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Zwanzigster Brief.
Von Julie.

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Inhaltsverzeichnis

Ich erhalte Ihre beiden Briefe zu gleicher Zeit; und ich sehe aus der Unruhe, welche Sie in dem zweiten über das Schicksal des anderen zu erkennen geben, daß, wenn die Einbildungskraft den Vorsprung hat, die Vernunft ihr nicht nachkommen kann und oft sie ganz laufen läßt. Haben Sie denn gedacht, als Sie in Sion ankamen, daß ein Courier nur eben für Sie bereit stünde, um mit Ihrem Briefe abzugehen, damit ich diesen Brief gleich bei seiner Ankunft erhielte, und daß sich für meine Antwort die Gelegenheit nicht weniger günstig darbieten würde? Es geht nicht so, mein allerliebster Freund. Ihre beiden Briefe sind mir gleichzeitig zugekommen, weil der Courier, der nur einmal die Woche geht, erst mit dem zweiten abging. Die Austheilung der Briefe erfordert einige Zeit; mein Commissionair braucht Zeit, um mir den meinigen heimlich zuzustellen, und der Courier geht von hier nicht sogleich am Tage nach seiner Ankunft wieder ab. Also, richtig gerechnet, sind acht Tage nöthig, wenn der Abgang des Couriers wohl in Acht genommen wird, um Antwort von einander zu erhalten; ich setze Ihnen dies auseinander, um Ihre lebhafte Ungeduld ein für alle Male zu beschwichtigen. Während Sie gegen das Schicksal und meine Nachlässigkeit declamiren, sehen Sie, ziehe ich genaue Erkundigung ein über Alles, was unseren Briefwechsel sicher stellen und Ihre Besorgnisse zur Ruhe bringen kann. Ich überlasse Ihnen, zu entscheiden, auf welcher Seite die liebreichste Fürsorge ist.

Reden wir nicht mehr von Leiden, mein lieber Freund! Ach, ehren und theilen Sie vielmehr die Freude, welche ich empfinde, nach acht Monaten Abwesenheit den besten Vater wieder zu sehen. Er kam Donnerstag Abend an, und ich habe seit diesem glücklichen Augenblick nur an ihn [Das Vorangehende beweist, daß sie lügt.] gedacht. O du, den ich nächst den Urhebern meiner Tage am meisten auf der Welt liebe, warum betrübst du mit deinen Briefen, deinen Klagen meine Seele, und störst die ersten Freuden der Wiedervereinigung einer Familie? Du möchtest, daß sich mein Herz ohne Unterlaß nur mit dir beschäftigte; aber sage mir, könnte das deinige eine unnatürliche Tochter lieben, die über ihre Liebesglut die Rechte des Blutes vergäße und die die Klagen ihres Geliebten für die Liebkosungen eines Vaters unempfindlich machten? Nein, mein würdiger Freund, vergifte nicht durch ungerechte Vorwürfe die unschuldige Freude, die mir ein so süßes Gefühl einflößt. Du, dessen Seele so zärtlich und so fein fühlt, begreifst du nicht, welcher Zauber darin liegt, in dieser reinen, heiligen Umarmung zu fühlen, wie dascVaterherz freudig an der Tochter schlägt? Ach! glaubst du, daß in solchem Augenblick das Herz sich theilen könne, ohne der Natur etwas zu vergeben?

Sol che son figlia io mi rammento adesso. [“Als Tochter fühl' ich mich und nur als Tochter.“] Denken Sie indessen nicht, daß ich Sie vergesse. Hat man je vergessen, was man einmal geliebt hat? Nein, auch die lebhaftesten Eindrücke, denen man sich einige Augenblicke überläßt, verwischen deshalb nicht die anderen. Nicht ohne Leid habe ich Sie abreisen sehen, nicht ohne Freude würde ich Sie wiederkommen sehen. Aber .... gedulden Sie sich, wie ich mich gedulde, weil es sein muß, und fragen Sie nicht weiter. Sein Sie überzeugt, daß ich Sie so bald als irgend möglich zurückrufen werde, und bedenken Sie, daß, wer am lautesten über die Trennung klagt, nicht immer Der ist, welcher am meisten leidet.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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