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Fünfzigster Brief.
Von Julie.

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Inhaltsverzeichnis

Ich habe Ihnen gestern, als wir uns trennten, die Ursache der Traurigkeit, welche Sie mir vorgeworfen haben, nicht erklären wollen, weil Sie nicht im Stande waren, mich zu verstehen. Ungeachtet meines Widerwillens gegen Aufklärungen bin ich Ihnen diese schuldig, da ich sie versprochen habe, und ich trage sie hiermit ab.

Ich weiß nicht, ob Sie sich der wunderlichen Reden erinnern, die Sie gestern Abend gegen mich führten, und der Manieren, womit Sie sie begleiteten: ich werde sie nicht schnell genug für Ihre Ehre und meine Ruhe vergessen können, und zum Unglück bin ich zu sehr davon empört, um sie leicht zu vergessen. Dergleichen Ausdrücke hatten manchmal mein Ohr getroffen, wenn ich am Hafen vorüberging, aber ich glaubte nicht, daß sie je aus dem Munde eines anständigen Mannes kommen könnten; ich bin wenigstens vollkommen gewiß, daß sie nie in das Wörterbuch der Liebessprache Eingang gefunden haben, und ich war weit entfernt zu glauben, daß sie zwischen Ihnen und mir bräuchlich werden könnten. Ei mein Gott! was für eine Art Liebe ist die Ihrige, wenn sie so ihre Freuden würzt! Sie kamen freilich eben von einem langen Schmause und ich sehe wohl, was man hier zu Lande dem Unmaße, das dabei stattfinden kann, zu gute halten muß: dies ist auch der Grund, weshalb ich mit Ihnen darüber rede. Sein Sie überzeugt, daß eine Zusammenkunft unter vier Augen, wo Sie mich bei kaltem Blute so behandelt hätten, die letzte unseres Lebens gewesen wäre.

Was mich aber Ihretwegen bestürzt macht, ist dies, daß das Betragen eines vom Weine erhitzten Mannes oft nur die Wirkung dessen ist, was zu andern Zeiten im Innersten seiner Seele vorgeht. Soll ich glauben, daß Sie in einem Zustande, in welchem man nichts verhehlt, sich so zeigten, wie Sie sind? Was würde aus mir, wenn Sie bei nüchternem Muthe so dächten, wie Sie gestern Abend sprachen? Lieber, als eine solche Erniedrigung ertragen, würde ich eine so unedle Glut auslöschen und einen Liebhaber verlieren, der, weil er seine Geliebte so schlecht zu ehren weiß, so wenig ihre Achtung verdienen würde. Sagen Sie mir, Sie, Freund des Gesitteten, sollten Sie wirklich in den grausamen Irrthum verfallen sein, daß die glückliche Liebe keine Umstände mehr mit der Scham zu machen habe, und daß man Der keine Scheu mehr schuldig sei, von der man keine Strenge mehr zu fürchten hat? Ach! wenn Sie immer so gedacht hätten, würden Sie weniger zu fürchten gewesen sein, und ich wäre nicht so unglücklich. Täuschen Sie sich hierin nicht, mein Freund; nichts ist so gefährlich für wahrhaft Liebende, als die Vorurtheile der Welt; so viele Leute sprechen von Liebe, und so wenige wissen zu lieben, daß die meisten deren reine, sanfte Gesetze mit den gemeinen Grundsätzen eines verworfenen Umgangs verwechseln, der, bald von sich selbst gesättigt, zu Ungeheuern der Einbildungskraft seine Zuflucht nimmt, und sich gemein macht, um sich zu behaupten.

Ich weiß nicht, ob ich mich täusche; aber es scheint mir, daß die wahre Liebe das keuscheste aller Bande ist. Sie ist es, ihr himmlisches Feuer ist es, das unsere Triebe läutern kann, indem es sie gesammelt auf einen einzigen Gegenstand richtet; sie ist es, die uns den Versuchungen entzieht und beweist, daß, diesen einen Gegenstand ausgenommen, das eine Geschlecht nichts mehr für das andere ist. Für eine gewöhnliche Frau ist jeder Mann immer ein Mann; aber für die, deren Herz liebt, giebt es keinen Mann außer ihrem Geliebten. Was sage ich! Ist ein Geliebter nichts weiter als ein Mann? Ach! er ist ein weit erhabeneres Wesen! Es giebt keinen Mann für Die, welche liebt: ihr Geliebter ist mehr, alle Anderen sind weniger; sie und er sind die einzigen ihrer Gattung. Sie haben nicht Begierden, sie lieben. Das Herz folgt nicht den Sinnen, es leitet sie; es bedeckt ihre Abirrungen mit einem köstlichen Schleier. Nein, nichts ist schmutzig, als die Liederlichkeit und ihre gemeine Sprache. Die wahre Liebe, stets bescheiden, reißt keine Gunstbezeigung frech an sich; sie stiehlt sie mit Schüchternheit, Geheimniß, Schweigen, furchtsame Scham steigern und verhüllen ihren süßen Rausch, Ihre Flamme ehrt und reinigt alle ihre Liebkosungen; Anstand und Schicklichkeit begleiten sie im Schooße der Lust selbst und sie allein weiß den Begierden Alles zu bewilligen, ohne der Schamhaftigkeit etwas zu entziehen. Ha, sagen Sie, der Sie die wahren Freuden kannten, wie könnte sich mit ihnen cynische Frechheit gatten? wie sollte ihnen diese nicht ihre Täuschung und allen ihren Reiz rauben? Wie sollte sie nicht das Bild von Vollkommenheit besudeln, unter welchem man sich so gern den geliebten Gegenstand denkt? Glauben Sie mir, mein Freund, Liederlichkeit und Liebe können nicht zusammemwohnen, können sich nicht einmal mit einander abfinden. Das Herz macht das wahre Glück, wenn man sich liebt, und nichts kann dieses ersetzen, sobald man sich nicht mehr liebt.

Aber wenn Sie auch so unglücklich wären, sich in einer so ungesitteten Sprache zu gefallen, wie haben Sie sich entschließen können, sie so zur Unzeit zu gebrauchen und Der gegenüber, die Ihnen theuer ist, einen Ton und Manieren anzunehmen, die ein anständiger Mann nicht einmal kennen soll? Seit wann ist es süß, Dem wehe zu thun, was man liebt? und was für ein barbarisches Vergnügen liegt darin, mit der Qual Anderer sein Spiel zu treiben? Ich habe nicht vergessen, daß ich das Recht verloren habe, mit Achtung behandelt zu werden; aber wenn ich es je vergäße, steht es Ihnen wohl, mich daran zu mahnen? ziemt es dem Urheber meiner Schuld, mir die Strafe härter zu machen? Ihnen käme es vielmehr zu, mich darüber zu trösten. Die ganze Welt hat das Recht, mich zu verachten, Sie haben es nicht, Sie sind mir Ersatz schuldig für die Demüthigung, zu welcher Sie mich gebracht haben; und so viel Thränen, die ich über meine Schwachheit vergossen habe, verdienten wohl, daß Sie sie mich weniger grausam fühlen ließen. Ich bin weder prüde, noch preciös. Ach, wie weit bin ich davon entfernt, ich, die ich nicht einmal mich zu hüten gewußt habe! Sie wissen es nur zu gut, Undankbarer, ob dieses zärtliche Herz der Liebe irgend etwas versagen kann. Aber wenigstens was es ihr gewährt, will es nur ihr gewähren; und Sie haben mich zu gut Ihre Sprache kennen gelehrt, um diese nun mit einer so ganz anderen vertauschen zu dürfen. Mißhandlungen, Schläge würden mir nicht so schimpflich dünken, als dergleichen Liebkosungen. Entsagen Sie, Julien, oder wissen Sie ihre Achtung zu erhalten! Ich habe es Ihnen schon gesagt, ich kenne keine Liebe ohne Scham; und wenn es mich die Ihrige kosten sollte, es würde mich noch mehr kosten, sie mir um diesen Preis zu erhalten.

Ich hätte noch viel über diesen Gegenstand zu sagen; aber ich muß diesen Brief schließen und verspare es auf ein anderes Mal. Inzwischen sehen Sie da eine Wirkung Ihrer falschen Grundsätze über den unmäßigen Genuß des Weines. Ihr Herz ist nicht strafbar, dessen bin ich gewiß; dennoch haben Sie das meinige verwundet, und ohne zu wissen, was Sie thaten, haben Sie wie recht mit Willen dieses Herz schmerzlich betrübt, das nur zu leicht in Aufruhr geräth, und dem nichts gleichgültig ist, was von Ihnen kommt.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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