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»Ja, tausendmal ja«

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1870. Die Armeen König Wilhelms haben Frankreich vernichtend geschlagen. In Preußen geht dieses Ereignis als Sieg von Sedan und Sturz Napoleons III., des letzten französischen Kaisers, in die Geschichte ein.

1871. Am 18. Januar wird Wilhelm, König von Preußen, im Schloss von Versailles zum deutschen Kaiser Wilhelm I. proklamiert. Sein Reich ist das zweite Reich in der deutschen Geschichte; das erste war im Mittelalter durch Kaiser Heinrich I. gegründet worden. Die vorherrschende Rolle im zweiten, alle deutschen Fürstentümer im Süden und Westen umfassenden Reich spielt Preußen. Es ist der erste moderne deutsche Nationalstaat mit großen Gebieten, die von Slawen, Franzosen und Skandinaviern bewohnt sind. Bezeichnend ist aber auch, dass die deutschsprachigen Teile Österreich-Ungarns nicht dazugehören. Der Traum eines Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ist tot, lebendig und weit verbreitet aber ist der Geist Friedrich Barbarossas. Erstaun­licherweise spielt Wilhelm I. eine nur zögerliche Rolle in der Entstehung dieses Reiches. Er ist nicht geneigt, die Rolle des Kaisers von ganz Deutschland anzunehmen, gibt dem Drängen seines Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, jetzt Kan­zler des Deutschen Reiches, jedoch nach. Das neue Reich ist einzig und allein Bismarcks Verdienst und gleichzeitig Höhepunkt seiner Karriere. Er schafft ein gewähltes deutsches Parlament, wenn auch mit stark eingeschränkten Rechten. Der Kanzler allerdings ist direkt und ausschließlich dem Kaiser unterstellt.

Dieser kühne Schritt Bismarcks aber findet nicht nur Un­terstützung. Zu den Verfechtern des Reiches zählen die Intellektuellen, die Mittelschicht, die Industriearbeiter, die selbstständigen Bauern und sogar die Dorfbewohner aus Schlesien und Pommern. Sie tragen den Geist des Nationalismus im Herzen und glauben, ein Nationalstaat müsse unweigerlich zu wirtschaftlichem Fortschritt und einer gerechteren Gesellschaft führen. Im Gegensatz dazu befremdet dieser Schritt den preußischen Landadel, also genau jene Konservativen, die Bismarck ursprünglich zur Macht verholfen haben. Sie profi­tieren noch von den Privilegien der Feudalgesellschaft und fürchten, diese beim Entstehen einer modernen deutschen Nation zu verlieren.

1881. Graf Robert von Zedlitz und Trützschler ist einer der einflussreichsten Landbesitzer in ganz Schlesien. Sein Gut Großenborau gilt vor allem wegen der von ihm eingeführten Techniken der Hochwasserregulierung als ein vorbildlicher landwirtschaftlicher Betrieb. Der Graf ist Mitglied des schlesischen Wirtschaftsentwicklungsausschusses und konnte durch dieses Gremium seine modernen Hochwasserregulierungsmethoden in ganz Schlesien bekannt machen. So gelang es, die Hochwasser, die früher Leben und Besitz in den Fluss­tälern ständig bedrohten, wirksam zu regulieren. Robert war auch einer der Vorsitzenden einer Landbesitzervereinigung, auf deren Berliner Kongress er die Mitglieder davon überzeugen konnte, sich über ihre parteipolitischen Interessen hinaus mit gemeinsamen landwirtschaftlichen Problemen zu befassen. Seine Erfolge bei der Überwindung parteipolitischer Interessen sind seinem alten Freund, dem Kanzler, nicht verborgen geblieben; in der Tat ist Graf Robert einer der wenigen aus diesen Kreisen, auf den sich Bismarck verlassen kann.

Daher kommt es nicht überraschend, als Bismarck Robert im September 1881 zum Regierungspräsidenten in Oppeln ernennen lässt. Diese Ernennung erfolgt im Namen des Königs und nicht des Kaisers, da Kaiser Wilhelm I. Preußen weiterhin als König regiert. Unter den schlesischen Landbesitzern ruft Roberts Ernennung große Freude hervor. Einer der Ihren und nicht irgendein Fremder aus Brandenburg oder Pommern regiert nun über sie.

In Großenborau reagiert man mit einer Mischung aus Freude und Sorge auf diese Neuigkeit. Im Dorf macht sich ein Gefühl der Unsicherheit breit, da die Anwesenheit des Grafen im Alltagsleben immer von Vorteil war; andererseits ist man auch stolz auf die unerwartete Wahl des Kaisers. Die Gefühle in der Familie reichen von freudiger Erregung bis zu tiefer Trauer, bedeutet doch des Vaters neue Stellung ­den Umzug nach Oppeln in die Residenz des Regierungspräsidenten, einen richtigen Palast mit elegant möbliertem Wohntrakt und Büroräumen.

Für Ruth ist der Gedanke an den Umzug schon Vorbote für das Ende ihrer unbeschwerten Kindheit. Eine Veränderung hatte bereits stattgefunden. Ihr Bruder Rob, mit dem sie ein vertrauensvolles Verhältnis verband, war vor einem Jahr in die Militärakademie eingetreten. Er bereitet sich nun im Kadettenkorps Lichterfelde auf die militärische Laufbahn vor. Bei seinen gelegentlichen Besuchen zu Hause führt er lange Gespräche allein mit dem Vater in der Bibliothek, hinter verschlossenen Türen. Für Ruth ist Rob ein Mann geworden, während sie noch ein Kind ist. Ob das allen Kindern widerfährt, die Großenborau verlassen? Ruth vermutet, dass dies wohl so ist. Was Ruth nicht weiß, ist, dass Rob in langen Gesprächen seinen Vater inständig bittet, die Armee verlassen und den seit 700 Jahren in den Familien der Zedlitz und Trützschler üblichen Lebensweg aufgeben zu dürfen – er möchte nach Amerika auswandern und als »Selfmademan« sein eigenes Leben aufbauen. Sein Vater kann diesen unglaublichen Wunsch nicht verstehen; er plagt sich mit Selbstvorwürfen, da er meint, er habe in seiner Rolle als Vater vollkommen versagt. Später jedoch wird Rob seinen Traum aufgeben, denn er ist ja schließlich ein Zedlitz – Treue bis zum Tod!

1882, April. Gerade ist die gesamte Familie aus Lichterfelde nach Oppeln zurückgekehrt. Unter blühendem Flieder und Spiräen wurde Rob zum Leutnant des Ersten Preußischen Garde-Infanterieregiments ernannt. Ruth ist auf ihren Bruder mächtig stolz; sie behauptet, sie könne für immer und ewig seine Uniform bewundern, ohne den Blick auch nur einmal abzuwenden.

Die fünf Zedlitz-Kinder sitzen an der großen Tafel in der Residenz des Regierungspräsidenten, zwei auf der einen Seite, drei auf der anderen. Graf Robert sitzt am Kopfende, Gräfin Agnes ihm gegenüber. Ruths Platz ist zur Linken ihres Vaters. Das Tischgebet wurde bereits gesprochen und die Kinder essen schweigend ihre Suppe. Der Vater, an niemand speziellen oder vielleicht an alle gemeinsam sich wendend, sagt: »Heute hat mir der alte Kleist seinen Sohn als Referendar angemeldet.« Wenige Tage später kommt Ruth im Empfangszimmer an dem silbernen Tablett vorbei, welches als Ablage für Visitenkarten dient. Es stapeln sich dort bereits die Kärtchen, die immer zweifach abgegeben werden, eine für den Grafen, eine für die Gräfin. Obenauf liegen zwei identische Karten mit dem Aufdruck »Jürgen von Kleist-Retzow1, Kammergerichtsreferendar«.

An einem schönen Sommerabend einige Wochen später darf Ruth ihren Vater zu einem Konzert der Militärkapelle begleiten, welches im Freien außerhalb von Oppeln stattfindet. Ruth selbst lernt und spielt eifrigst Klavier, und so möchte ihr Vater ihr mit diesem Konzert eine besondere Freu­de bereiten. Nun sitzt sie neben ihm in der Loge des Regierungspräsidenten, während er die Passanten grüßt. Plötzlich wendet er sich ihr zu und deutet auf einen jungen Mann in der Ferne. »Dieser junge Mann ist Kleists Sohn«, sagt er und widmet seine Aufmerksamkeit gleich wieder denjenigen, die ihn begrüßen wollen.

Ruth jedoch kann ihren Blick von dem großen, schlanken, gut aussehenden Mann mit den dunklen Augen, dem dunklen Schnurrbart und dem bemerkenswert ernsthaften Gesichtsausdruck nicht abwenden. Sie werden einander nicht vorgestellt, auch kommt der junge Mann nicht vorbei, um dem Grafen die Ehre zu erweisen. Trotzdem weiß Ruth genauso sicher, wie sie Ruth heißt, dass dieser Mann, Kleists Sohn, sie ebenso intensiv beobachtet wie sie ihn.

Im Herbst müssen Ruth und Anni zum ersten Mal in ihrem Leben von zu Hause fort auf die Schule, die jedoch nicht weit entfernt ist – ein Diakonissenhaus in einem Nachbarort, wo die beiden auf die Konfirmation vorbereitet werden. Die Fantasien der Kindheit müssen bald Bibelsprüchen und Zitaten aus dem Katechismus weichen, die sie für die Prüfung zur Konfirmation auswendig zu lernen haben.

Dezember. Es ist wieder so weit in Oppeln: Heiliger Abend! Ruth und Anni sind von der Schule nach Hause zurückgekehrt, auch Rob hat Heimaturlaub. Nach dem Abendessen gehen Ruth, Anni und Rob zu Fuß in die Kirche. Es schneit leicht. Kaum haben die drei das Haus verlassen, als Rob von einem jungen Mann begrüßt wird, der offensichtlich an der Ecke gewartet hatte. Rob stellt diesen Mann seinen Schwestern als »mein Freund, Herr von Kleist, der beste Reserve­offizier unseres Regiments« vor. Ruth ist sprachlos vor Erstaunen, während Rob fortfährt: »Sie sind also auch auf dem Weg in die Kirche!« Und Kleist antwortet fast entschuldigend: »Es ist unter uns jungen Leuten nicht üblich, die Kirche zu besuchen, aber ich halte es mit den Gebräuchen, in denen ich aufgewachsen bin.« Ruth gehen die ersten in ihrer Gegenwart gesprochenen Worte des jungen Kleist sehr zu Herzen. Sie hört nichts mehr von dem, was im weiteren Verlauf erzählt wird, obwohl die beiden jungen Männer miteinander plaudern, bis man die Kirche erreicht hat.

Am Tag nach Weihnachten sind Vater und Mutter, Rob, Ruth und Anni außerhalb Oppelns auf Schloss Turawa zum Abendessen eingeladen. Diese Weihnachtseinladung ist Ruths erste richtige »Erwachsenen-Party«. Wieder ist »er« unter den Gäs­ten und nun beginnt Ruth langsam zu verstehen – die ne­benbei fallen gelassenen Bemerkungen beim Abendessen der Familie, die Visitenkarten auf dem Tablett, die Blicke, die sich beim Militärkonzert trafen, und das »zufällige« Treffen auf dem Weg zur Kirche. So geschehen diese Dinge in Preußen; Ruth ist noch nicht 16 Jahre alt, aber sie hat die Gabe zu beobachten und sie begreift.

1883. Wieder zurück auf der Schule sind alle Gedanken an den Juristen in Vaters Büro völlig verdrängt. Ruth lernt fleißig Luthers Katechismus und versucht, eine Unmenge von Bibelversen sowie deren Bedeutung auswendig zu lernen. Sie möchte sich gründlich auf die Prüfung des Pastors vorbereiten, da sie sich die religiöse Bedeutung der Konfirmation sehr zu Herzen genommen hat. Bewusst geworden aus ihrem Familienleben und seiner Tradition ist ihr auch die weitere Bedeutung dieses Ereignisses – nämlich der Übertritt von der Kindheit in das Erwachsenenleben. Dieser Gedanke birgt sowohl Angst als auch Freude in sich und je näher der Mai heranrückt, desto schwieriger wird es für Ruth, ihre jugendlich-romantischen Fantasien im Zaum zu halten. Ihre Kindheitsvorstellung vom Märchenprinzen ist ganz auf Jürgen von Kleist übergegangen.

November. Es ist der Beginn der Ballsaison in Oppeln – eine sorgfältig vorbereitete Serie von Festen, auf denen die höheren Töchter in die Gesellschaft eingeführt werden. Zu Hause wird der Name »von Kleist« nicht mehr erwähnt. Ruth ist der Meinung, er habe die Stadt verlassen, da Vater einmal bemerkte, er werde für einen Landrat in Brandenburg arbeiten. Ruth schwört, Kleist aus ihrem Herzen zu verbannen, da ihr die Sehnsucht nach ihm offenbar nur Leid zufügt. Heute steht Ruth geduldig vor dem Spiegel, während ihr die Schneiderin das Kleid anpasst. Das lange Haar hat sie hochgesteckt in der Hoffnung, ihre Mutter würde ihr gestatten, es so auf ihrem ersten Ball dieses Winters zu tragen. Ein neues Privileg des Erwachsenseins besteht darin, sich gelegentlich im Spiegel bewundern zu dürfen, was während der Kindheit auf Großenborau streng verboten war. Sie betrachtet die Erwachsenenfrisur und prüft ihre Figur im neuen Kleid. Sie überlegt, wie weit ihr Rock schwingen wird, wenn sie sich mit den unbekannten jungen Männern, die man im Ballsaal Oppelns trifft, im schnellen Walzertakt drehen wird. Diese Vorstellung reicht aus, um sie wenigstens ein bisschen neugierig auf den kommenden Winter zu machen. Die realistische Ader in Ruth sagt ihr, »das Leben muss weitergehen«. Der erste Ball der Saison findet beim wichtigsten Berater ihres Vaters, selbst Vater zweier heiratsfähiger Töchter und zweier Söhne, statt. Beide Söhne sind soeben zu Offizieren ernannt worden und befinden sich gerade auf Heimaturlaub. Ihre Anwesenheit ist ein willkommener Grund, ein Fest zu geben. Zu den Gästen gehören Töchter und Söhne des schlesischen Amtsadels mit ihren Eltern. Am Abend des Festes erstrahlt die Residenz im Kerzenlicht. Nun treffen auch die Kaleschen und Kutschen mit den festlich gekleideten Damen und Herren vor dem Eingang des eleganten Stadthauses ein.

Die Aufregung beginnt bereits vor dem Essen beim Punsch in der Bibliothek. Dort bitten die jungen Männer die jungen Damen um einen Tanz, den diese auf der Tanzkarte, bunten, gefalteten und mit Satinbändern um das Handgelenk gebundenen Papieren, eintragen. Ruths Tänze sind bis auf zwei vergeben. Zunächst beglückwünscht sie sich zu ihrer Leis­tung, doch dann rügt sie sich wegen ihrer Eitelkeit. Warum finden in ihrem Inneren immer diese Kämpfe statt, während die anderen so fröhlich und unbeschwert wirken?

Das Essen ist sehr formell und verläuft genau nach Programm – zunächst ein Gebet des Gastgebers, dann der erste Gang, ein Toast im Stehen auf den Kaiser und König sowie seinen Vertreter, den Regierungspräsidenten, Graf Robert von Zedlitz und Trützschler, und schließlich ein Toast auf all die reizenden anwesenden Damen. Nach dem Essen begeben sich die Gäste in den Ballsaal. Ruth geht am Arm des jungen Leutnants von Dörnberg. Plötzlich trifft es sie wie ein Blitz – sie hat ihn unter den Gästen entdeckt. Den ganzen Abend lang wechseln ihre Emotionen zwischen Glück und Verzweiflung. Jürgen von Kleist hat zwar das Abendessen versäumt, aber immerhin hat er den weiten Weg aus Berlin nicht gescheut, um zu diesem Ball zu kommen (in ihrem Herzen nennt Ruth ihn bereits Jürgen). Er fragt Ruth, ob auf ihrer Tanzkarte noch ein Platz frei wäre; die Antwort ist natürlich »Ja«. Er trägt sich für den Cotillion ein und geht dann weiter. Ruth ist sich bewusst, dass unter all den heiratsfähigen Junggesellen er der begehrteste ist, sowohl für die Mütter als auch für die Töchter. Welch eine Qual für Ruth!



Ruths Eltern Graf Robert von Zedlitz und Trützschler

und Gräfin Agnes geb. von Rohr

Die ganze Ballsaison hindurch besuchen Lisa und Ruth, die beiden Komtessen von Zedlitz, alle Bälle der großen Häuser Oppelns und auf den noch prächtigeren Herrensitzen der nahe gelegenen Güter. Unter den anwesenden Gästen ist Jürgen stets anzutreffen. Er wohnt inzwischen in Oppeln, wo er wieder bei Ruths Vater arbeitet. Allein diese Tatsache weckt erneut Hoffnung bei Ruth. Jürgen lässt sich immer schon frühzeitig den Cotillion reservieren, aber trotz seiner liebenswürdigen und galanten Art zeigt er kein weiteres In­teresse, ja, er scheint sogar allen seinen Tanzpartnerinnen die gleiche Liebenswürdigkeit und Höflichkeit teilwerden zu las­sen. Ruth tanzt zwar mit vielen jungen Männern und ihre Tänze sind immer reserviert, ihre Gedanken und Gefühle jedoch gehören nur Jürgen von Kleist.

1884, April. Ruths vorerst letzte Begegnung mit Jürgen, bevor alle in die Sommerferien fahren, erfolgt anlässlich einer sonntäglichen Landpartie in einer Reihe offener Kutschen. Die Herren aus dem Büro des Regierungspräsidenten führen mit der ersten Kutsche die Kolonne an, darauf folgen die Familien. Jürgen sitzt vorne mit Ruths Vater, während sie selbst im letzten Wagen fährt. Auf gerader Strecke ist der erste Wagen völlig ihrer Sicht entzogen, wenn der Weg jedoch einen Bogen macht, kann Ruth einen kurzen Blick von Jürgens roten, im Wind flatternden Seidenschal erhaschen. Einen Moment lang fällt sie zurück in ihre Kindheitsfantasien und sieht ihren Märchenprinzen mit wehendem Schal auf seinem Pferd in großer Eile auf sie zureiten.

November. Ruth ist fast 18 Jahre alt und bereitet sich auf die kommende Ballsaison in Oppeln vor. Sie trägt die Haare nun kurz und ihr Ballkleid ist nicht mehr hochgeschlossen wie früher. Sowohl ihr Haarschnitt als auch ihr Kleid sind Ausdruck ihres unabhängigen Geistes und ihrer Absicht, sich den jungen Männern so zu präsentieren, wie sie es für richtig hält. Auf den beiden ersten Bällen ist sie eindeutig die Ballkönigin. Den Eltern bleibt die kühne Entwicklung ihrer Tochter nicht verborgen und in der Tat sind sie etwas beunruhigt. Sie überlassen jedoch die Aufgabe, mit Ruth zu sprechen, dem älteren Bruder Rob, den sie vergöttert. Es soll unter allen Umständen verhindert werden, dass unangenehme Situationen für Ruth selbst oder die Familie entstehen.

Rob, der auf Weihnachtsurlaub zu Hause weilt, bittet Ruth in die Bibliothek. Er schließt die Türen, bittet Ruth, sich zu setzen, und rückt sich einen Stuhl zurecht, sodass er ihr gegenübersitzt. Ihre Hände fest in seinen haltend, spricht er in einem Ton mit ihr, den Ruth nicht von ihm gewöhnt ist. Er warnt sie davor, sich den Kopf durch Komplimente verdrehen zu lassen, und betont, dass Frauen, die im Ruf stehen, kokett zu sein, oder den Anschein erwecken, als wären sie leicht zu haben, schnell von den Männern verachtet werden, die sie zunächst mit Komplimenten überhäuft haben. Er versichert ihr, Männer würden nur selten solche Frauen heiraten, und dann fragt er sie: »Du möchtest doch gerne heiraten, oder?«

All das ist zu viel für Ruth. Sie wirft sich ihrem Bruder in die Arme und weint untröstlich. All ihre Trauer und Verzweiflung über Jürgen von Kleist tritt nun zutage – ebenso wie das Geständnis, ihr Verhalten sei lediglich ein kläglicher Versuch, ihr durch seine Zurückhaltung so angeschlagenes Selbstbewusstsein wieder aufzurichten. Ihre einzige wirkliche Sehnsucht sei Jürgen und es sähe nun so aus, als würde ihr Herzenswunsch nie in Erfüllung gehen!

Schließlich werden die Tränen getrocknet und die Geschwister vereinbaren, keiner von beiden würde diese Unterhaltung je wieder erwähnen. Des Bruders Worte jedoch bleiben für immer in Ruths Herzen und binden sie noch enger an ihn, der selbst während der tiefen Entfremdung, die ihn später von den meisten Angehörigen der Familie Zedlitz und Trützschler trennen wird, der geliebte Bruder bleiben wird.

1885. Gegen Ende des Winters bringt der Vater zum Abendessen einen versiegelten Brief mit, den er soeben erhalten hat. Der Absender lautet Kieckow, der Poststempel Belgard. Mit einem Messer öffnet er das Kuvert, entnimmt den Brief und liest der versammelten Familie vor:

Hochverehrter Herr Graf! Hochzuverehrender Herr Präsident!

Euer Hochgeboren erlaube ich mir mitzuteilen …

Der Brief ist von Jürgen von Kleist, der dem Vater mitteilt, er habe das Staatsexamen bestanden und wolle ihm für alle erhaltene Unterstützung und Ausbildung während seines mehrmonatigen Praktikums im Büro des Regierungspräsidenten zu Oppeln danken.

Die Tochter des Präsidenten wird in diesen Zeilen mit keiner Silbe erwähnt. Vater wendet den Brief, als vermisse er noch etwas; vielleicht ist auch er überrascht über das, was in dem Brief nicht steht, aber er sagt nichts. Ruth, die eben noch voller Hoffnung steckte, verfällt in ungeahnte Tiefen der Verzweiflung. Zwei Monate später erhält der Vater abermals einen Brief mit dem Absender Kieckow in seiner Post. Diesmal ist es ein schwarz umrandeter Brief, in dem der junge Herr von Kleist den Tod seiner Mutter mitteilt sowie den Grafen davon unterrichtet, dass er für sechs Wochen als Reserveoffizier eingezogen werde. Nach Absolvierung dieser sechs Wochen hoffe er, nach Oppeln zu kommen. Diesmal entschließt sich der Vater, den Brief der Familie nicht vorzulesen, vielleicht, um seiner Tochter erneute falsche Hoffnungen auf den lange abwesenden Freier zu ersparen.

Ruth beginnt, sich ernsthaft Gedanken über ihre Zukunft zu machen. Für sie gibt es drei Möglichkeiten: erstens Hofdame zu werden, die im Dienst der Königin steht, bei den Feierlichkeiten und gesellschaftlichen Anlässen im Palast hilft und Anteil hat am Klatsch des Hofes. Für Ruth ist dies eine abscheuliche Zukunft, die sie unter allen Umständen vermeiden will. Dann könnte sie vielleicht Stiftspröpstin oder Diakonisse werden. Sie denkt gerne an das angenehme Jahr im Diakonissenhaus zurück, aber ihr ganzes Leben dort zu verbringen – nein, das ist sicher auch nicht das Richtige für sie. Nur, was bleibt ihr? Heiraten! Etwa den vornehmen adligen Witwer aus dem Familienkreis, der Vater eines kleinen Kindes ist? Er hat Ruth in letzter Zeit ernsthaft umworben, was sie bislang ruhig und höflich, jedoch bestimmt zurückwies. Sie fragt sich, ob Gott sie dazu bestimmt habe, dem Halbwaisen die Mutter zu ersetzen. Ihre Gefühle und Gedanken sind völlig durcheinander. Dann versucht sie, ihre Motive zu erforschen – ist es Egoismus oder einfach der Glaube an die wahre Liebe, der sie den Witwer abweisen lässt? Sie entschließt sich, das Letztere zu glauben – sicherlich kann Gott von niemandem erwarten, so gegen seine Gefühle zu handeln.

Oktober. Vater ist in Oppeln; Bruder Robert als Soldat ir­gend­wo in Italien; Lisa, Ruth und Anni sind seit dem Sommer mit Mutter allein in Großenborau, da sie und Vater beschlossen haben, an der Ballsaison in Oppeln dieses Jahr nicht teilzunehmen. Stefan und Ehrengard sind auf ein paar Ferientage von der Schule nach Hause zurückgekehrt. Der Vater wird für den Abend erwartet und dann wird die ganze Familie mit Ausnahme von Rob für einige Tage wie früher vereint sein.

Es ist noch Vormittag und Ruth deckt gerade die lange Tafel für ein spätes Frühstück. Sie rückt die Tassen und Untertassen zurecht und sieht dabei unbekümmert am Platz ihrer Mutter die morgens zugestellte Post durch. Sie entdeckt ein geöff­netes Kuvert mit einem Brief des Vaters, den Mutter offensichtlich vorhin gelesen hatte. Entgegen ihrer Erziehung, aber machtlos gegen ihre Neugierde, zieht Ruth den Brief heraus, wobei ein weiterer, noch versiegelter Brief he­rausfällt, der ganz eindeutig Jürgens Handschrift trägt. Da­rauf liest sie die Worte »Gräfin Ruth von Zedlitz und Trützschler«. Ruth nimmt den Brief, steckt den ihres Vaters wieder in den Umschlag, legt ihn zurück auf Mutters Platz, lässt alles liegen und stehen und läuft, so schnell sie kann, durch die Halle in die Bibliothek. Jemand ruft ihren Namen, aber sie dreht sich nicht um und schließt die Türen hinter sich. Sie lässt sich in Vaters Sessel fallen, reißt den Briefumschlag auf und faltet das Schreiben auseinander. Diesmal darf es nicht schon wieder eine falsche Hoffnung, eine Enttäuschung sein. In Ge­dan­ken fleht Ruth den Absender an, Mitleid mit ihrem armen Herzen zu haben, und beginnt dann zu lesen:

Gnädigste Gräfin!

Seitdem ich die Ehre und Freude habe, Sie zu kennen, habe ich eine tiefe und durch die langen Zeiten der Trennung nur wachsende Liebe für Sie empfunden … Wollen Sie mir nun für Ihr ganzes Leben vertrauen?

Jahre später noch wird Ruth überzeugt sein, sie habe in diesem Moment Gott gesehen. Sie verbirgt ihr Gesicht in den Händen, kaum kann sie die Fassung bewahren. Er möchte mich zu seiner Frau machen, er möchte mich zu seiner Frau machen! Mutter ist Ruth gefolgt, leise öffnet sie eine der großen Türen zur Bibliothek. Sie umarmt ihre Tochter und setzt sich neben sie, um ihr auch die beiden anderen Briefe vorzulesen, die heute gekommen sind – beide sind vom Vater, der erste ist an die Mutter gerichtet, der zweite ist für Ruth bestimmt. Vater besteht darauf, dass Ruth die Tragweite der Versprechung, um die sie gebeten wird, genau bedenkt, bevor sie auf Herrn von Kleists Antrag antwortet, aber Ruth ist ungeduldig und hört kaum zu. Auf diese lang ersehnte Frage, dieses wundervolle Geschenk, das ihr endlich, aber doch völlig unerwartet zuteil wurde, gibt es nur eine einzige Antwort: »Ja, ja, tausendmal ja!«

Der Vater hat Ruth um eine umgehende Antwort gebeten. Sollte die Antwort positiv ausfallen, würde er mit Jürgen noch am selben Abend aus Oppeln kommen. Das Codewort der Depesche, die sie in dem Fall schicken sollte, heißt: »Ja, kommt.« Ruth eilt aus dem Haus zum Postamt im Dorf und diktiert dem Postbeamten die Nachricht für ihren Vater. An diesem Abend geht Ruth allein, ungeduldig wartend, in dem unbeleuchteten Raum auf und ab, von dem aus sie den Hauseingang beobachten kann. Endlich hält eine Kutsche vor der Treppe des Hauses, Vater und Jürgen treten ein. Sie hört kaum ihre Stimmen, als die Mutter sie im Haus willkommen heißt. Kurze Zeit später nimmt Ruth Schritte direkt über dem Wohnzimmer wahr und schließt daraus, Jürgen habe das Gästezimmer betreten, in dem er übernachten wird – genau wie in ihren kühnsten Träumen. Sie wagt es nicht, die Öllampen anzuzünden, um den magischen Zauber nicht zu stören. Schließlich hört sie Schritte, die ihr verraten, dass Jürgen sich auf der Treppe befindet. Schnell zündet sie zwei Lampen an, deren Schatten auf Wänden und Vorhängen den Zauber ihrer Erwartungen noch erhöhen. Eine unsichtbare Hand öffnet die Tür und plötzlich betritt Jürgen den Raum, die Tür hinter sich schließend. Ohne ein Wort nimmt er Ruth in die Arme – zum allerersten Mal – und hält sie fest, fast ohne zu atmen.

Jahre später, wenn Jürgens sterbliche Hülle unter der Erde von Kieckow begraben liegt, wird Ruth glauben, dieses von Gott arrangierte Treffen werde sich im Himmel wiederholen. Sie wird behaupten, Jesus mag zwar gesagt haben, man könne bei Gott im Himmel nicht heiraten, aber er habe nicht gesagt, diejenigen, die sich auf Erden unsterblich geliebt haben, könnten im Himmel nicht wieder vereint werden.

Jürgens erste Worte an Ruth sind: »Darf ich nun du sagen?« Die Zustimmung dafür ist kaum noch notwendig, denn ihr lieber Herr von Kleist hält sie in den Armen und hört nicht auf, sie zu liebkosen. Und zum ersten Mal darf Ruth den Namen flüstern, der seit mehr als drei Jahren in ihrem Herzen wohnt – Jürgen.

Mit dem Mut einer Frau

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