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4. Messianische Psalmen (Ps. 130) und
das Verhältnis von Kunst und Religion
Оглавление130 (129) CANTICUM GRADUUM 1De profundis clamavi at te Domine 2Domine exaudi vocem meam fiant aures tuae intendentes ad vocem depreciationes meae 3si iniquitates observabis Domine Domine quis sustinebit 4qui tecum est propitiatio cum terribilis sis / sustininui Dominum sustinuit anima mea et verbum eius expectavi 5anima me ad Dominum 6a vigilia matutina usque ad vigiliam matutinam / expectet Israhel Dominum 7quia apud Dominum misericordia et multa apud eum redemptio 8et ipse redimet Israhel ex omnibus iniqutates eius.32
Aus der Tiefe ruf ich zu dir, Ewiger
130 1Ein Wallfahrtslied.- Aus den Tiefen ruf ich zu dir. Ewiger. 2Herr, höre auf meine Stimme, lass deine Ohren meines Flehens Stimme vernehmen. – 3Wenn du, Jah, die Sünden aufrechnest, wer könnte, Herr, bestehen? 4Doch bei dir ist die Vergebung, damit du gefürchtet werdest. – 5Ich harre des Ewigen, es harrt mein Leben, ich hoffe auf sein Wort; 6ich hoffe auf den Herrn, mehr als die Wächter auf den Morgen, mehr als die Wächter auf den Morgen! – 7Hoff, Jisrael, auf den Ewigen, denn beim Ewigen ist die Treue, und bei ihm ist Erlösung in Fülle! 8Er wird Jisrael erlösen von allen seinen Sünden.33
CXXX Ein lied im höhern Chor. Aus der tieffen / Ruffe ich HERR zu dir.
HErr, höre mein stimme / las deine ohren mercken auff die stimme meines flehens.
So du wilt HErr sunde zu rechen / HErr wer wird bestehen?
Denn bei dir ist die vergebung / Das man dich fürchte.
Ich harre des HERRN / meine seele harret / Vnd ich hoffe auff sein wort.
Meine Seele wartet auff den HErrn / Von einer morgen wacht bis zur andern.
Israel hoffet auf den HERRN / Denn bei dem HERREN ist die Gnade / Vnd viel Erlösung bei jm.
Vnd er wird Jsrael erlösen / Aus allen seinen sunden.34
130
1Ein Aufstiegsgesang.
Aus Tiefen ruf ich dich, DU! |
2mein Herr, auf meine Stimme höre!
aufmerksam seien deine Ohren
der Stimme meines Gunsterflehns! |
3Wolltest Fehle du bewahren, oh Du,
mein Herr, wer könnte bestehn! |
4Bei dir ja ist die Verzeihung,
damit du gefürchtet werdest. – |
5Ich erhoffe IHN, meine Seele hofft.
Ich harre auf seine Rede, |
6meine Seele auf meinen Herrn,
mehr als Wächter auf den Morgen zu
wachen auf den Morgen zu. |
Harre IHM zu, Jisrael!
Denn bei IHM ist die Huld,
Abgeltung viel bei ihm, |
er ists, der Jisrael abgelten wird
aus all seinen Fehlen. |35
Auch wenn der kurze Psalm »De profundis« nicht als messianischer Psalm klassifiziert wird – in der katholischen Kirche gilt er als einer der sieben Bußpsalmen –, so hat er doch dieses spezifische Harren als fromme Lebensform zur Voraussetzung.
Der Psalm vergleicht das Entgegenwarten des Betenden mit dem Warten des schlaflosen Nachtwächters auf das Morgengrauen, die Morgenröte, das lebendige Licht. Er ist im Geist der messianischen Erwartung und in der Form eines individuellen Klageliedes überliefert. Die individuelle Klage wird im Namen Israels zur Hoffnung des Gottesvolkes erhoben. Die Klage bezieht sich nicht auf konkrete Vorfälle wie die Zerstörung des Tempels oder Feinde, sondern auf eine Tiefe, die als Tiefe eines Gewässers die Not des Erstickens andeutet. Sie steht für die Todesangst oder die Angst als Grundbefindlichkeit des endlichen Menschen. Das Thema von Nacht und Morgenröte, Warten und Verpassen, Wachen und Verschlafen oder Rettung aus der (Meeres)Tiefe zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Exodus-Volkes und seine messianischen Psalmen. Das gespannte Warten streckt sich aus nach dem Ereignis des Heilenden-Heiligen. Erotische, kriegerische und soteriologische Metaphern durchdringen sich in der Poesie der Psalmen.
So wie der auf seinen Gott Hoffende wartet der Bräutigam auf die Braut, der Bruder auf die Schwester, der Betende auf das Morgenlicht, ganz Israel auf das Reich Gottes. Und das Licht, das der Hoffende erwartet, übersteigt alle Bildvergleiche; die Inständigkeit und Intensität des individuellen und generationenübergreifenden kollektiven Wartens übertreffen das Verlangen des Wächters nach der ersten Morgendämmerung. Das Poetische und Gesangliche tritt durch dieses Bild und die eindringlichen Wiederholungen deutlich hervor. Verschiedene Übersetzungen versuchen diese Poesie ins Deutsche zu übertragen.
Der Dichter Georg Trakl (1887–1914) hat verschiedene Fassungen eines Gedichtes mit dem Titel »Psalm« und »De profundis« verfasst. Er evoziert die Symbolik der Dekadenz (seit den französischen Symbolisten) und eine eigenständige Stimme, in der das Hell-Dunkel des Psalms wie in einer verklärten Erinnerung nachvollzogen wird. Selbst in diesen »dekadenten« Psalmen wird noch etwas vom Licht wahrnehmbar, auch wenn es ein Licht ist, das erlischt36 und das Göttliche durch sein Fehlen wie einen Schatten ohne Körper nachzittern lässt. Trakls Lyrik lässt sich weder als Symbolismus, noch als Expressionismus, noch als »Untergang des Abendlandes« klassifizieren, obwohl diese Impulse in seiner Bearbeitung der Texte in mehreren Fassungen mitwirken, die unpersönlicher werden. Das lyrische Ich verschwindet und wird wie die »Gestalten« schatten- und schemenhaft. Verschwunden ist das DU im EWIGEN; entsprechend muss das Ich verschwinden. Der Zusammenhang der Bild-Ereignisse wird lose, ja geradezu »seriell«. Kein »Logos« verbindet die Sequenzen des »Verfalls«, und doch: Ein Hintergrund-Licht scheint nach oder öffnet ganz unverhofft »Gottes goldene Augen«. Und der Bezug zur Schwester tritt an die Stelle des Du der direkten Anrede im Psalm, die in der Übersetzung von Martin Buber hervorgehoben wird. Aus der angesprochenen Schwester, der die Hand gereicht wird, wird in späteren Varianten die Figur der erinnerten, lebenden oder toten Schwester, deren Anwesenheit oft nichts anderes ist als der Klang von Akkorden und Sonaten in einsamen Zimmern. Die als Schwester angesprochene Geliebte ist nicht nur ein Echo auf vermutete inzestuöse Episoden in der Kindheit der beiden Geschwister, sondern auch ein Nachhall der Geliebten und Schwester im »Hohelied der Liebe«.
Trakls Gedichte müssten wie die verschiedenen Übersetzungen des Psalms aufmerksamer gelesen werden, statt sie mit gelehrten oder spekulativen Kommentaren zuzudecken. Wie viel erschließt sich allmählich, beim achtsamen Lesen und Wiederlesen! Und selbst die offenen Fragen gehören zum Schatz des Lesens, die besser nicht durch »Antworten« weggedrückt werden. Kommentare aller Art gibt es schon genug. Aber werden die Texte auch gelesen und in ein individuell und kollektiv gelebtes »Harren« auf den Herrn eingebunden? In diesem »Harren« kurz vor der Erfüllung, in diesem Anfang der Ankunft des Messias liegt die Pointe der messianischen Psalmen.37 Muss dieses Harren unbedingt auf Jesus Christus bezogen werden?
ChristInnen werden es gar nicht vermeiden können, diesen Bezug herzustellen. Der Bezug wird bereits im Neuen Testament wiederholt und bestätigt. Es ist der Jude Jesus selbst, der keine neuen Psalmen »erfindet«, sondern aus den Psalmen der Überlieferung wörtlich betet.38 Doch man sollte noch einmal zurück-hören auf die Bedeutung dessen, dass der Messias einem »Harren«, einer Hoffnung in die Zukunft entgegenkommt. Was in der jüdischen Tradition als das Warten auf zwei verschiedene (Typen von) Messiasse gilt – den König und den Propheten als Messias –, wird in der Christologie in zwei Phasen aufgeteilt: jene erste Phase von Jesu Leben von seiner Geburt bis zu seiner Auferstehung, und die zweite Phase seiner Wiederankunft im Jüngsten Gericht. Darin liegt die Bedeutung der Eschatologie für den jüdisch-christlichen Dialog, dass die Geschichte mit dem Leben und der Auferstehung Christi nicht zu Ende ist. Jüdischer und christlicher Messianismus könnten sich im Dialog gegenseitig erhellen, statt sich in der Polemik der Tradition auszuschließen. Dazu gehört auch eine Einschränkung der schematischen Gegenüberstellung von »Altem« und »Neuem« Testament als Verheißung und Erfüllung.39 Juden und Christen warten gemeinsam auf die Ankunft des Messias am Ende der Zeit. Und jüdische und christliche Mystik vertieft und deutet dieses Warten auch als Wiedergeburt des Göttlichen in der Seele. Mystik antizipiert und vollzieht auf eine rätselhafte Weise diese Durchdringung von Zeit (Gegenwart) und Ewigkeit (als Erfüllung in einer nahen Zukunft). Darin liegt der messianische Sinn von Jesu Verheißung am Kreuz zu seinem Leidensgenossen am Kreuz: »Heute noch.« »Heute noch wirst Du im Paradies sein.« (Lk. 23, 43) In dieser Zusage kommt nicht so sehr eine mythische Verhaftung an die Parusie oder eine (veraltete) kosmische Eschatologie zum Ausdruck als vielmehr der Zuspruch aus der Ewigkeit, für die auch eine längere »Durststrecke«, das ungeduldige Harren und Murren, zur Heilszeit wird. Ist diese Durchdringung von Zeit und Ewigkeit möglich, so wird auch nachvollzierbar, wie zu verstehen wäre, dass wir den Messias im Warten bereits »haben«. Warten ist nicht ein Verschieben oder Aufsparen von Wünschen für das »Jenseits«, sondern ein Schritt auf der Brücke zwischen Zeit und Ewigkeit. Die antizipierte Erfüllung ist der Anfang; das Reich Gottes hat bereits begonnen. Und die Zukunft bleibt für künftige Generationen vorerst offen.
Ganz verstehen kann das begriffliche und logische Denken diese Zusammenhänge nicht. Oder wie sollte man die Abfolge in Vers 4 verstehen: »Doch bei dir ist die Vergebung, damit [!] du gefürchtet werdest.« Der Aufklärer Moses Mendelssohn ist über diese Stelle gestolpert und hat sie anders übersetzt, mit Hilfe eines Verbs, das es in der Umgangssprache nicht gibt.
Allein Vergebung ist bei dir, auf dass man dich ehrfürchte.40
Die Tendenz zur Verdrängung der Furcht und die Ersetzung durch Verehrung wird in der Übersetzung von Alfons Deissler noch weitergetrieben.
Doch bei dir ist Vergebung, dass man dich verehre.41
Auf den ersten Blick könnte man darin eine »anti-autoritäre« Deutung vermuten, welche auf die Unvereinbarkeit von Autonomie und Furcht zielt. Die Vieldeutigkeit des Hebräischen für Ausdrücke von Furcht lässt sich jedoch nicht weg-übersetzen, und Denzler lässt sich auch nicht zu einer »rationalistischen« Fehldeutung hinreißen, sondern erläutert die Stelle in seinem Kommentar mit zwei Etappen: Gott als der Erbarmende verdient und weckt Verehrung, damit man zur Furcht Gottes zurückkehre. In Gottesfurcht leben heißt, die Tora befolgen im Bemühen, die Sünden der Vergangenheit nicht zu wiederholen.42 Damit soll auch deutlich werden, dass Sündenvergebung nicht Gottes Geschäft oder »verdammte Pflicht« ist, sondern aus Freiheit geschieht. Die Liebe, die vergibt, wird mit dem schönen altertümlichen Wort Huld (bzw. Bundeshuld) übersetzt.
Wie auch immer es um die Logik dieses Verses im hebräischen Text bestellt sein mag: Übersetzungen sollten nicht »lügen«; das Wort ›Furcht‹ lässt sich nicht wohlmeinend weg-retuschieren, ohne es kommentierend wieder ins Spiel zu bringen. Gedankliche Zusammenhänge werden in einer zugleich frommen und lyrischen Sprache des individuellen Klagegebets angedeutet und vorausgesetzt. Es ist oft weder die Sprache der Weisheitslehre noch jene des Gesetzes, die spricht, sondern die Anrede oder die von der direkten Anrede erfüllte Begeisterung. Die Verbindung von Gebet und Gedicht, Musik und Tanz ist im Psalter vollzogen und keine späte Erfindung der Romantik.43 Allerdings ist die Verbindung von Gebet und Gedicht nicht das Resultat einer Fusion oder Vermischung zweier literarischer Gattungen, sondern vielmehr Ausdruck davon, dass Gebet und Gedicht, Religion und Poesie noch nicht als literarische Gattungen ausdifferenziert sind. Diese Ausdifferenzierung wird es in der Moderne u. a. erlauben, ein Bollwerk gegen die religiöse Zensur von Kunst zu begründen. Wenn etwas Kunst ist, dann ist es Kunst, und es ist nicht an Politikern und Richtern, darüber zu entscheiden, ob es gute oder schlechte Kunst sei. Solche politisch-liberalen Gedanken sind dem Denken Platons, der Vorschläge zur politischen Zensur von Kunst macht, der jüdisch- christlichen Antike und dem Mittelalter fremd. Es gibt zwar weltliche Lyrik44, aber noch nicht jene Ausdifferenzierung von Kunst und Religion als zwei heterogenen und autonomen Sphären. Es scheint sogar, dass sich in der deutschsprachigen Romantik – etwa mit Novalis, der Poesie und Religion in einer höheren Synthese gleichsetzt45, obwohl sie doch in der Moderne ausdifferenziert wurden –, dass sich in und nach der Romantik der Zusammenhang von Kunst und Religion lockert und Residuen des Gebets ins Gedicht »fliehen«. Es wird weniger gebetet und mehr gedichtet. An die Stelle des Gottesdienstes tritt die feierliche literarische Lesung. Man könnte an dieser Stelle viele Beispiele für eine »Flucht des Gebets ins Gedicht« anführen. Verwiesen sei hier nochmals auf Trakl. Auch wenn sich Trakls Gedichte nicht für das Poesiealbum für die lieben Verwandten an Weihnachten oder als moderne Kirchengesänge eignen, so lassen sie sich auch nicht als »Anti-Psalmen« oder blasphemische Gedichte abtun. Sie sind nicht »erbaulich«, aber auch nicht »religionskritisch«, eher schon »religionsnostalgisch«. Es ist, als würde die Kraft von Symbolen die alten Dogmen überleben und wie ein gefährdetes Kerzenlicht flackern. Motive der Blasphemie finden sich weniger bei Trakl und öfter bei der großen Dichter-Kollegin Trakls, Christine Lavant (1915–1973).46 Beide sind »Schmerzgestalten« und gehen als weltfremde Subjekte »schattenhaft« in ihre literarischen Werke ein. Lavant hat länger und später als Trakl gelebt und mit dem längeren Leben auch zusätzliche Traumatisierungen des Jahrhunderts und individuelle Leiden auf sich genommen. Paradoxerweise häufen sich bei ihr die bei Trakl zurückgedrängten Gebetsanreden, das »Du« zu Gott, verbunden mit den Blasphemien und der Verweigerung einer Unterwerfung unter den »Herrn«. Es ist, als wäre die Verwundung zu schwer, um noch vor Gott zu knien. Gottes Ankunft scheint auch kaum mehr Quelle von Trost zu sein. Der Bezug auf Gott gleicht eher einer tragischen »Doppelbindung« als einer heilenden und erlösenden Gegenwart. In der Welt der Poesie sind Lavant und Trakl ein symbolisches Geschwisterpaar. Es wäre für eine vertiefte Erforschung der Poesie nach dem »Untergang des Abendlandes« (im Sinne eines Auseinanderfallens und Zerfalls der Hegemonialmacht des Christentums in Europa) interessant, Lavant und Trakl aufeinander zu beziehen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede genauer zu benennen.
Weiter geht vermutlich Paul Celan, der u. a. Psalmen- Elemente als »theologische Provokation« einbaut, die das Deutungsschema des im Holocaust von Gott geprüften Volkes verwirft.47 Die Zäsur der politischen Geschichte führt zu einem Bruch mit der religiösen und literarischen Tradition.
Abschließend soll ein anderes Gedicht erwähnt werden, in dem das Vaterunser übersetzt und als »Jesu Psalm« bezeichnet werden könnte, wurde es doch in eine Anthologie zu literarischen Psalmen aufgenommen. Das ließe sich aus einer christlichen Deutung damit rechtfertigen, dass der Messias selbst betet und das Gebet zu einem Gemeindegebet vervollständigt wurde. Das sog. Herrengebet ist in der ersten Hälfte vermutlich ein persönliches Gebet von Jesus. »Vater«, heißt die Anrede ursprünglich, nicht »Vater unser«, was einer Weiterbildung des zweiten Teils des Gebets als Gemeindegebet entspricht.48 Die berndeutsche Übersetzung des Vater-Unser von Walter Vogt beginnt ebenfalls mit diesem persönlichen Anruf und ersetzt den üblichen respektvollen Ton durch einen eher burschikosen.
Das Unservater
Ins Berndeutsche übersetzt für Kurt Marti,
der sagt, das kann man nicht
Vattr
Im himu
häb zu diim imitsch soorg
üüs wäärs scho rächcht wett azz ruedr chäämsch
und alls nach diim gringng giengng
im himmel obe-n-und hie bi üüs …
gib is doch zässe
u wemr öppis uuszfrässe heij
vergiss daas
mir vergässes ja oo wenis eine
dr letscht näärv usziehtt
hör uuf nis machche zggluschschtte
nach züg wo-n-is numme schadtt
hiuff es liebr chli –
dir gghöört ja sowisoo sho alls wos gitt
amen.49