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2.1.3.5. Staatliches Eingreifen in die Sprachkultur des Südens
ОглавлениеDie von Frankreich 1795 annektierten südlichen Niederlande (vgl. 2.1.1.) bildeten ein mehrsprachiges Gebiet mit vermutlich etwas mehr als zwei Millionen Seelen. Es umfasste neben deutschsprachigen Gegenden im Osten des heutigen Belgiens und in Luxemburg das einsprachige französische Wallonien und die nördlich davon gelegenen Provinzen der heutigen Region Flandern, wo die grosse Mehrheit der Einwohner südliche Varianten des Niederländischen sprachen. Gebildete Schichten der Bevölkerung benutzten hier zudem vermehrt Französisch als Kultursprache. Anders als im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war im Süden die ländliche Bevölkerung im 18. Jh. gewachsen, während die Einwohnerzahlen der Städte abgenommen hatten. So zählte Gent um 1740 zirka 38.000 Einwohner gegen 52.000 im Jahre 1690, von den 600.000 Einwohnern der Provinz Brabant wohnten in den letzten Jahrzehnten des 18. Jh. nur etwa ein Viertel in Städten, Brüssel war mit seinen 74.000 Einwohnern halb so gross wie Amsterdam.
Französisch hatte bereits in den Österreichischen Niederlanden unter den vornehmen Bürgern an Ansehen gewonnen, in der heutigen Region Flandern waren sie wohl bilingual. Die weniger entwickelten Städter und der grösste Anteil der ländlichen Bevölkerung Flanderns beherrschten diese Sprache allerdings nicht, sie waren einsprachig. Da genaue Zahlen zu den damaligen demografischen Entwicklungen in den südlichen Niederlanden fehlen, lässt sich nicht bestimmen, wie gross der niederländischsprachige Bevölkerungsanteil des Gebietes am Anfang der französischen Zeit war.
Trotz der zunehmenden Bedeutung des Französischen als Kultursprache in den südlichen Niederlanden hatte das Niederländische bis anhin in den meisten Sektoren der Gesellschaft Anwendung gefunden. So erfolgte der Unterricht an der Grundschule bis zur französischen Zeit auf Niederländisch, weiter verwendeten die lokalen Behörden nach wie vor die Muttersprache der Mehrheit der Bevölkerung. An der Universität Löwen korrespondierte man nach der Revolution Brabants (vgl. 2.1.1.) sogar auf Niederländisch statt auf Lateinisch oder Französisch. Zudem war die Muttersprache immer wieder in der Kirche zu hören, die Pfarrer predigten in Flandern und in Brüssel ausschliesslich auf Niederländisch.
Inzwischen war in den südlichen Niederlanden eine kohärente Schreibtradition entstanden, die jener des Nordens bezüglich der normativen Regeln und ihrer Anwendung ähnelte. Sodann bestand im Süden eine jahrhundertealte niederländischsprachige Literatur- und Bühnenkultur. So führten die Rhetoriker niederländische Theaterstücke auf, im Laufe des 18. Jh. hatte die Zahl ihrer Vorstellungen noch zugenommen. Dass die Bürger der südlichen Niederlande Bücher in der Muttersprache, darunter auch Veröffentlichungen von Schriftstellern aus dem Norden besassen beziehungsweise lasen, bestätigen Versteigerungskataloge. Zudem las man im Süden niederländischsprachige Blätter mit Nachrichten, so die 1695 gegründete Antwerpsche Post-Tydinge (‚Antwerpener Postnachrichten‘), den Wekelyks Bericht (‚Wöchentlicher Bericht‘) von 1773 aus Mecheln oder die Wochenzeitung Wekelyks Nieuws uyt Loven aus Löwen, wo in den Achtzigerjahren auch das kaiserfreundliche Algemeyn Nieuwsblad (‚Allgemeines Nachrichtenblatt‘) gedruckt wurde, wie Smeyers darlegt. Zudem kamen nach der Brabanter Auflehnung gegen die Österreicher zum ersten Mal niederländischsprachige Blätter in Brüssel in den Handel, während die ‚Zeitung der Verfassung‘, Journael der constitutie, nun in zwei Sprachen erschien. Laut der Redaktion wäre es nämlich ‚einer der schlimmsten Fehler der modernen Erziehung, von den Pflichten und Rechten des Volkes zu reden in einer Sprache, die es nicht versteht‘: une faute des plus graves de l’éducation moderne, c’est de parler au peuple de ses devoirs et de ses droits dans une langue qu’il ne comprend pas.
Auch wenn die Oberschicht und die Obrigkeit in den Österreichischen Niederlanden neben Französisch weiterhin Niederländisch im Gebiet der gegenwärtigen Flämischen Region verwendeten, kümmerten sie sich nur wenig um die Muttersprache der Bevölkerung. In seinen Abhandlungen Oordeelkundige Verhandelingen op de noodzaekelijkheijd van het behouden der nederduijtsche taele, en de noodige hervormingen in de schoolen (‚Vernünftige Abhandlungen zur Notwendigkeit des Beibehaltens der niederländischen Sprache und die notwendigen Reformen in den Schulen‘) kritisiert der Kaufmann Willem Verhoeven aus Mecheln 1780 diese gleichgültige Haltung der österreichischen Behörden und der vornehmen Bürger dem Niederländischen gegenüber. Sodann tadelt der von den Österreichern streng überwachte Jurist und Politiker Jan Baptist Chrysostomus Verlooy diese Gesinnung in seiner 1780 verfassten, erst 1788 anonym erschienenen Verhandeling op d’onacht der moederlyke tael in de Nederlanden (‚Abhandlung zur Gleichgültigkeit gegenüber der Muttersprache in den Niederlanden‘): Nooit is onze tael eenig aendagt verleent van ’t hooggezag. Nog hoogschool van Loven nog onze Brusselsche Academi’ hebben haer ooit meer gedaen, als niet verworpen (‚Nie wurde unserer Sprache einige Aufmerksamkeit von der höchsten Autorität gewidmet. Weder die Hochschule Löwen noch die Brüsseler Akademie haben je mehr für sie getan als sie nicht zu verwerfen‘). Die Verwendung des Französischen auf Kosten des verachteten Niederländischen, die Franschdolheyd (‚Frankomanie‘), stellt er an den Pranger. Ähnlich wie Siegenbeek, Weiland, Bilderdijk und ihre Geistesverwandten im Norden befürworteten Verhoeven und Verlooy eine Kultivierung des überregionalen Niederländischen, und zwar ‚als die Sprache des gleichen Volkes‘, wie Verlooy dies formuliert: het zelve volk, ’t zelve in tael, imborst, zeden en gebruyken. Laet ons gezamender-hand ons gevoegzaem Nederduytsch handhaven, eeren en versieren (‚dasselbe Volk, gleich in Sprache, Gemüt, Sitten und Bräuchen. Lasst uns gemeinsam unser fügsames Niederländisch beibehalten, wertschätzen und schmücken‘).
Nach der Einverleibung durch Frankreich französierten die südlichen Provinzen dann jedoch rasch, das Niederländische erlitt hier bald erhebliche Funktionsverluste. Gut situierte Bürger, so Beamte, Geschäftsleute und Unternehmer, orientierten sich vermehrt an der französischen Kultur, wodurch sie sich von den weniger Privilegierten unterscheiden konnten. Die neuen Machthaber, die für ‚Gleichheit‘ warben und Dialekte als Überbleibsel des Ancien Régime betrachteten, förderten nun die Verwendung des Standardfranzösischen. Da dies in den Österreichischen Niederlanden neben dem Niederländischen ohnehin bereits als Sprache der Verwaltung, Wissenschaft und Kultur diente, stiessen die neuen Vorschriften zur Verwendung des Französischen auf wenig Widerstand. Allerdings beherrschte die grosse Mehrheit der Flamen die Sprache der neuen Herrscher nach wie vor nicht, so dürften von den Westflamen weniger als 15 % Französisch verstanden haben.
Trotzdem schrieb die Obrigkeit Französisch als Unterrichtssprache an sämtlichen Schulen (vgl. 2.1.3.4.) und als einzige Sprache der Gesetzgebung, Rechtspflege und Verwaltung vor. Zivile Gerichtsverhandlungen hatten ab 1794 auf Französisch zu erfolgen, ab 1803 waren Urkunden auf Französisch zu verfassen. Strassen erhielten in den flämischen Kommunen fortan neben niederländischen auch französische Namen, niederländische Bücher erschienen kaum, es wurden keine niederländischsprachigen Zeitungen mehr herausgegeben. In Antwerpen untersagte der Präfekt 1810 sogar den Druck niederländischer Texte jeglicher Art.
Innerhalb von nur wenigen Jahren hatte das Niederländische in den südlichen Provinzen so erheblich an Bedeutung und Ansehen verloren. Die niederländischen Dialekte dienten hier nur noch als Verständigungsmittel der weniger gebildeten, zum Teil analphabetischen Flamen, die kein Französisch beherrschten. Die durch die politischen Entwicklungen verursachten Funktionsverluste und das verloren gegangene Prestige des Niederländischen im Süden sollten nach der Vereinigung der südlichen und nördlichen Niederlande 1813 die Bemühungen der Flamen um ihre Sprache (vgl. 3.4.) erschweren.
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