Читать книгу Poesie und Denken in den Psalmen - Jean-Claude Wolf - Страница 7
Einleitung
ОглавлениеNach den Büchern über Pantheismus und zur Philosophie des Gebets1 lege ich diesen Essay über Gebet und Poesie in den Psalmen vor. Die offene Form des Essays ist bewusst gewählt. Wo sich vermeintlich apodiktische Wahrheiten verfestigen und systematische Bergwerke bilden, besteht die Tendenz, dass man letztlich nur noch die eine Stimme des Autors zu hören bekommt, als gäbe es keine Vielstimmigkeit in der Welt. Ein Essay ist keine Abhandlung, sondern eher ein Gesprächsanfang. Der Essay ist kürzer und offener als die Abhandlung und erlaubt mehr Gegenrede und Widerspruch.
Der Umgang mit der Bibel erfordert Fingerspitzengefühl, eine Abwägung von Nähe und Distanz. Das gilt auch für den philologischen Laien, der sich wie ich vorwiegend auf Übersetzungen stützt. Diese methodische Haltung gegenüber der Religion im Allgemeinen und ihren Basistexten im Besonderen empfiehlt sich aus der historischen und aktuellen Erfahrung ihres politischen und pädagogischen Missbrauchs. Selbst das mitbetende Lesen in der Bibel oder im Koran, um nur diese literarischen Meisterwerke des Monotheismus zu nennen, bedarf zwischendurch eines kühlen Kopfes und eines Gerechtigkeitssinnes. Die Bücher enthalten manchen ungeschliffenen Edelstein, am dem noch künftige Generationen zu schleifen haben werden.
Leider sind es oft kategorische Nicht-Leser, welche sich für oder gegen die Bibel äußern. Doch auch »Freunde der Bibel« verwenden Klischees, wenn sie die Bibel als »heilige Schrift« oder »Wort Gottes« verteidigen. Statt mit Hingabe an den Text zu lesen, verwenden sie die Bibel als Schutzschild und Keule. Missbrauch der Bibel stand im Wahljahr 2020 vor den Augen aller Welt. Das Bild eines amerikanischen Präsidenten, der sich während eines illegalen Einsatzes der Bundespolizei gegen antirassistische Kundgebungen mit der Bibel in der Hand vor das Kapitol stellt und in der erwarteten Stellungnahme zu neuen Rassenunruhen absichtlich zweideutig bleibt, als wären rechte Schlägertruppen sein Joker in der Revolte gegen eine bevorstehende Wahlniederlage, ist leider unauslöschlich. Dieser Präsident, der während seiner ersten vier Jahre im Wahlkampfmodus blieb und die USA zur DSA (Divided States of America) fortbildete, bekannte im Voraus, dass er eine Wahlniederlage nicht akzeptieren würde. Damit hatte er nicht nur elementare Spielregeln demokratischer Wahlverfahren wie die Anerkennung von Mehrheitsentscheidungen rhetorisch außer Kraft gesetzt, sondern auch durchblicken lassen, wie er mit einer Niederlage umgehen würde – er würde sie so lange als möglich leugnen und – wenn das nicht mehr wirkt – übergehen zum politischen Revanchismus. Er würde Rache nehmen wollen an allen, die über ihn gelacht haben. Werden einige Anhänger dieses Präsidenten eine Wahlniederlage dazu nutzen, die Bibel neu und anders zu lesen, sie nicht mehr als eine medienwirksame Trophäe eines politischen Erfolgs oder als Waffe für ein triumphales Come-Back zu verwenden, sondern als Weisheitsbuch im Umgang mit Verlusten und Niederlagen?
Wie auch immer: Das von den Medien vergrößerte Bild des narzisstischen Machtmenschen, der nur an seinem Erfolg und den Verbesserungen der nationalen Ökonomie und der Technik interessiert ist und mit der Verbreitung von Hass-Tweets und gezielter Fehlinformation eine Masse johlender Sympathisanten findet, wird besiegelt durch das demonstrative Vorzeigen der Bibel. Ein mit der Bibel fuchtelnder Machtmensch fördert die ungünstige IMAGO, in Analogie zur furchterregenden Elternimago der Psychoanalyse. Erziehung und Politik können das Bild Gottes, der Kirchen und der Bibel lebenslänglich vergällen. Die schlimmsten Feinde, die den Zugang zu einer Religion verstellen, werden die angeblichen »Freunde der Bibel«.
Es ist naheliegend, sich und seinesgleichen als »Bibeltreue« zur Partei der »Guten« zu zählen, doch es bleibt anspruchsvoller, Gut und Böse zu unterscheiden, ohne in die Rolle des Predigers oder Lehrers zu verfallen. Zur Unterscheidung braucht es Urteilsvermögen, nicht nur eigene unverrückbare Meinungen, starke Zugehörigkeitsgefühle und triumphale Erfolge.
Warum gerade ein Essay über die Psalmen? Wurden diese nicht schon ausführlich, gelehrt und bis zum Überdruss erbaulich kommentiert? Eine philosophische Antwort auf diese Frage führt nochmals in eine Serie von Fragen: Ist es gelungen, Gott zu »töten«, den Glauben zu überwinden? Haben die Errungenschaften der Moderne dazu geführt, dass der Traum von der Nähe des Fernen ausgeträumt ist, weil er technisch realisiert wird? Müssen wir noch beten, obwohl wir uns durch Medien und virtuelle Kommunikation immer näher rücken? Haben nicht immer mehr Menschen durch Reisen räumliche Ferne, durch Bildung und Wissen zeitliche Ferne überwunden? Bleibt eine Sehnsucht nach (körperlicher? seelischer?) Nähe, die sich nicht technisch realisieren lässt? Wie ist es möglich, dass der EWIGE, der im Gebet angerufen wird, zugleich fern und nah ist? Setzt erfüllte Nähe mehr voraus als Nähe von Körpern (im Gedränge, in der Umarmung) oder im technischen Fern-Sehen und Fern-Hören? Wäre Gott in einer SMS uns näher als Gott, der schweigt? »Ist« der EWIGE in den Psalmen im Sein2 oder im Werden? (Vgl. Kapitel 12) Oder ist ER als Nahender und Bevorstehender im messianischen Reich Gottes in der Bewegung der Ent-Fernung? (Vgl. Kapitel 4) Sind die Psalmen eine poetische und zugleich praktische Antwort auf die fortwährenden Fragen von Nähe und Ferne? Sind die Psalmen als »Schatzkammer Davids«3 das Reservoir eines elementaren Denkens aus der Erfahrung von Nähe und Ferne? Absolute Ferne wäre für uns – nichts. Gibt es den fernen Gott? Wie gibt ER sich uns?
»Ferne gibt es nur als ›Ent-Fernung‹.«4
Ein flüchtiger Blick auf einige Psalmen wird manche von der weiteren Lektüre abschrecken. In diesen »frommen Liedern« ist oft von Feinden die Rede, aber auch von Rache und Krieg. Ein zweiter Anlauf zur Lektüre könnte darin bestehen, das Buch der Psalmen als eine Anthologie der hebräischen Lyrik zu verstehen. »Es ist eben Kunst, nicht Moral.« Das ist bereits eine gewisse Annäherung an die Haltung, die dazu führt, poetische Texte nicht als politische Manifeste zu lesen. Eine Tendenz dieser Lyrik ist nicht eine Rechtfertigung menschlicher Gewalt, sondern eher eine Delegation der Vergeltung an eine unparteiische Instanz.
Es ändert sich nichts daran, dass in den Texten und ihrer Wirkungsgeschichte Gottes Handeln in Gewalt und Zorn der Menschen verwickelt ist. Warum und wofür wird dieser erschreckende und zornige Gott, der doch Ursache von allem ist, des Guten und des Bösen, und der sich in den zehn Geboten selbst als Quelle und Maßstab von Gut und Böse offenbart, gelobt? Diese Frage ist zentral, weil das Lob Gottes eng mit der Seligsprechung seiner Getreuen verknüpft ist, und sie ist vielfach klärungsbedürftig, weil das Gotteslob leicht zu verwechseln ist mit der Speichelleckerei von Untertanen und dem Selbstlob eines narzisstischen Tyrannen, der das Lob der anderen dringend braucht. Im Psalter findet sich nicht nur viel Lob, sondern auch das »Lob des Lobes«.5 Dagegen steht eine fast grenzenlose Lizenz zur Klage, ein implizites »Lob der Klage«. Wie geht das zusammen?
Die Klage ist eine Gebetsform6, die, auch wenn sie die Erfahrung der Abwesenheit Gottes zum Ausdruck bringt, Gott anruft, an SEINE Versprechen erinnert und die Verzweiflung aus der asymmetrischen Beziehung des endlichen Menschen zum EWIGEN zum Ausdruck bringt: Sind für den EWIGEN tausend Jahre nur ein Tag (vgl. Ps. 90, 4), so ist für die leidende Kreatur ein Tag der Qual wie eine Ewigkeit. Ein Refrain der Klage und Frage des Betenden, die Anfechtung der Menschen vor und in der Endzeit lautet: »Wie lange noch?« Überall, wo diese Frage laut und dringlich wird, verweist sie in letzter Instanz auf den Schöpfer und Retter, der über der Zeit steht und mit den Menschen in der Zeit mit-leidet, aber »zu lange wartet«. Im Schrei des Leidens und der Verzweiflung der Anfechtung kommen auch »Entgleisungen« in der Wortwahl wie Flüche und Anklagen vor. Nicht nur das Lob der Schönheit der Schöpfung, sondern auch die Verfluchung der eigenen Geburt gehen über Hiobs Lippen.
Jüdische Streitkultur lässt es zu, Thesen und Antithesen stehen zu lassen; Synthesen sind oft vorschnelle Abbrüche einer offenen Debatte. Hier nur ein Beispiel: Es wird immer wieder auf gewisse Parallelen zwischen Hiob und Christus hingewiesen. War Hiob real oder nicht? Hier gibt es einen Disput unter Juden:
Die einen sagen, Hiob hat sehr wohl gelebt, nur sein Leiden ist eine literarische Erfindung. Dem halten andere entgegen: Hiob hat niemals gelebt, aber sehr wohl gelitten […] In ihm berühren sich Legende und Wahrheit.7
Interessant ist, dass diese Debatte nicht entschieden oder beendet werden muss, wie vermutlich »Systematiker« glauben, die eine »kohärente Antwort« wollen. Beide Thesen sind in sich (als Monolog) inkohärent. Wie könnte jemand leiden, ohne zu leben? Und, mit Schopenhauer gefragt: Wie könnte jemand leben, ohne zu leiden? Doch nebeneinander und gegeneinander machen These und Antithese überraschend Sinn. Es ist, als würden sich zwei Kreise teilweise überschneiden: der Kreis der Märchen und der Kreis der realen Geschichte.
Eine »Lösung« für diesen Disput aus dem Reservoir jüdischer Witze könnte lauten: »Beide haben recht.« Das wäre eine ironische »Antwort« auf die Frage nach dem ontologischen Status von Christus, hinter der ein drängender Impuls zur Rechthaberei, Gemeindebildung und Abgrenzung steht. Meistens endet die Diskussion mit dem Bekenntnis: »Wir Christen glauben, dass …« Dieses »Wir« ist ausschließend und parochial. Es ist wie die Mitgliedschaft in einer Kirche: Entweder gehört man dazu oder nicht. »Wir« reden so über Christus untereinander in Abwesenheit »Dritter« und nennen ihn »unseren Freund«, doch wie reden »wir« (aufrichtig) mit Freunden, Bekannten oder interessierten Gesprächspartnern, die sich mit diesem »Wir« nicht vereinnahmen lassen wollen?
Eine scherzhafte Antwort nach dem Muster der von Elie Wiesel berichteten Debatte zu Hiob wäre vielleicht versöhnlicher (nicht nur diplomatisch!) als die Festlegung auf die eine oder andere These. »Die einen sagen: Jesus hat gelebt, aber seine Auferstehung ist eine fromme Legende der Gemeindebildung. Andere sagen: Gelebt hat er vielleicht nicht, doch seine Leiden in der Treue zum Vater sind real.« Eine weise Muslima tritt hinzu und meint: »Lebt in gegenseitigem Respekt und betet in der Treue zum Ewigen und All-Erbarmer. Dann habt ihr beide recht, ob Jüdin oder Christin.« Wenn ein Jude zugibt, dass das Buch Hiob am Anfang und Ende märchenhafte Züge trägt, dann dürften auch einige Christen einräumen, dass so etwas auf die »Berichte« von Jesu Anfang und Ende und auf die kunstvolle Redaktion des Johannes-Evangeliums zutrifft. Dieses schönste und erhabenste aller vier Evangelien ist wie auf den Goldgrund eines orientalischen Märchens für Erwachsene gemalt. Gleichwohl ist es mehr als nur unterhaltende Literatur! Die Leiden des verspotteten, gefolterten und ermordeten Liebenden Jesus sind real, Jesu Klageruf am Kreuz ist echt; statt sich zu rächen und die Menschen zu verfluchen, werden sie vom Menschensohn und Gottmenschen gesegnet. Er endet nicht als Misanthrop.
Aus solchen oder ähnlichen Reflexionen wird kein »Einheitsbekenntnis«; Differenzen und Uneinigkeiten bleiben in allen Lagern und zwischen allen Lagern bestehen. »Dass sie alle eins seien«, ist ein frommer Wunsch. Doch ist es überhaupt wünschenswert?
Doch zurück zum Verhältnis von Klage und Lob. Das Gotteslob ist eine »Gebetsstrategie«, in der Gott als DU angerufen und allen anderen als lobenswert vorgestellt wird. Es ist der stets offene und mögliche Ausstieg aus der Tonart der Klage. Damit wird das sog. »Theodizeeproblem« eines Gottes, der alles erschaffen hat und auch die physischen und moralischen Übel der Menschen zulässt und meist lange toleriert, bevor ER mit launischen Zornattacken dazwischenfährt und ganze Völker ausradiert, nicht »philosophisch« (d. h. mit dem Verstand) gelöst, sondern als Problem anerkannt, wenn nicht sogar verschärft, das den Verstand übersteigt. Das Herz betet, auch wenn der Verstand nicht mehr mitmacht. Das Herz ist dem Verstand voraus, doch der Verstand wird nicht ausgeschaltet und durch blinden Eifer ersetzt, sondern der Verstand folgt, wenn auch mit Zögern und Verspätung, dem Impuls des Herzens. Das Denken braucht das Beten, um über sich hinaus, aus dem Gefängnis der Endlichkeit hinaus zum ewigen DU zu gelangen. Das Gebet braucht das Denken! Nur wachsame Selbstkritik, ja sogar die Fähigkeit, ehrlich zu klagen und dazu noch den Spott anderer zu ertragen, macht die Betenden »authentisch«, nämlich zu endlichen Wesen, die sich vor dem Ewigen prüfen und in Frage stellen lassen.
Die Ankündigung des »Jüngsten Gerichts« entspricht der Erwartung einer letzten restlosen Offenbarung in der Endzeit, eines »Auges« und Antlitzes, das alles sieht und das wir schließlich »von Angesicht zu Angesicht schauen«.
Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt werde.8
Offenbarung und Apokalypse fallen zusammen, und wie die Ankündigungen und Ermahnungen deutlich machen, gibt es bereits Anzeichen für das beginnende »Reich Gottes«. Das Reich Gottes ist nahe; die Entscheidung rückt näher, zeitlich und räumlich und vor allem bezogen auf den Bereich der praktischen Entscheidung, als »Reich der Zwecke« (Kant) oder vollkommene Vereinbarkeit der Freiheit aller.
Doch was heißt hier ›nahe‹ ? Wie kann Gott im Himmel nahe sein? Wie gehen die Attribute »nahe« und »erhaben« bzw. »transzendent« zusammen? Theologisch gesprochen gibt es zahlreiche Denkmuster: 1. Gott ist fern, naht sich aber durch sein »Erbarmen« und die Inkarnation in Jesus Christus. 2. Das Verhältnis von Gott und Mensch wird in einer mystischen Theologie als Chiasmus verstanden: Gott ist in allem und damit allem nahe, und alles ist in Gott, der »alles« übersteigt. Insofern Gott »mehr als alles« ist, ist ER fern. 3. Gott ist fern wie ein Stern, doch er kommt aus der Ferne näher. Das bedeutet die Eschatologie, welche auf der messianischen Hoffnung aufbaut und im Gericht, in der Versöhnung, im Anschauen des Antlitzes erfüllt wird. Es ist der ferne Gott, der mit der Zeit die Zeitferne in der Frage »Wie lange noch?« überwindet. Gott »ist« nicht nahe, aber im Herannahen der fernen Zukunft: »ICH bin, der ich sein werde«. 4. Gott ist bereits genaht und naht bis heute in seinen Mittlern: Gesetzgebern, Propheten, Weisen und Frommen, Engeln, Priestern und Aposteln, er kündigt sich an in der Todesstunde. »Die Blätter fallen, fallen wie von weit, / als welkten in den Himmeln ferne Gärten.« (Rilke) 5. Gott ist als Heiliger Geist immer nah als Beistand, doch der Mensch entfernt sich in der Sünde und fühlt sich von Gott verlassen. Die »Ferne« ist in gewisser Weise eine »Halluzination der Sünde«.
Das deutsche Adjektiv hat einen räumlichen und zeitlichen Sinn. Wenn wir davon hören, dass im fernen China ein Virus ausbricht, so wird uns das in Europa zunächst nicht besonders »elektrisieren«. Allerdings können uns Bilder von Menschen mit Masken und von überfüllten Intensivstationen bereits beunruhigen. Wenn wir dann davon hören, dass das Virus sich als Pandemie ausbreitet, in der Mitte unserer Gesellschaft angelangt ist und die Medien, die Politik und die Ökonomie täglich beschäftigt, dann erleben wir diese Art von »Nähe«, die zugleich räumlich und zeitlich nahe, dringlich und handlungsrelevant ist. Es ist eine emotionalisierende, in diesem Beispiel allerdings eine bedrängende, beengende Nähe. Beschränkungen, Verbote, Krisen stehen bevor. Es ist, als hätte der Teufel wie giftiger Rauch eine neue Ritze als Eingang in die Welt gefunden.
Eine traditionelle Methode zur Herstellung von »Gebetsnähe« ist das Eingedenken der Nähe des eigenen Todes. Memento mori ist eine Form der Besinnung, welche die vorherrschende Verdrängung des Bewusstseins des eigenen Todes korrigiert. Dabei geht es um eine lebhafte Vergegenwärtigung dessen, was wir in einem »kalten Sinne« bereits wissen: Jeden ereilt es. Ist es der Tod unserer Nächsten oder gar der eigene und immer nähere Tod, so lässt uns das Wissen um den eigenen nahen Tod nicht mehr kalt. Aus dem unbeteiligten Wissen wird ein bangendes Wissen.
Vollständig aufheben lässt sich die Verdrängung des Todes nicht; sie ist sogar eine Voraussetzung jener »positiven Illusionen« oder »Lebenslügen«, denen wir manche »kulturelle Energien« verdanken. Um keine permanente Panik zu erzeugen, muss das Bewusstsein der Sterblichkeit zunächst und zumeist kalt bleiben. Das Vokabular der »Lebenslügen« oder »lebensnotwendigen Irrtümer« wird aus dem 19. Jahrhundert in die Kulturkritik übernommen, der gemäß ein Leben ohne Illusionen unmöglich wäre. Im Zuge der Aufklärung und des modernen Entwicklungsromans wird Desillusionierung zum obersten Ziel, wenn nicht sogar zum Selbstzweck.9 Das ruft Nietzsches Meta-Kritik auf den Plan, die daran erinnert, dass selbst das Ideal eines Lebens ohne Illusionen – eine Illusion bleibt, und zwar die hartnäckigste aller Illusionen. Nietzsche behandelt es nicht als Gewissheit, sondern eher als erkenntnistheoretische und existentielle Gewissensfrage: Könnte der Irrtum zu den Bedingungen des Lebens einer Gattung gehören? Wie wenn es nur »Erkenntnis in Blasen« gäbe, aus denen wir nicht ausbrechen können?
Angenommen, Irrtümer sind wahrscheinlicher und häufiger als wahre Erkenntnisse und gewisse Grundirrtümer sind nichts als Verzerrungen, Vereinfachungen und Formen der Selbsttäuschung (etwa über den eigenen Wert, die eigenen Verdienste usw.), so wäre eine Instanz willkommen, die diese Irrtümer korrigiert. Doch wo ist das Auge, das alles sieht und allem gerecht wird?
Die Skepsis der »Erkennenden« (zu denen sich Nietzsche selbst zählt) an der letzten Zugänglichkeit, ja am Wert von »Wahrheit« destabilisiert das scheinbar unverrückbare Bild des »Weisen«, der im Besitz der Wahrheit in der Seele ruhig und »glücklich« ist. Die Kritik am Wert der »Wahrheit« bzw. am »Besitz der Wahrheit als Trost« hat viel gemeinsam mit zynischer Selbstverspottung oder dem »Credo« des Narren, der sich selbst nicht aus der Schusslinie zieht, sondern auch über sich selbst lacht. Alle sind Narren, doch die größten Narren sind jene, die sich für »weise« halten. Zugleich ist es eine ironische (?) und elitäre Geste, von sich selbst zu behaupten, nicht unter den naiven Narren zu sein. Man zählt sich zu den reflexiven Narren, die denken, dass sie Narren sind und sich doch nicht davon befreien können. Es ist, als hätte man die richtige Selbstdiagnose, aber keine Therapie.
Nach Nietzsches Diagnose wären wir alle in Illusionen befangen, alle Narren. Allerdings gäbe es jene reflexiven Narren, die sich dessen bewusst sind, dass sie nicht weise sind. Ist der reflexive Narr nicht zur Resignation oder gar zur Depression verurteilt? Klingt sein Lachen über sich selbst hohl, wie das Echo von einem Felsen? Aus der scheinbar konsequenten Haltung eines reflexiven Narrentums entsteht das Paradox der Selbstdiagnose: Was qualifiziert und unterscheidet mich von anderen, dass ausgerechnet ich durchschaue, dass ich »irre« bin, obwohl doch die verbreitete Torheit darin besteht, sich selbst für »normal« zu halten? Wenn ich »krank« bin und keine Krankheitseinsicht habe, bin ich dann nicht dazu verdammt, ein Narr zu bleiben, der seine Situation nicht durchschaut? Wie kann ein Individuum aus dem »universalen Verblendungszusammenhang« ausbrechen? Ich kann zwar leiden, doch ich kann diese Leiden immer so umdeuten, dass ich nicht unter mir leide, sondern unter den anderen, unter den Umständen oder unter »Gott«. Kann ich dazu gelangen, zu erkennen, dass ich unter der Sünde leide? Doch wie kommt der Narr zu einem Sündenbewusstsein?
Damit wird eine Funktion des Begriffs »Sünde« spruchreif, die indiziert, dass der Sünder so verstockt ist, dass er sich selbst nicht als Sünder erkennt. Ich brauche sozusagen einen Anstoß von außen, ein »mächtiges Du«, einen übermächtigen Kläger, der mir meine »Sünde« beweist und mich dafür zur Verantwortung zieht. Ich kann mich selbst von mir aus nicht als Sünder erkennen und überführen. Andere Menschen können es auch nicht, sofern sie sich selbst in mir spiegeln und mich gar nicht sehen können, wer und wie ich bin. Einem endlichen Richter kann man mit der quasi-anarchistischen Frage ausweichen:
»Wer bist Du, dass Du über mich Gericht hältst?«
Wenn ich keinen Richter anerkenne, scheinen alle Drohungen und Strafen nicht auszureichen, um meinen Willen zu »reinigen« oder gar zu »brechen«. Eine Kultur des individuellen Eigensinns führt dazu, den Begriff der Sünde und des »Jüngsten Gerichts« en bloc zu verwerfen. Es gibt nur menschliche und damit fehlbare, wenn nicht sogar »bestochene« Richter und soziale Konventionen. »Gott« wird mit der Frage des Eigensinns »getötet«:
»Wer bist Du, dass Du über mich Gericht hältst?«
Zu Ungunsten des Vokabulars und der Theologie der Sünde gibt es weitere Bedenken: Hat die Höllendrohung gegen Sünder nicht zu einer Kultur der Angst und Repression geführt? Was kann der Begriff der Sünde leisten, was die Begriffe von Schuld und Gewissen nicht können? ›Sünde‹ wird nach Nietzsche zum Inbegriff falscher Psychologie und nach Marx ein Instrument reaktionärer politischer Theologie. Eine bestimmte Richtung und Deutung der Psychoanalyse scheint dem Sündenbegriff den definitiven Todesstoß zu versetzen. Der Zustand der Sünde entspricht dem »falschen Bewusstsein« eines Mannes, der sein Leben lang im Ödipus-Komplex befangen bleibt. Der Sündenvorwurf macht den Menschen für die Konfusionen aus dem Unbewussten verantwortlich, statt ihn von der Macht des Unbewussten zumindest teilweise zu befreien.
Diese Deutung der Psychoanalyse erhebt den Impuls von Sigmund Freuds Religionskritik mit dem satirischen Titel »Die Zukunft einer Illusion« zum ultimativen Todesurteil einer verkappten Geschichtsphilosophie, der gemäß die Religion, im Unterschied zur modernen Wissenschaft, keine Zukunft habe. Dies entspricht der ödipal angeheizten Rede vom Alten und »den Alten« im Generationenkonflikt. Der Gang der Entwicklung folgt einer vermeintlichen Gesetzmäßigkeit zur fortschreitenden Säkularisierung und Selbstkontrolle. Säkularisierung und Fortschritt werden zu austauschbaren Kampfformeln. Dagegen wird »orthodox« oder »neuorthodox« zum Schimpfwort jener, die sich für die Spitze des Fortschritts halten. Doch in Fragen der Religion ist der Begriff »Fortschritt« ebenso stumpf und untauglich wie im Bereich der Kunst.
Eine Analogie aus der Musikgeschichte mag die Problematik des Fortschrittsdenkens erläutern. Manchen Künstlerinnen und Künstlern, die sich der Zwölftonmusik teilweise oder vollständig verweigerten, war diese Problematik besonders deutlich vor Augen.
Die äußerste Perversion des Fortschrittsdenkens in der Kunst ist jene der totalitären Zensur gegen »zersetzende Kunst«. Platon selbst kann als Vordenker gelten, wenn er den Dichtern nachsagt, dass sie »zu viel lügen«. Gegen Homer und Hesiod verteidigt Platon den »Fortschritt vom Mythos zum Logos«. Der Mythos enthält nach dieser Auffassung eine Mischung von Halbwahrheiten und Irrtümern, Lügen und Phantasmen. Die Fusion von Lüge und Fiktion in Platons Mythos- und Kunstkritik ist Ausdruck einer moralpädagogischen und paternalistischen Politik, welche die Menschen vor Verweichlichung oder Verrohung bewahren will.
Totalitär kontrollierte Kunst im Namen eines Fortschritts in der Geschichte läuft im Effekt auf eine Reduktion von Kunst auf den biederen, volkstümelnden oder manischen Geschmack von paranoiden Despoten hinaus. Sie verordnen und erzwingen z. B. eine »neue Naivität«, aus Furcht vor der »Zersetzung« durch freie Kunst. Kunst unter Hitler muss stereotyp und bombastisch, Kunst unter Stalin dagegen harmlose Folklore sein. Das Ideal eines Fortschritts in der Kunst wird durch seine politische Funktionalisierung endgültig verwirrt und verwirrend. Wird Kunst als harmlos unterschätzt, oder wird sie als subversiv überschätzt? Ist nicht diese politische Beurteilung eine begriffliche Grenzüberschreitung? Kunst und Religion lassen sich nicht vollständig politisieren und kontrollieren. Sie enthalten vielmehr integrale Bestandteile von Freiheit, die sich der Kontrolle entziehen.
Einer ähnlichen Reduktion von Kultur auf Politik entspringt das »moderne« Verdikt gegen die Verwendung des Begriffs der Sünde. Der Ort der Sünde ist nicht die Gesellschaft und die Politik, sondern die Beziehung zum Numinosen. In den Psalmen wird immer wieder angedeutet, gelegentlich sogar offen ausgesprochen, dass alle Menschen Sünder sind und – für andere und für sich selbst – Feinde werden können. Mächtige sind Feinde von oben; Ohnmächtige werden zu Feinden von unten, und alle – Herrschende und Abhängige – haben »innere Feinde« bzw. ein »böses Herz«. Der Herr wird von den Propheten und Psalmensängern angerufen als jemand, der den Ohnmächtigen beisteht und sie zugleich vertritt, damit sie die »Rache« nicht selbst in die Hand nehmen und ihnen die Bestrafung der Mächtigen nicht selbst überlassen bleibt. Selbstverteidigung und Revolte können ebenso aus dem Ruder laufen wie routinierte Herrschaft. Es gibt eine Disposition zum Bösen, die wir nicht ganz unter Kontrolle bringen werden, ähnlich wie die mit der Sünde verwandte Todesangst.
Es ist gewiss eine dringende Frage, ob die Bibel nur »falsche Psychologie« enthalte, von der man sich jetzt und künftig ganz abwenden wird oder sollte, oder ob sie ein Weisheitsbuch für alle Zeiten sei. Der Begriff der Sünde lässt sich wissenschaftlich und psychologisch nicht ganz transparent machen, weil er etwas mit der (verfehlten) Beziehung zum »Gesicht« des EWIGEN zu tun hat. Die Bibel ist kein Lehrbuch für moderne Psychotherapie; gleichwohl kann die Weisheitsliteratur aller Epochen und Kulturen tiefe Einblicke in die menschliche Natur und praktische Anleitungen enthalten. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit dem Motiv der »Liebesverweigerung«, jenem Trotz des Menschen, der die Liebe seines Schöpfers immer wieder zurückweist, obwohl er doch nach dem »Gesicht« des EWIGEN sucht. Das praktische Problem, im richtigen Augenblick die Präsenz der wahren Liebe zu erkennen und anzunehmen, kann nicht »veralten«. Das Volk der biblischen Geschichtsbücher und seine Könige sind nicht reine Lichtfiguren, und selbst der Jude Jesus10 wird nach der Überlieferung der Evangelien nicht einseitig als sanfter Heiliger porträtiert, sondern auch als zorniger Prophet, mit gelegentlich »unfairen« Ausbrüchen gegen seine eigene Familie, seine Jünger11 und seine »Konkurrenten« unter den Pharisäern. Sein Verständnis für die Sünder bringt ihn in eine schon fast verdächtige Nähe zur Sünde oder – wenn man diese Unterscheidung gewichten mag – zu den Sündern.
Ich bin gekommen, die Sünder zur Buße zu rufen und nicht die Gerechten. (Lk. 5, 32) Ich sage Euch: so wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. (Lk. 15, 7)
Es ist frag-würdig, d. h. der Frage würdig, ob die spätere Christologie der Kirche und das trinitarische Dogma, das u. a. besagt, dass Jesus der einzige Mensch ohne Sünde war, mehr der Wahrheit oder der Erbauung durch fromme Legenden dient. Der jüdische Mensch Jesus war vermutlich kein Mann ohne Sünde und auch kein Mann ohne Frau in seinem Leben. Der Mythos vom Sündenfall spielt sich ab im Verhältnis von Adam (dem Menschen) zu Gott und im Verhältnis zwischen Frau und Mann. Selbst wenn Jesus nicht verheiratet war und zu jung starb, um im Rat der Ältesten und Witwer bzw. »alten Sünder« mitreden zu können, so war er doch, besonders nach dem Porträt des Lukas-Evangeliums, ein Frauenfreund, kein Frauenverächter. Kann ein Mann ein Frauenfreund sein, ohne jemals »Jugendsünden« zu träumen oder zu begehen?12 Muss die Erfahrung der »Unfähigkeit« zur Ehe im Leben eines Wandercharismatikers nicht besonders intensiv sein? Und bleibt ein munterer Mann, der nicht vor dem Tod vertrocknet, etwa nicht lebenslänglich ein Mann mit anhaltenden Neigungen zu »Jugendsünden«? Jesus hat sich mehr für die Sünder interessiert als für jene »Gerechten« (oder sollte man besser sagen »Selbstgerechten«?), die vorgeben, das Wort »Sünde« nicht zu verstehen oder sich weigern, es auf sich selbst anzuwenden. Die Selbstgerechten sind wie die Verstockten: Sie lassen sich vom Ruf zur Umkehr nicht erreichen.
War Jesus selbst in Sünde verstrickt? Vielleicht fiel es Jesus leichter, einer Hure ihre Sünden zu vergeben, weil er selbst einmal ihre Dienste angenommen hat. Jesus bei den Huren – eine frivole Phantasie? Es geht hier weniger um den Stoff für eine Satire oder Komödie, sondern um die psychologische Frage: Ist es möglich, Sünde zu verstehen oder zu vergeben, wenn man selbst nie gesündigt hat? Genügt es, einen einzelnen Typus von Sünden (wie z. B. Geiz oder Neigung zum Jähzorn) zu kennen, um andere Typen von Sünden (wie z. B. Hurerei) zu verstehen und zu vergeben? Und würde ein kurzes Leben, das so grausam und schmählich am Kreuz endet, dazu qualifizieren, alle Sünden (auch die Sünden aller Lebensalter inklusive die »Alterssünden«) zu verstehen und zu verzeihen? Bleibt Jesus ein bornierter Mensch, der sich z. B. nicht in die Sünden eines Greises versetzen kann?
Das sind Überlegungen, die nichts kosten, aber vielleicht auch nichts einbringen. Sie stellen vor das Dilemma, ob man die Vermutung, dass alle Menschen Sünder seien, ernst genug nimmt, um sie auch auf die »perfekte Ikone« des Glaubens anzuwenden. Sah sich Jesus selbst als Sünder vor seinem Vater? War Jesus (nach dem später entstandenen Dogma) Mensch und Gott zugleich, was ist dann anstößig daran, dass der Mensch in ihm sündigt? Jesus betet zum himmlischen Vater und gehorcht ihm. Liegt darin die ganze Antwort auf die scheinbar anstößigen Fragen? Oder sogar ein Hinweis darauf, dass diese Fragerei »beside the point« ist?
Wahrscheinlich haben einige Menschen nie so »schwer gesündigt« wie jene, die viele Leben auf dem Gewissen haben. Doch die Sünde der Lüge bleibt wohl niemandem erspart und wird bereits von Augustinus generell als Sünde bezeichnet, so dass sogar die Scherzlüge (Mendacium jocosum) als sündhaft gilt. Ein Lügner kann sich leicht herausreden, indem er sagt: »Ich habe gelogen, doch es war nicht ernst gemeint.« Umgekehrt kann sich ein Witzbold oder Lügenfreund wie der Baron von Münchhausen gegen Augustinus damit verteidigen, dass er nicht verantwortlich sei für das Humor- oder Ironie-Defizit anderer.
Die Pervertierung des Sündenbegriffs in einer klerikalen und staatlichen Sündenpolitik und Moralkasuistik gehört zu den verhängnisvollen Weichenstellungen einer beinahe zweitausend Jahre dauernden christlichen Hegemonie in manchen Ländern und Regionen der Welt. Dem Horrorbild einer Inquisition gegen Sünder lässt sich das Bild einer Selbsterforschung des Gewissens vor Gott entgegenhalten. Die Ergründung der Sünde »funktioniert«, wenn überhaupt, als Gelegenheit zur Konfrontation des Einzelnen im »Beichtspiegel« vor Gott. Sie ist ein Bestandteil freiwilliger Buße, des stillen Gebets im »Kämmerlein«, das nicht von anderen Menschen kontrolliert oder erzwungen werden kann. Der Aufruf zur Buße in der Bußpredigt ist keine Selbstermächtigung zur Kontrolle und Bestrafung anderer, sondern Bestandteil des Rufs zur Umkehr. Erschütterung und Bekehrung zur Umkehr gehen nicht von Menschen aus, sondern vom Numinosen selbst. Die schlimmsten Sünder sind mitunter die eifrigsten Prediger, weil sie sich an die Stelle Gottes verirren. Vor Gott dagegen ist kein Platz für Schauspielerei und fromme Selbstinszenierung!
Keine Instanz der Welt kann einen Verbrecher dazu bringen, ein Unrechtsbewusstsein zu entwickeln, wenn sich das schlechte Gewissen nicht zuvor im Inneren regt, wenn sich jemand nie und nimmer vor Gott als Sünder bekennt. Strafen und insbesondere Todesstrafe und Gefängnisstrafe tragen wenig und selten zu einer Kultur der Reue und Einsicht bei. Sünde wächst in der Weigerung zur Umkehr, in der »Konversionsangst«. Wer nicht innerlich und vor Gott bereut, ist verloren. In diesem Sinne ist Jesus selbstverständlich kein Durchschnittsmensch, der nicht Umkehr und Feindesliebe übt und damit vom scheinbar determinierten Status des »Alten Adams« abrückt.
Die zuvor angestellte Erwägung über die Wahrscheinlichkeit der Sünde im Leben Jesu dient nicht dazu, seine Person zu diffamieren und den Glanz seiner ungewöhnlichen Hingabe an Gott zu trüben. Der Jude Jesus ist nach der Überlieferung seiner Passion ein »Märtyrer der reinen Liebe« – jener Liebe, von der alle träumen, ohne sie selbst zu üben. Nur weil wir von reiner Liebe träumen, sind wir fast alle von unseren Eltern, Kindern, Ehepartnern und Freunden – bewusst oder unbewusst – enttäuscht. Von ihnen haben wir »reine Liebe« erwartet, die wir selbst nicht geben. Wir erwarten z. B. restloses Verzeihen und sind selbst nicht bereit und fähig dazu. Dieser Enttäuschung über andere entspricht die Anfechtung des Vertrauensverlustes, die Angst, in Not und Verzweiflung von Gott verlassen zu sein. Ihr entspricht die Klage, welche das Leiden an der Raum-Ferne und Zeit-Ferne einschließt: »Warum, wie lange noch wendest Du Dein Antlitz ab?« Selbst wenn Jesus jemals in Sünde gelebt haben sollte und noch zuletzt an der Treue seines Vaters verzweifelte oder erst am Lebensende empathisch verstanden hat, was der Anfang von Psalm 22 »Mein Vater, mein Vater, warum hast Du mich verlassen?« zum Ausdruck bringt, so ist er bis am Ende der Mensch, der betet und mit dem Psalm um ein reines Herz bittet und daher qualitativ verschieden ist vom moralischen Vorbild im Sinne der Stoa. Vollendung widerfährt ihm nicht aus der Vernunft, sondern aus der Nähe des Vaters. Statt dem Weisen gleicht er eher dem »Herzensnarren«, der nichts von sich aus hofft und alles vom GELIEBTEN erwartet. Diesen qualitativen Unterschied zwischen dem stoischen (Ideal des) Weisen und Jesus hat einer der ersten deutschsprachigen Atheisten, Arthur Schopenhauer, erstaunlich hellsichtig festgehalten: Jesus ließ das Leiden und – wie ich ergänze – auch die Sünde näher an sich herantreten als der vornehm distanzierte und diskrete stoische Weise, der ein Leben ohne Lust und Leiden anstrebt. Gegen das Ideal des stoischen Weisen spricht das Leben selbst bzw. sein wesentlicher Leidenscharakter.
Es liegt vielmehr ein vollkommener Widerspruch darin, leben zu wollen ohne zu leiden […] Wie ganz anders scheinen, neben ihn gestellt, die Weltüberwinder und freiwilligen Büsser, welche die Indische Weisheit uns aufstellt und wirklich hervorgebracht hat, oder gar der Heiland des Christentums, jene vortreffliche Gestalt, voll tiefen Lebens, von grösster poetischer Wahrheit und höchster Bedeutsamkeit, die jedoch, bei vollkommener Tugend, Heiligkeit und Erhabenheit, im Zustande des höchsten Leidens vor uns steht.13
War Jesus tugendhaft, so hat er gleichwohl den Titel der Tugend von sich gewiesen und von sich weg, hin auf den Vater verwiesen.
Was nennst Du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein. (Mk. 10, 18; Lk. 18, 19)
Sollte der Titel des »Guten« oder »Gerechten« wie der Doktortitel zu jenen Auszeichnungen gehören, um die man sich zwar bemühen, die man sich aber nicht auf legale Weise selbst verleihen kann? Leiden jene, die sich zu den Nicht-Sündern zählen, am Syndrom der illegalen Titelanmaßung? Klafft ein Abgrund zwischen dem Tugendhaften und dem Tugendbold? Ganz anders der Titel des »Sünders«, den ich mir selbst verleihen kann und realistischerweise auch müsste. Wer sich als Sünder sieht, endet nicht in Zähneknirschen und Zähneklappern; in der Selbstdeklarierung als Sünder vor Gott besteht schon der Funke Hoffnung auf die Befreiung von der Tyrannei der Sünde. Nietzsche beschreibt den Sachverhalt ironisch:
Lucas 18, 14 verbessert. – Wer sich erniedrigt, will selbst erhöht werden.14
Nietzsches Parodie der Bibel sollte ergänzt werden:
Wer sich selbst erniedrigt, will von niemand anders als von Gott selbst erhöht werden.
So stimmt die Buße, und die Ironie kehrt sich gegen jene, die sich als Büßer und Flagellanten inszenieren und dabei nur auf Anerkennung und Erhöhung durch andere Menschen schielen.15 Wer sich choram Deo als Sünder deklariert und bekehrt, öffnet dem Hauch des Heiligen einen Türspalt. Ich öffne Fenster und Türen dem heiligen Windhauch (ruach), um mein Inneres zu lüften. Das ist essentiell eine Handlung vor Gott und kategorisch verschieden von den Handlungen jener Personen, die sich z. B. in den sozialen Medien oder in einer Talkshow enthüllen und damit ihre eigene Privatsphäre preisgeben. Das Sündenbekenntnis ist der einzige Weg zum Lob Gottes als dem wahrhaft not-wendenden Gott der Liebe und Vergebung. Vor den meisten Menschen sollte man sich verhüllen; vor Gott kann man sich nicht oder nur aus einem Missverständnis heraus verhüllen. Es gibt keine Privatsphäre vor Gott. Er sieht sogar kleine Mädchen, die heimlich Pipi machen, nur ist ER kein perverser und beschämender Voyeur, sondern ein Tröster und Beistand (Paraklet). Er ist auch keine moralische Gouvernante, die im »Jüngsten Gericht« nur die Verfehlungen sieht; Gott sieht auch das verborgene Gute in mir, von dem ich vielleicht selbst kaum etwas weiß. Ich benenne und bekenne IHM die Sünde, die ER bereits kennt.
Ein Anliegen der folgenden Abschnitte wird es sein, die Psalmen zunächst und zumeist als Gebet und Poesie der jüdischen Überlieferung gelten zu lassen. Es geht nicht nur darum, den Juden ihre Bibel nicht zu »stehlen«, sondern auch darum, sie nicht vorschnell und grundsätzlich christlich zu vereinnahmen. Allerdings soll das Pendel der Ungerechtigkeit gegenüber den Juden nicht ins Gegenteil umschlagen und die Hebräische Bibel als »Eigentum« oder Sondergut der Juden auszeichnen. Die ganze Bibel gehört allen, »die nach ihm fragen, die dein Antlitz suchen.« (Ps. 24, 6. Übersetzung von Martin Buber)
Was es heißt, ein Antlitz zu suchen, ist wissenschaftlich schwer zu erfassen. Roger Scruton hat diese Fragen nach dem Antlitz erörtert. Er verweist darauf, dass sich Gott selbst als »Ich« bekundet: »Ich bin der ich bin.« (Ich bin, der ich sein werde.) ER nimmt uns gegenüber die subjektive Perspektive ein und eröffnet damit eine dialogische Beziehung. Die dialogische Beziehung wurde von der Begegnungsphilosophie aus jüdischen und christlichen Quellen entfaltet.16 Gott kann als Du angerufen werden. Scruton kommt dabei auch auf die besondere Rolle der Psalmen zu sprechen.
The hope of a face-to-face-encounter fills the Psalms from beginning to end […]17
Die Erfüllung der Suche nach dem Gesicht wird vom Juden und Christen Paulus eschatologisch beschrieben.
Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. (1 Kor. 13, 12)
Die Suche nach dem »Gesicht des Ewigen« wird der Grundtenor der folgenden Kommentare sein, die keine Vollständigkeit und keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben. Vielmehr geht es darum, dass jeder Leser, jede Leserin etwas zu sehen vermag, was andere nicht oder weniger deutlich sehen. Es gibt eine denkende, durchaus auch selbstkritische Form der erbaulichen Lektüre. Jeder, jede fühlt sich einzigartig, und das könnte, wenn es nicht nur Ausdruck von Ignoranz und Illusion ist, bedeuten, »dass es einen Aspekt von Gott gibt, den nur ich in dieser Welt ausdrücken kann.«18