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Siebenunddreißigster Brief.
Von Julie.

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Inhaltsverzeichnis

Sie sind heute Morgen abgefahren, dieser zärtliche Vater und diese unvergleichliche Mutter, und haben mit den zärtlichsten Liebkosungen eine geliebte, ach, ihrer Güte nur zu unwerthe Tochter überhäuft. Mir zog sich, als ich sie umarmte, das Herz nur leicht zusammen, während es in sich selbst, das undankbare, unnatürliche Herz, hoch aufhüpfte in abscheulicher Freude. Ach! wo ist die glückliche Zeit hin, da ich unablässig unter ihren Augen ein unschuldiges, züchtiges Leben führte, da ich mich nur wohl fühlte an ihrer Brust und nicht einen Augenblick von ihnen weichen konnte ohne Mißbehagen? Jetzt, schuldig und furchtsam, zittere ich, wenn ich an sie denke, erröthe ich, wenn ich an mich denke, alle guten Gefühle in mir verdorren, und ich zehre mich in eitlen, fruchtlosen Klagen auf, die nicht einmal eine wahre Reue beseelt. Dergleichen schmerzliche Betrachtungen haben in mir die ganze Betrübniß aufgeweckt, die der Abschied von ihnen mir im ersten Augenblicke nicht verursacht hatte. Eine innere Angst erstickte mich, nachdem die lieben Eltern fort waren. Während Babi einpackte, ging ich mechanisch in das Zimmer meiner Mutter; und da ich einige von ihren Sachen umherliegen sah, habe ich sie alle geküßt, Eines nach dem Andern, und mit meinen Thränen benetzt. In dieser gerührten Stimmung habe ich einige Erleichterung gefunden, und es war mir wie ein Trost, zu fühlen, daß die süßen Regungen der Natur noch nicht ganz erloschen sind in meinem Herzen. Ha, Tyrann, du willst umsonst es ganz nur dir unterwerfen, dieses zärtliche, dieses allzu schwache Herz; trotz dir, trotz deiner Zaubereien, hat es wenigstens noch rechtmäßige Gefühle, ehrt noch und liebt noch heiligere Rechte als die deinen.

Verzeih, mein süßer Freund, verzeih mir dieses unwillkürliche Aufwallen und fürchte nicht, daß ich diesen Betrachtungen so viel einräume, als ich wohl sollte. Der Augenblick unseres Lebens, in welchem vielleicht sich unsere Liebe am freiesten regt, ist nicht, ich weiß wohl, der der Zerknirschung: ich will weder mein Leid dir zu verheimlichen noch dich damit niederzubeugen suchen; du mußt es kennen, nicht um es zu tragen, sondern um es zu stillen. In wessen Busen könnte ich es ausströmen, wenn ich es nicht in den deinigen schütten dürfte? Bist du nicht mein liebreicher Tröster? Bist du es nicht, der meinen erschütterten Muth aufrecht hält? Bist du es nicht, der in meiner Seele die, Liebe zur Tugend nährt, selbst nach ihrem Verluste? Ohne dich, ohne die verehrungswürdige Freundin, deren mitleidige Hand so oft meine Thränen trocknete, o wie oft wäre ich schon der tödtlichsten Muthlosigkeit erlegen! Aber eure zärtlichen Bemühungen halten mich aufrecht, ich wage mich nicht gering zu achten, so lange ihr mich noch Werth haltet, und ich sage mir mit Selbstzufriedenheit, daß ihr beide mich nicht so lieben würdet, wenn ich nur Verachtung verdiente. Ich fliege in die Arme dieser theuren Cousine, oder vielmehr dieser theuren Schwester, um in ihr Herz den drückenden Trübsinn auszuschütten. Und du, komme heute Abend, und gieb dem meinigen die verlorene Freudigkeit und Heiterkeit wieder.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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