Читать книгу Poesie und Denken in den Psalmen - Jean-Claude Wolf - Страница 9
Оглавление1. Zwischen Theologie und Philosophie
Das empathische Lesen der Psalmen ist Teilnahme am Gottesdienst der betenden Menschheit. Wer empathisch liest, dem fällt es nicht schwer, in Gottes Herz zu sein. Gott lebt und webt in allem, Er ist das Herz der Welt. Wer die Psalmen nicht nur zur Unterhaltung oder aus gelehrtem Interesse liest, betet »innig lesend« oder »murmelnd«19 mit allen Betenden und betet zu Gott. Wer die Psalmen allein liest, steht »allein vor Gott« (das isolierte Stehen), doch in der symbolischen Gemeinschaft aller Getreuen. Das Stehen-vor-Gott ist als symbolische Handlung innere oder äußerliche (z. B. rhythmische) Bewegung (das bewegte Stehen), die auch Allein-Sein vor Gott, Knien oder Niederwerfung bedeuten kann. Vor das Antlitz Gottes gelangen: Das ist das Symbol des Gewissens. Das Stehen ist kein konfessionelles Erkennungszeichen für (protestantischen) Stolz, sondern die Haltung des Menschen, der sich unterwirft, aber nur von Gott aufrichten lässt und aufgerichtet fühlt. Wer sich niederwirft, kann sich erheben lassen. Das Stehen »vor Gott allein« bedeutet, dass es im Konflikt der Befehle, Regeln und Gesetze gilt, Gott allein zu gehorchen. Deshalb gilt Abraham als »Vater des Glaubens« für Juden, Christen und Muslime. Der wahre Gott ist der Gott aller Geschöpfe, kein Stammes- oder Sondergott. Er ist der erste Begleiter im Mutterleib (Ps. 119) und der letzte Begleiter im Sterben.
Der Sinn des ersten Teils des Doppelgebots der Liebe verleiht dem Gebot »Liebe Gott!« absolute Priorität: Liebe Gott! Aber nicht wie dich selbst, auch nicht wie deine Liebsten, sondern liebe IHN, Deinen HERRN, »über alles«. »Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.« (Apg. 5, 29) Allem Gehorchen geht das Hören voraus. Das erste Gebot des Betens könnte lauten:
»Höre auf das Wort Gottes!«
Das »Hinaufhören« vollzieht die Bewegung der Erhebung des Herzens, des Aufstieg auf den Berg Zion. Das zweite Gebot des Betens ließe sich wie folgt formulieren:
»Bitte um Verstehen und Einsicht in die Weisheit der Weisung!«
Damit wird die Nächstenliebe nicht etwa von der Gottesliebe entkoppelt und die Gottesliebe zum Ersatz für die Nächstenliebe gemacht. Wer ausschließlich Gott liebt und Menschen und Tiere verachtet, ist nicht durch die Gottesliebe geheilt. Die Liebe zu Gott schließt die Liebe zu Himmel und Erde und zur Tora ein. (Vgl. Ps. 19) Der Gottesschwärmer, der die Welt vergisst, macht sich krank. (Man kann sich durchaus krank beten.) Das Doppelgebot der Liebe koordiniert die beiden Bestandteile derart, dass die Liebe zur Schöpfung nur Sinn macht als Ausdruck der Liebe zum Schöpfer, als in der Gottesliebe begründet und justiert.
Doch gerade dem frommen Leser und der mitbetenden Leserin stoßen manche Stellen der Psalmen sauer auf. Am liebsten möchte man sich ganz von ihnen distanzieren. Jedenfalls fordern sie in ihrer Härte und Grausamkeit das Denken heraus. Das ist der Anlass für eine »Philosophie des Gebets« oder, einfacher gesagt, für ein denkendes Beten. Wer betet, hört nicht auf zu denken. Beten soll nicht gedankenlos sein; Frömmigkeit dispensiert nicht von Kritik und Selbstkritik.
Die philosophische Lesart erfolgt unabhängig von kirchlichen oder konfessionellen Bindungen. Mit der Freiheit des Redens und Schreibens ist auch das Risiko des Irrtums gegeben. Fragt jemand: »Was schreibst Du in Deinem neuen Buch?«, müsste die philosophische Antwort lauten: »Ich bereite meinen nächsten Irrtum vor.«
Philosophie und Glaube können in mancher Hinsicht konvergieren, doch sie bleiben getrennt durch eine rationale Kultur der Skepsis und eine hingebungsvolle Praxis des Vertrauens. Insofern ist Philosophie, die sich verstehend dem Gebet in den Psalmen nähert, auf der Schwelle zur Anti-Philosophie. Es ist, als könnte sie nicht ganz ins Heiligtum eintreten. Umgekehrt braucht gelebter Glaube jene Dosis Reflexion und Selbstkritik, die vor den Verirrungen der Selbstanbetung, Heuchelei und Lüge bewahrt. Plakativ gesprochen lauert hinter jedem Kreuz der Teufel, hinter jedem Priester der Kinderschänder, hinter jeder Orthodoxie drohen Peitsche und Maulkorb, hinter jedem Propheten steckt der Machtmensch, hinter jedem Klerus brodeln Heuchelei und Vertuschung. Glaube und Vernunft werden sich weiterhin aneinander reiben. So braucht es die Kritik der weltlichen Vernunft, ja sogar den Spott der Außenstehenden, um den Glauben vor diesen Perversionen und einem »frommen Inzest« zu schützen. Kirche und Synagoge müssen sich nicht so sehr gegen die »böse Welt« und die Spötter verbarrikadieren und ihr Ansehen in der Welt aufrechterhalten, sondern sie werden »bis ans Ende der Zeit« mit dem Bösen innerhalb ihrer eigenen Mauern beschäftigt sein. Skandale treten nicht als Einzelfälle und Ausnahmen auf, sondern sie sind »systemisch«, in der permanenten Verwechselbarkeit von Institution und Glaube angelegt. Statt »die Welt zu retten«, wird die »Gemeinschaft der Heiligen« für die Rettung aller beten. Im Gebet liegt das Potential zur Erweiterung der Ökumene und die Antizipation der Versöhnung aller. Niemand ist heilig aus sich heraus oder durch menschliche Veranstaltungen. Kein Weg zur Heiligkeit führt am Lob Gottes vorbei.
Diese apodiktischen Behauptungen sind vielleicht nicht objektiv wahr und nicht unbedingt private Meinungen des Verfassers, aber sie führen in den Geist der Psalmen hinein. Damit sollen nicht andre Formen und Stile der Spiritualität herabgesetzt werden! Ganz zu schweigen vom aufrechten Gang jener Menschen, die sich von Religion und Spiritualität fernhalten und anders orientieren. Die latente Feindseligkeit in jeder Abgrenzung gegen Andersgläubige oder Ungläubige kann gemildert werden, wenn die Grenzen und Strategien der eigenen Richtungen durchschaut und offengelegt werden. In der Hitze des Gefechts wird der Freund differenziert beschrieben, der Feind dagegen idealtypisch simplifiziert. So funktionieren Polemik und Apologie, sowohl für die Selbstbehauptung eines kleinen Volkes in einer feindlichen Umgebung, als auch für die Legitimationsmuster von Eroberern und Etablierten. Angesichts dieser Problematik werden die Feinde in den Psalmen zu einer besonderen Herausforderung des kritischen Denkens und der Hingabe des Glaubens.
Die andere Herausforderung ist die Obsession christlicher Richtungen, Psalmen und andere Teile des »Alten« Testaments entweder abzustoßen oder christologisch zu vereinnahmen. Eine Präferenz für Pluralismus gegen christliche Vereinnahmung und Monopolisierung liegt für eine großzügige (»liberale«) Philosophie auf der Hand. Christliche Meinungen sind Stimmen unter vielen anderen. Selbst wenn sie sich auf das Absolute beziehen, bleiben alle Stellungnahmen voraussetzungsreich und perspektivisch. Das Judentum als Quelle des Denkens und Handelns wurde nicht vom Christentum »überboten«, »abgelöst« oder »verschluckt«; jüdische Kultur und Religion sind in der ganzen Welt verstreut und tragen wesentlich zum Faktum des religiösen und kulturellen Pluralismus bei. Deshalb ist es obligatorisch, bei der Kommentierung der Psalmen immer zu fragen: Was würden Juden dazu sagen? Was sagen sie dazu? Was sagt der Jude Jesus dazu, und nicht nur das philosophische Konstrukt des späteren Dogmas? Und schließlich: Was sagt die Poesie in den Psalmen selbst?
Anmerkungen
19 »Murmeln« ist das unhörbare Bilden der Worte, das selbst der unmittelbare Nachbar nicht hört. Die Lippen bilden die Worte nach, Geist und Körper gehen mit; Murmeln ist leise, aber nicht stumm.