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6. Der längste Psalm (Ps. 119):
Anwesenheit des Ewigen in seinen Weisungen

Ps. 119 kreist um die Freude am Befehl Gottes. Das Paradoxon einer Freude an der Heteronomie muss philosophisch unverdaulich anmuten. Doch die Freude am Gehorsam zu den Befehlen Gottes steht über aller Unterwerfung unter menschliche Satzungen und Personen. Die Theonomie ist nicht zu verwechseln mit Heteronomie, Auslieferung an den Befehl anderer Menschen! Theonomie ist ein religiöser Weg zur Autonomie. Der Gehorsam ist verknüpft mit der Bitte um Einsicht ins Gesetz. Das Endresultat wäre das Tun des Guten aus Einsicht! Nicht wir machen uns frei, jeder für sich und gegen alle anderen, sondern wir werden alle befreit. Mit der Freude am Gebot ist etwas anderes gemeint als ein schikanöses Kirchenregiment, eine permanente soziale Kontrolle und religiöse Sanktionen, die nur irreführendes und irregeleitetes Menschenwerk sind. Die Abweichung vom Gesetz, die Gesetzes-Vergessenheit ist intrinsische Selbst-Bestrafung. »Der Quäler ist der Gequälte.«57 Adam und Eva handeln gegen das Gebot, das sie noch nicht verstehen, aus Neugier oder Übermut. Dieser erste Übermut tut nicht gut und macht nicht gut, und doch ist er verzeihlicher als der nächste Schritt im Sündenregister der Menschen: der Brudermord von Kain an Abel.

Das tatsächliche Leben der Menschen ist das fortwährende Versagen, der Schlendrian, die Lauheit. Keiner lebt ganz nach dem Gesetz. Keiner! Wer glaubt, das Gesetz vollständig zu erfüllen, treibt mit der »Großzügigkeit« und »Gnade« Gottes ein frivoles Spiel. Letzte Ehrlichkeit ist gefordert und besagt, dass niemand dem Gesetz genügt, dass wir alle Sünder (Verirrte und Verzweifelte) sind, doch dass der Ewige unsere Sünden nicht »zusammenzählt«. Sind wir doch selbst nicht in der Lage, die Zahl unserer Übertretungen des Gesetzes zu überblicken! »Wer kann merken, wie oft er fehlet? Verzeihe mir die verborgenen Sünden.« (Ps. 19, 13) Wenn es eine Vergebung gibt, dann nur eine umfassende, en bloc. Wir sind nicht Sünder im Detail, sondern Sünder en gros. Keine weltliche Instanz, keine Therapie ist der akkumulierten und kollektiven Schuld vor dem Gesetz gewachsen. Wir loben Gott dafür, dass es mehr vermag als selbst die »gute Policey« (der Erziehungsstaat der frühen Neuzeit) und die beste Therapie. Gott zeigt sich uns im Gesetz auf eine Weise, in der wir verstehen können, dass er uns überragt, ohne uns systematisch einzuschüchtern. Gott macht sich für uns fassbar im Gesetz.58 Hinter dem Befehl steht SEINE ewige Treue, mit der wir zum Guten motiviert werden.

Anmerkungen

57 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, 4. Buch, 2. Betrachtung: »Bei erreichter Selbsterkenntnis Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben« § 63, Zürich: Diogenes Verlag 1977, Bd. II, 441. Vgl. Jean-Claude Wolf: Bejahung und Verneinung des Willens, in: Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (Klassiker auslegen), hrsg. von Oliver Hallich und Matthias Kossler, Berlin: Walter de Gruyter 2014, 153–170.

58 Zur Deutung von Ps. 19 vgl. Andreas Nachama/Marion Gardei: »Du bist mein Gott, den ich suche.« Psalmen lesen im jüdisch-christlichen Dialog, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2012, 49–58. Über Chancen und Hindernisse des jüdisch-christlichen Dialogs vgl. Christina Kurth/Peter Schmid (Hrsg.): Das christlich-jüdische Gespräch. Standortbestimmungen, Stuttgart: Verlag Walter Kohlhammer 2000; Pierre Lenhardt: Auftrag und Unmöglichkeit eines legitimen christlichen Zeugnisses gegenüber den Juden. Eine Untersuchung zum theologischen Stand des Verhältnisses von Kirche und jüdischem Volk, Berlin: Selbstverlag Kirche und Judentum 1980.

Poesie und Denken in den Psalmen

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