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Fünfundvierzigster Brief.
An Julie.

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Inhaltsverzeichnis

Ich war erst beim zweiten Lesen deines Briefes, als Milord Eduard Bomston eintrat. Da ich dir immer so viel Anderes zu sagen hatte, wie hätte ich daran denken sollen, meine Julie, dir von ihm zu erzählen? Wenn man sich einander genügt, wie könnte man darauf fallen, an einen Dritten zu denken? Ich will dir aber nunmehr, da du es zu wünschen scheinst, berichten, was ich von ihm weiß.

Er hatte den Simplon passirt, und kam nach Sion, indem er einer Chaise entgegenging, die ihm von Genf nach Brigg hätte geschickt werden sollen; und da man anschließend ist, wenn man nichts zu thun hat, so suchte er meine Gesellschaft. Wir wurden bald so genau mit einander bekannt, als ein Engländer, der von Natur nicht sehr entgegenkommend ist, es mit einem übel gestimmten Manne, der die Einsamkeit sucht, nur immer werden kann. Indessen fühlten wir, daß wir zu einander paßten; es giebt eine gewisse Uebereinstimmung der Seelen, die man im ersten Augenblicke inne wird, und nach acht Tagen waren wir vertraute Freunde fürs ganze Leben, wie zwei Franzosen es nach acht Stunden für die ganze Zeit bis zur nächsten Trennung gewesen sein würden. Er erzählte mir von seinen Reisen, und da ich wußte, daß er ein Engländer ist, glaubte ich, daß er mir von Architecturen und Gemälden erzählen würde. Bald bemerkte ich mit Vergnügen, daß er über Bilder und Denkmäler das Studium der Sitten und der Menschen nicht vernachlässigt hatte. Er sprach jedoch auch über die schönen Künste mit vielem Urtheil, aber mäßig und ohne Prätension, Ich merkte, daß sein Urtheil mehr auf Gefühl als auf Kenntniß gegründet war und mehr die Wirkung als die Kunstregeln vor Augen hatte, woraus ich um so mehr schloß, daß er eine gefühlvolle Seele habe. Für die italienische Musik schien er mir wie dir Enthusiast; er gab mir sogar Proben zu hören, denn er hat einen Virtuosen bei sich: sein Kammerdiener spielt sehr gut Violine und er selbst so ziemlich Violoncelle. Er suchte mehre Stücke aus, die seiner Meinung nach sehr pathetisch waren; aber sei es nun, daß der mir neue Styl ein geübteres Ohr erforderte, oder daß der Reiz der Musik, der bei schwermüthiger Stimmung so süß ist, bei tiefen Leiden seine Kraft verliert, genug, diese Stücke machten mir wenig Vergnügen; ich fand die Melodien allerdings gefällig, aber wunderlich und ausdruckslos.

Es war auch von mir die Rede und Milord erkundigte sich theilnehmend nach meiner Lage. Ich sagte ihm Alles, was er davon zu wissen brauchte. Er schlug mir eine Reise nach England vor, malte mir eine glückliche Lage aus, die ich in keinem Lande finden kann, wo Julie nicht ist. Er sagte mir, daß er den Winter in Genf, den nächsten Sommer in Lausanne zubringen würde; er wolle dann, ehe er zum zweiten Male nach Italien ginge, nach Vevay kommen; er hat Wort gehalten und wir haben uns mit erneutem Vergnügen wiedergesehen.

Von Temperament, glaube ich, ist er lebhaft und aufbrausend, aber ich halte ihn für tugendhaft und charakterfest. Er thut sich etwas auf Philosophie zu Gute, und auf jene Grundsätze, welche wir einst besprochen haben. Aber im Grunde, dünkt mich, ist er das von Gemüth, was er sich einbildet aus Methode zu sein; und der stoische Anstrich, den er seinen Handlungen giebt, besteht in weiter nichts, als daß er das, wozu ihn sein Herz treibt, mit schönen Reden aufputzt. Ich habe indeß zu meinem Bedauern erfahren, daß er verschiedene Händel in Italien gehabt und sich mehrmals geschlagen hat.

Ich weiß nicht, was du Harsches in seinen Manieren findest; in der That sind sie nicht entgegenkommend, aber ich bemerke auch nichts Abstoßendes darin. Ob er gleich sich bei erstem Begegnen nicht so offen zeigt, wie sein Herz ist, und die kleinen Gesellschaftsmanieren verachtet, ist er doch darum, wie mir scheint, nicht weniger angenehm im Umgange. Wenn er nicht jene gemessene und wohl berechnete Höflichkeit besitzt, die einzig und allein das Aeußerliche wahrnimmt, und die uns unsere jungen Officiere aus Frankreich mit herüberbringen, so hat er dafür die natürliche und menschliche, welche sich weniger darauf zu Gute thut, auf den ersten Blick den Stand und Rang eines Menschen zu unterscheiden, sondern alle Menschen insgemein achtet. Soll ich es dir ehrlich heraussagen? Der Mangel an Zierlichkeit ist ein Fehler, welchen die Weiber nicht vergeben, selbst dem Verdienste nicht, und ich fürchte, auch Julie ist hier einmal Weib gewesen.

Da ich mit der Aufrichtigkeit im Zuge bin, so will ich dir noch sagen, meine anmuthige Predigerin, daß es vergeblich ist, meinen Rechten ein Schnippchen schlagen zu wollen, und daß man eine heißhungrige Liebe nicht mit Predigten abspeist. Denke, denke an die versprochenen und schuldigen Entschädigungen, denn alle die Moral, welche du mir aufgetischt hast, ist sehr gut; aber, was du auch sagen magst, das Chalet war doch noch besser.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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