Читать книгу Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe) - Jean-Jacques Rousseau - Страница 46
Neununddreißigster Brief.
Von Julie.
ОглавлениеDu fühlst nichts, mein trauter Freund, was mein Herz nicht theilte; aber sprich nicht von Vergnügen, während Leute, die mehr werth sind als wir, leiden, seufzen, und ich mir ihren Kummer vorzuwerfen habe. Lies den beigeschlossenen Brief und bleibe ruhig, wenn du kannst: ich, die ich das liebenswerthe, gute Mädchen kenne, das ihn geschrieben hat, habe ihn nicht ohne Thränen der Reue und des Mitleids lesen können. Das Leid über meine strafbare Nachlässigkeit hat mir die Seele durchbohrt und ich sehe mit tiefer Beschämung, wie weit die Versäumniß der ersten meiner Pflichten mich in der aller übrigen gebracht hat. Ich hatte versprochen, für dieses arme Kind Sorge zu tragen; ich nahm mich einer bei meiner Mutter an, hatte es gewissermaßen unter meiner Hut; und seit ich mich selbst nicht habe hüten können, lasse ich es nun hülflos, ohne mich seiner zu erinnern, und gebe es schlimmeren Gefahren preis, als denen, denen ich selbst unterlegen bin. Ich zittere, wenn ich daran denke, daß es zwei Tage später vielleicht geschehen war um das mir anvertraute Pfand, und Armuth und Verführung vielleicht ein sittsames, gutes Mädchen verderbt hätten, das einst eine treffliche Familienmutter abgeben kann. O mein Freund! wie kann es doch in der Welt Menschen geben, die so schändlich sind, einen Preis, den nur das Herz zahlen kann, der bitteren Armuth abzudrücken und die zärtlichen Küsse der Liebe einem verhungerten Munde verdanken zu wollen?
Sage, sollte dich die redliche Liebe meiner Fanchon, ihre Sittsamkeit, ihre schuldlose Einfalt nicht rühren? Nicht die seltene Aufopferung dieses Liebhabers, der sich selbst verkauft, um seiner Geliebten zu helfen? Wirst du dich nicht mehr als glücklich schätzen, daß du dazu beitragen kannst, ein so wohl gewähltes Bündniß zu Stande zu bringen? Ach! wenn nicht wir Mitgefühl haben für verbundene Herzen, die man auseinanderreißt, von wem sonst sollen sie es erwarten? Ich wenigstens bin entschlossen, meine Fehler gegen diese hier gut zu machen, um welchen Preis es sei, und es dahin zu bringen, daß die beiden jungen Leute durch die Ehe mit einander verbunden werden. Ich hoffe, der Himmel wird dieses Unternehmen segnen, und es wird für uns eine gute Vorbedeutung sein. Ich schlage dir vor, und beschwöre dich im Namen unserer Freundschaft, noch heute wo möglich, oder spätestens morgen früh, nach Neufchatel zu reisen. Unterhandele mit Herrn von Merveilleur wegen der Entlassung dieses braven Burschen; spare weder Bitten noch Geld: nimm den Brief meiner Fanchon mit hin; es giebt kein fühlendes Herz, das er nicht rühren müßte. Kurz, was es uns auch koste an Vergnügen und Geld, komm nicht ohne den vollständigen Abschied des Claude Anet zurück, oder sei überzeugt, daß mir die Liebe mein Leben lang keinen Augenblick ungetrübter Freude mehr gewähren wird.
Ich fühle, wie viel Einwürfe dein Herz mir machen muß: zweifelst du, daß das meinige sie schon alle zuvor gemacht? Und ich beharre. Denn das Wort Tugend ist entweder nur ein leerer Schall, oder sie erheischt Opfer. Mein Freund, mein würdiger Freund, ein verfehltes Zusammentreffen kann tausendmal wiederkehren, einige angenehme Stunden fahren dahin wie ein Blitz und sind nicht mehr; aber wenn das Glück eines wackern Paares in deinen Händen liegt, so denke an die Zukunft, die du dir selbst zu bereiten wünschest. Glaube mir, die Gelegenheit, Glückliche zu machen, ist seltner, als man denkt; die Strafe, wenn man sie versäumt, ist, daß man sie nicht wieder findet; und je nachdem wir uns diese zu Nutze machen, werden wir ewige Befriedigung oder ewige Reue davontragen. Halte meinem Eifer in der Sache diese überflüssigen Reden zu gute; ich habe schon zu viel einem Ehrenmanne, und meinem Freunde hundertmal zu viel gesagt. Ich weiß, wie sehr du jene grausame Wollust hassest, die uns gegen die Leiden Anderer verhärtet. Du hast es tausendmal selbst gesagt: Wehe dem, der nicht einen Tag der Lust den Pflichten der Menschlichkeit zum Opfer bringen kann!