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Vierundzwanzigster Brief.
An Julie.

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Inhaltsverzeichnis

Ich beantworte unverzüglich die Stelle in dem Ihrigen, welche die Bezahlung betrifft, und habe, Gott sei Dank, nicht nöthig, erst eine Ueberlegung deswegen anzustellen. Hören Sie, meine Julie, wie ich über diesen Punkt denke.

Ich unterscheide in dem, was man Ehre nennt, das, was aus der öffentlichen Meinung entspringt, und das, was in der Selbstachtung wurzelt. Das Erstere besteht in eiteln Vorurtheilen, die beweglicher sind, als eine rollende Welle; das Andere beruht auf den ewigen Grundlagen der Sittlichkeit. Die Ehre der Welt mag von Vortheil für die äußere Lage sein; aber sie dringt nicht in das Innere und hat keinen Einfluß auf das wahre Glück. Die wahre Ehre dagegen macht dessen Wesen aus, weil man nur in ihr das beständige Gefühl innerer Befriedigung findet, welches allein ein denkendes Wesen glücklich machen kann. Wenden wir diese Grundsätze, meine Julie, auf Ihre Frage an, und sie wird bald gelöst sein.

Daß ich mich zum Lehrer der Philosophie aufwerfe und, wie der Narr in der Fabel, Geld dafür nehme, die Weisheit zu lehren, dies wird in den Augen der Welt ein niedriges Geschäft scheinen, und ich gestehe, daß auch etwas Lächerliches darin liegt; indessen da Niemand seinen Unterhalt unbedingt aus sich selbst nehmen kann, und da es keine natürlichere Art giebt, ihn aus sich selbst zu nehmen, als die eigene Arbeit, so müssen wir jene Verachtung unter die schädlichsten Vorurtheile rechnen; wir werden nicht so dumm sein, unser Glück einer so unsinnigen Meinung zu opfern; Sie werden mich deswegen nicht weniger schätzen und ich werde darum nicht mehr zu beklagen sein, weil ich von den Fertigkeiten lebe, die ich mir erworben habe.

Hier aber, meine Julie, haben wir eine andere Betrachtung anzustellen. Lassen wir die Menge und blicken in uns selbst. Was werde ich Ihrem Vater wirklich sein, wenn ich für den Unterricht, den ich Ihnen gebe, Sold von ihm annehme und ihm einen Theil meiner Zeit, d. h. meiner Person verkaufe? Ein Lohnarbeiter, ein Mensch in seinem Brote, eine Art Bediente; und er wird von meiner Seite als Bürgschaft für das mir geschenkte Vertrauen, als Sicherheit für Alles, was sein ist, mein stillschweigend gegebenes Wort, wie von dem untersten seiner Leute haben.

Was für ein kostbareres Gut kann nun wohl ein Vater besitzen, als seine einzige Tochter, wäre es auch nicht einmal eine Julie? Was wird also Der thun, der ihm seine Dienste verkauft? Wird er seinen Gefühlen für sie Schweigen gebieten? Ach, du weißt, ob dies möglich ist! Oder wird er, unbedenklich dem Hange seines Herzens folgend, Den, dem er Treue schuldig ist, an dem allerempfindlichsten Theile kränken? Dann sehe ich in einem solchen Lehrer nichts als einen Treubrüchigen, der die heiligsten Rechte mit Füßen tritt, [Unglücklicher Jüngling, der nicht bemerkt, daß er, indem er sich in Erkenntlichkeit bezahlen läßt, was er in Gelde anzunehmen verweigert, noch heiligere Rechte verlebt! Anstatt zum Guten anzuleiten, verdirbt er die Seele; anstatt zu nähren, vergiftet er, er läßt sich von einer getäuschten Mutter Dank dafür sagen, daß er ihr Kind zu Grunde gerichtet hat. Man fühlt jedoch wohl, daß er die Tugend aufrichtig liebt, aber seine Leidenschaft führt ihn irre; und entschuldigte ihn nicht seine große Jugend, so würde er mit allen seinen schönen Reden nichts weiter als ein Bösewicht sein. Die beiden Liebenden sind zu beklagen, die Mutter allein ist nicht zu entschuldigen.] einen Verräther, einen häuslichen Verführer, den die Gesetze mit vollem Recht zum Tode verdammen. Ich hoffe, daß mich Die, zu der ich rede, verstehen wird; nicht den Tod fürchte ich, sondern die Schande, mich desselben würdig gemacht zu haben, und daß ich mich selbst verachten müßte.

Als Ihnen die Briefe von Heloise und Abälard in die Hände fielen, Sie erinnern sich, was ich Ihnen über das Lesen derselben und über die Ausführung des Theologen sagte. Ich habe Heloise stets beklagt; sie hatte ein Herz, das für die Liebe geschaffen war; aber Abälard ist mir immer nur wie ein Elender erschienen, der sein Schicksal verdient hat und so wenig die Liebe als die Tugend kannte. Nachdem ich so über ihn geurtheilt, soll ich ihm nachahmen? Wehe Dem, der eine Moral predigt, die er nicht selbst befolgen will! Der, welchen seine Leidenschaft bis zu diesem Punkte verblendet, wird bald in ihr selbst seine Strafe und an den Gefühlen kein Gefallen mehr finden, denen er seine Ehre geopfert hat. Die Liebe ist ihres größten Reizes beraubt, wenn sie aufhört ehrenwerth zu sein: um ihren ganzen Werth zu fühlen, muß sich das Herz in ihr gefallen, und muß uns erheben, indem es den geliebten Gegenstand erhebt. Nehmen Sie das Ideal der Vollkommenheit hinweg, und Sie nehmen alle Begeisterung hinweg; nehmen Sie die Achtung hinweg, und die Liebe ist nichts mehr. Wie könnte eine Frau einen Mann ehren, der sich selbst entehrt? Wie wird er selber Die anbeten können, die keine Scheu getragen hat, sich einem gemeinen Verführer hinzugeben? Sie werden sich also bald gegenseitig verachten; die Liebe wird für sie nichts mehr als ein schändlicher Umgang sein; sie werden die Ehre verloren und nicht das Glück gefunden haben.

So steht es nicht, meine Julie, zwischen zwei Liebenden von gleichem Alter, die beide von derselben Flamme ergriffen sind, die eine gegenseitige Anhänglichkeit an einander schließt, die keine anderweitige Fessel bindet, die beide ihrer ursprünglichen Freiheit genießen, und denen kein Recht es verwehrt, einander anzugehören. Die strengsten Gesetze können diesen keine andere Strafe auferlegen als den Preis ihrer Liebe selbst; die einzige Strafe dafür, daß sie sich geliebt haben, ist die Pflicht, sich ewig zu lieben; und wenn es solche unglückselige Himmelsstriche auf der Welt giebt, wo der barbarische Mensch solche Bande der Unschuld zerbricht, so findet er ohne Zweifel seine Strafe in den Verbrechen, welche diese Gewaltthat ausgebiert.

Das sind meine Gründe, einsichtige und tugendhafte Julie! sie sind nur eine frostige Umschreibung deren, welche Sie mir mit so viel Nachdruck und Lebhaftigkeit in einem Ihrer Briefe auseinandersetzten; aber es genügt, um Ihnen zu zeigen, wie ich sie in mich aufgenommen habe. Sie erinnern sich, daß ich nicht auf meiner Weigerung bestand und daß ich, ungeachtet des Widerstandes, zu dem mich ein Rest des gewöhnlichen Vorurtheils veranlaßte, Ihr Geschenk schweigend annahm, da mir in der That die wahre Ehre keinen genügenden Grund darbot, es auszuschlagen. Hier aber spricht Pflicht, Vernunft, die Liebe selbst so vernehmlich, daß ich es nicht überhören darf. Wenn nur die Wahl gelassen ist zwischen der Ehre und Ihnen, so ist mein Herz bereit, Sie zu verlieren. Es liebt Sie zu sehr, Julie, als daß es Sie um diesen Preis sich könnte erhalten wollen.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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