des Glücks und der Trauer, ahnt sie doch, dass ihre jüngste Tochter den Vater nie richtig kennenlernen wird.

Oktober. Die Residenz des Landrats in Belgard steht fast leer, seit der Landrat nicht mehr in der Lage ist, seinen beruflichen Pflichten nachzukommen. Leidend schleppt er sich auf dem Gut umher, sitzt allein auf der Veranda und versucht, im Anblick des Waldes Trost zu finden. Weder seine Frau noch die Kinder, nicht einmal seine jüngste Tochter, können seine Leiden lindern, da die Schmerzen unerträglich geworden sind. Nach Ansicht des Arztes leidet Jürgen an einer Nierenerkrankung, die sich in ihrem weiteren Verlauf auch auf sein Gehirn auswirken wird. Die Diagnose bestätigt sich, denn mittlerweile erkennt Jürgen kaum mehr seine eigenen Kinder. Zwar hat der Arzt jede Hoffnung auf Heilung aufgegeben, aber dennoch schlägt er Ruth vor, Jürgen noch einmal in ein Sanatorium zu bringen.

Ruth ist hin- und hergerissen zwischen den Bedürfnissen ihres Mannes und ihren Mutterpflichten, letztendlich entscheidet sie sich zugunsten ihres Mannes. Der Winter steht vor der Tür und es kostet Ruth ihre gesamte Kraft, Jürgen in ein Sanatorium in den österreichischen Alpen zu bringen. Unter Mithilfe des Kutschers und des Gutsverwalters wird er in die Kutsche geladen zur Fahrt nach Belgard, wo er in ein Zugabteil, das in ein Kojenbett umgebaut worden war, getragen wird. Von da ab ist sie allein mit ihrem Patienten und versucht, ihm die Reise so bequem wie möglich zu machen. In Dresden müssen sie in einen anderen Zug umsteigen, um nach Österreich zu gelangen. Lange vor der Ankunft in Dresden verschlechtert sich Jürgens Zustand so dramatisch, dass Ruth den Entschluss fasst, nicht weiterzufahren. In Dresden angekommen, holt sie Hilfe herbei und lässt ihren sterbenden Mann in ein Hotelzimmer bringen.

November. Jürgen von Kleist verlässt diese Welt in einem ihm fremden Hotelzimmer in Dresden. Ruth kehrt mit dem Sarg ihres verstorbenen Mannes im Zug nach Kieckow zurück. Ihr ganzes Leben lang hat sie ein Übermaß an Tränen vergossen, auch wenn es manchmal gar nicht notwendig war, aber jetzt fließt keine einzige.

Der große Saal ist schwarz dekoriert, Jürgens Sarg steht bis zu seiner Bestattung in der Mitte des Raumes. Ruth, die noch kaum Todesfälle in der Familie erlebt hat, fühlt sich zunächst getröstet durch die kleineren Kinder, die, scheinbar ungestört durch den Sarg, weiterhin ihren Spielen nachgehen. Eines Nachmittags jedoch, als sie am Zimmer der Buben vorbeikommt, dringt herzerweichendes Weinen durch die geschlossene Tür. Sie betritt das Zimmer und findet den siebenjährigen Konstantin in tiefem Schmerz auf dem Boden liegend. Als sie ihn in die Arme nimmt und ihn endlich beruhigen kann, bittet der Junge sie, den Sarg zu öffnen, damit er einmal noch seinen Vater ansehen könne. Ruth muss es ihm verweigern. Nie wieder in seinem Leben wird Konstantin Tränen vergießen. Es wird gelegentlich vorkommen, dass sie ihm in die Augen treten, aber er wird so lange die Zähne zusammenbeißen, bis sie vergehen. Für einen Junker schickt es sich nicht, zu weinen.

Jürgens Schwester Elisabeth, sein Bruder Hans Anton, der Graf und die Gräfin von Zedlitz sowie Ruths Schwestern und Brüder sind mit ihren Ehepartnern in Kieckow versammelt. Elisabeth trägt Trauerkleidung und um den Hals das goldumrandete Stolbergsche Kreuz. Davon nimmt Ruth jedoch keine Notiz, ihre Trauer ist zu tief. Sie trägt das lange, schwarze Kleid, das damals für sie genäht wurde, als ihr Schwiegervater Hans Hugo starb.

Von nah und fern kommen Besucher, um an der Beerdigung teilzunehmen und um der jungen Witwe zu dem schweren Verlust ihre Anteilnahme auszusprechen, deren verstorbener Mann die Hoffnungen auf die Zukunft Preußens und des Deutschen Reiches verkörpert hatte. Die Kirche von Kieckow ist zum Bersten gefüllt, allein der Platz des Gutsherrn bleibt leer – für Ruth ein sehr schmerzhafter Hinweis, dass Jürgen nie wieder an ihrer Seite sein wird. Im Friedhof neben der Kirche war bereits ein Grab ausgehoben, nach dem Gottesdienst ordnet die Witwe jedoch an, der Sarg solle nicht auf den Friedhof, sondern in die Gruft unterhalb der Kirche neben die Särge seiner Eltern getragen werden.

Nachdem der Sarg dort abgestellt ist, bittet Ruth, allein gelassen zu werden. Mit der kleinen Ruth auf dem Arm führt sie dann ihre vier größeren Kinder die drei Stufen hi­nunter in die Gruft. Hans Jürgen hält Spes fest an der Hand, Maria klammert sich schutzsuchend an Konstantin. Ruth versammelt ihre Kinder rund um den Sarg und spricht Worte zu ihnen, die sie noch nicht verstehen: »Treu bis zum Tode – so war euer Vater und auch euer Großvater vor ihm. Das werden auch wir sein. So lautet mein Glaube, möge es auch der eure werden – treu bis zum Tode.«

An den darauffolgenden Tagen verabschieden sich die Freun­de und Familienmitglieder nach und nach von der trau­ernden Familie in Kieckow. Schließlich ist nur noch Ruths Vater geblieben. Ruth, die zum ersten Mal mit ihm allein ist, wirft sich ihm in die Arme. Nun stürzen alle Tränen, die seit Jürgens Tod unterdrückt waren. »Vater, ich schaffe es nicht«, weint sie. Ohne zu zögern antwortet er: »Jetzt im Moment kannst du es nicht, mein Kind, aber du wirst es lernen.« Die beiden sprechen von der Zukunft Kieckows.

Unter den Junkern gibt es kaum Fälle, in denen Landbesitze nach dem Tod des Herrn von der Witwe weitergeführt werden. In der Familie Kleist war dies einmal bereits der Fall, als die verwitwete Mutter des ersten Hans Jürgen Mut genug hatte, Groß Tychow und Klein Krössin zu erhalten, bis ihr Sohn erwachsen war. Seither ist ihre Beherztheit immer wieder bewundert worden. Ruths Vater versichert ihr, sie sei aus dem gleichen Holz geschnitzt und könne es ebenso schaffen. Ruth erklärt sich bereit, die Herausforderung anzunehmen, auch wenn sie wenig Vertrauen in ihre Fähigkeit, ein Gut zu leiten, setzt.

Nach der Abreise des Vaters ist Ruth allein mit ihrer Trauer, ihren Kindern, dem Gutshaus, zwei Dörfern und einem großen landwirtschaftlichen Betrieb. Sobald seine Kutsche außer Sichtweite ist, geht sie an das Büfett im Speisesaal, entnimmt zwei Kerzenleuchter aus Zinn, zwei lange Kerzen, Streichhölzer und einen Feuerstein, eilt dann zu dem großen Garderobenschrank in der Eingangshalle, wählt einen Umhang mit Kapuze, zieht ihn an und verlässt leise das Haus. Die Sonne ist längst untergegangen, aber es ist noch nicht Zeit zum Abendessen. Sie läuft die Straße hinunter, nach links durch das Dorf, am Teich vorbei zur Rückseite der Kirche und steigt die drei Stufen zur Gruft hinab. Sie öffnet die Tür und betritt den dunklen, feuchten Raum. Vorsichtig tastet sie sich zum Altar, steckt die Kerzen in die Leuchter und entzündet sie mit einem Streichholz. Mehr als eine Stunde lang ist sie mit Jürgen allein, als die Hausdame in der Tür steht. »Gnädige Frau? Frau von Kleist, Ihre Kinder warten auf Sie und das Baby weint. Bitte kommen Sie zum Abendessen.«

1898, Juni. Zuversichtlich und voller Energie kommt Ruths Vater aus Großenborau in Kieckow an, bereit, die Situation des Landbesitzes mit seiner Tochter und dem Verwalter zu besprechen. Er wird in Belgard mit der Kutsche abgeholt und zum Gutshaus gebracht, wo er an der Tür von Ruth und einer Schar Kinder begrüßt wird. Dass die junge Mutter, gerade 32 Jahre alt, sogar zu Hause von Kopf bis Fuß tiefstes Schwarz trägt und ihr Gesicht mit einem schwarzen Schleier bedeckt, beunruhigt ihn. Dennoch ist es ein fröh­liches Wiedersehen, als alle zusammen in der Bibliothek den Tee einnehmen. Ein Diener geleitet dann den Vater hinauf ins Gästezimmer im ersten Stock. Er öffnet gerade erst seine Tasche, als es schon an der Tür klopft. Es ist die Hausdame. »Der Herr Graf möge mich entschuldigen, ich würde ihn gerne einen Moment sprechen.« Graf Robert bittet sie einzutreten und schließt die Tür; beide bleiben stehen. »Es geht um Ihre Tochter, Frau von Kleist; es stimmt etwas nicht mit ihr. Jede Nacht ist sie unten in der Gruft und sitzt bei den Toten. Mindestens einmal die Woche beteiligt sie sogar die Kinder daran. Ich weiß, es ist nicht gut für sie, aber ich habe da keinen Einfluss. Ich wollte nur, dass Sie wissen, wie es steht. Bitte entschuldigen Sie mich, Herr Graf.«

Mit einem Knicks verabschiedet sie sich, geht zur Tür, öffnet sie und ist verschwunden.

Zwei Tage lang lässt sich der Vater Zeit, um zu beobachten. Besonders auf seine älteste Enkelin Spes richtet er sein Augenmerk, die, jetzt zehn Jahre alt, ihn ein wenig an seine Tochter Ruth erinnert. Sie besitzt dasselbe Temperament wie Ruth, ihr fehlt jedoch ein wenig die starke Führung, die nur ein Vater geben kann. In Gedanken nimmt er sich vor, hier später vielleicht behilflich zu werden. Ansonsten findet er die Kinder in jeder Weise vorbildlich, was ihm unter vier Augen auch von dem Kindermädchen und der erst kürzlich eingestellten Gouvernante bestätigt wird. Wie ihm der Verwalter berichtet, ist die Aussaat in vollem Gange und der landwirtschaftliche Betrieb scheint in guten Händen zu sein. Über die Schulden, die auf Kieckow lasten, kann er jedoch nur mit Ruth sprechen. Dafür, entscheidet er, ist aber noch nicht die richtige Zeit gekommen.

Am dritten Abend seines Besuchs spricht er seine Tochter in der Bibliothek direkt an: »Ruth, es ist an der Zeit, mit dem Trauern aufzuhören. Nimm Hut und Schleier ab, sie sind nicht mehr gut für dich. Kümmere dich um deine Kinder, bevor du es vielleicht einmal bereust. Und lass die Toten in Frieden ruhen, auch deinen Mann Jürgen. Gib morgen den Arbeitern die Anweisung, drei Gräber auszuheben, bestatte die Särge und verriegele die Tür zur Gruft. Ich halte den Zustand unter der Kirche für barbarisch, ja sogar für unchristlich.«

Ruth schockieren die Worte ihres Vaters und wieder fließen die Tränen so, dass sie nicht sprechen kann. Der Vater wartet geduldig, bis sie die Fassung wiedergewinnt. Dann erklärt sie ihm, die Särge von Jürgens Eltern seien nicht beerdigt worden, da sich nach dem Tod von Jürgens Vater die Geschwister nicht entschließen konnten, ihre Eltern auf dem Friedhof von Kieckow zu bestatten. Warum, wisse sie nicht, da Jürgen nie darüber sprechen wollte. Dass es mit Jürgen so nicht weitergehen könne, wisse sie. In Wirklichkeit täte es ihr weh, seinen Sarg in der dunklen Gruft sehen zu müssen, aber bislang konnte sie sich einfach noch nicht zu der Anweisung durchringen, ihn begraben zu lassen. Sie geht zu ihrem Vater und umarmt ihn voll Dankbarkeit.

Am Morgen von Vaters letztem Tag in Kieckow ergeht die Anordnung, den verstorbenen Gutsherrn beerdigen zu lassen. Am Nachmittag begeben sich Ruth, ihr Vater und die fünf Kinder zum Friedhof, wo der Pastor ohne allzu viel Emotionen eine fast nüchterne, mit vielen Gebeten angereicherte Andacht hält. Nach der Segnung hebt der Vater seine Hand, als wolle auch er die Gruppe segnen. Stattdessen erklärt er mit einer Stimme, die sonst im Parlament angebracht ist: »Die Zeit der Trauer in Kieckow ist vorbei.«

Am nächsten Morgen begleitet Ruth ihren Vater im offenen Wagen nach Belgard. Sie sitzt neben ihm und dem Kutscher auf der Bank, sie trägt ein einfaches, schwarzes Kleid, dazu einen schwarz-weißen Umhang und ihren schwarzen Hut, jedoch keinen Schleier mehr. Auf der Straße zwischen Kieckow und Klein Krössin winken die Männer von den Feldern ihrer Herrin und dem Besucher zu. Die beiden winken zurück und lächeln freundlich.

Juni. Nachdem Ruth nun nicht mehr in die Gruft gehen muss, hat sie eine andere Möglichkeit gefunden, ihren unersetzlichen Verlust zu überwinden. Sie hat sich vorgenommen, die Geschichte ihrer Ehe niederzuschreiben, damit sie und ihre Nachfahren den Mann niemals vergessen, den sie über alles liebte – Jürgen von Kleist aus Kieckow. In den langen Abendstunden des Sommers sitzt sie an ihrem Schreibtisch und beginnt, ihre Erinnerungen zu Papier zu bringen. Die Erinnerungen werden nie beendet werden. Während ihres langen Lebens schreibt Ruth immer wieder ein wenig weiter, vor allem, wenn Ereignisse der Gegenwart zu schmerzlich sind, um darüber nachzudenken. Sie erinnert sich daran, was Jürgen so einzigartig machte, ihn von allen anderen Männern unterschied, was sie so an ihm liebte, und schreibt ihre Gedanken in dem ihr eigenen Stil:

»Er war fromm im wahrsten Sinne des Wortes. Unter Frömmigkeit verstehe ich, dass ein Mensch seine Haltung, sein Tun, sein ganzes Wesen bewusst unter Go­ttes Willen stellt. Er führte ein Leben in der Zucht, die sich eigene Ungeduld nicht durchgehen lässt, die immer da­rauf bedacht ist, das Rechte zu tun. Aber er verlangte die gleiche Zucht von seiner Frau und allen, mit denen er zu tun hatte, auch von seinen Untergebenen. Er war wahrhaftig und gerecht und treu.«

Beim Schreiben dieser Erinnerungen, erlangt Ruth ihr seelisches Gleichgewicht wieder und nimmt Jürgens Hinterlassenschaft an – die Bereitschaft, die Zukunft zu gestalten, indem sie die Gegenwart meistert.

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