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2.2.2. Versuche zur Reglementierung der Grammatik der niederländischen Schriftsprache
ОглавлениеNeben Veröffentlichungen zur Orthografie erschienen separate Werke zur Grammatik des Niederländischen, die der Tradition folgend kategoriale und etymologische Merkmale des Wortes sowie die Syntax zum Gegenstand hatten. Dementsprechend hatte früher bereits Arnold Moonen den Stoff seines einflussreichen Standardwerks Nederduitsche Spraekkunst (‚Niederländische Grammatik‘ 1706) in Woortgronding (‚Etymologie‘) und Woortvoeging (‚Syntax‘) gegliedert. Ähnlich unterscheidet Petrus Weiland in der über 190 Seiten zählenden Einführung seines 1799–1811 erschienenen Nederduitsch taalkundig Woordenboek (‚Niederländisches Sprachwissenschaftliches Wörterbuch‘) zwei ‚Hauptsachen‘ in der Grammatik: de woorden opzich zelven (‚die Wörter an sich‘) sowie derzelver zamenvoeging (‚ihrer Zusammenfügung‘).
Da sich das AN über die Schriftsprache herausbildete, ist zu erwarten, dass Grammatiker ihre Beschreibungen und Regeln auf dem geschriebenen Niederländischen basierten. Dies trifft für Weiland und die zeitgenössischen Sprachtheoretiker zu. Weiland ist der Auffassung, dass eine Grammatik die im Laufe der Zeit ‚von der Nation‘ festgelegten Sprachgesetze umfassen sollte, die aus der Arbeit von vorbildlichen Schriftstellern abzuleiten sind. Sie soll ‚der Nation‘ zudem zeigen, wo man ‚die eigenen Gesetze‘ verletzt. Die Grammatiken von Weiland und seinen Zeitgenossen sind in der Folge sowohl als deskriptiv insbesondere hinsichtlich der Schriftsprache als auch als normativ einzustufen.
Die Anfänge der Sprache schreibt Weiland pleonastisch und wenig spezifisch de eerste uitvinders der taal (‚den ersten Erfindern der Sprache‘) zu. Damit spricht er die komplexe sprachhistorische beziehungsweise philosophische Problematik des Ursprungs und der Erklärung des Phänomens Sprache an. Sie beschäftigte Grammatiker und Denker immer wieder, wie beispielsweise hervorgeht aus der Arbeit von Gabriel Girard (1677–1748), Hugh Blair (1718–1800), Adam Smith (1723–1790), Johann Gottfried Herder (1744–1803), Johann Georg Hamann (1730–1788), Karl Wilhelm Friedrich von Schlegel (1772–1829) oder Wilhelm von Humboldt (1767–1835). Es stand zur Diskussion, ob Sprache als Offenbarung der göttlichen Kraft zu erklären wäre und sich auf die göttliche Schöpfung zurückführen liesse. Ist der Mensch bei der Verwendung von Sprache als Nachahmer der Sprache Gottes, Dominae auctae linguae imitator (Bakker 1977, 117 ff) zu betrachten? Oder ist Sprache als Ausdruck und Organ des Verstandes, als Werkzeug der Vernunft zu verstehen? Die Sprachkompetenz wäre nach dieser Auffassung ein Bestandteil der Natur des Menschen, die Entstehung von Sprache wäre organisch nach den Gesetzen des Denkens, der Natur beziehungsweise des Geistes erfolgt, und zwar aus ‚klarste[r] und innigste[r] Besonnenheit‘, wie Schlegel dies formuliert. Denken würde somit Sprache voraussetzen.
Solche hier willkürlich herausgegriffene Problemkreise betreffen philosophische und psycholinguistische Konzepte, die in diesem Rahmen nicht weiter zu vertiefen sind. Festzuhalten ist, dass der Theologe Weiland Auffassungen vom göttlichen Ursprung der Sprache nicht ausarbeitet. Die Entwicklung von Sprache beruhe laut ihm auf Nachahmung: anfänglich habe jedes Substantiv als ‚bedeutendster Teil der Sprache‘ ein hörbares Merkmal einer ‚körperlichen Selbstständigkeit‘ zum Ausdruck gebracht. So seien Eigennamen entstanden. Die ‚Erfindung‘ von Sprache bedingte folglich das Bestehen einer ligchaamlijke wereld, von Adelung zuvor schon als ‚Körperwelt‘ bezeichnet. Die Annahme, dass die Herausbildung von Sprache durch Nachahmung erfolge, war übrigens im 18. Jh. allgemein verbreitet, wie beispielsweise aus der Arbeit von Herder oder Adelung hervorgeht. Wie Adelung unterscheidet Weiland eine erste Phase in der Entstehung der Sprache, die er wohl der ersten Stufe des Spracherwerbs eines Kindes gleichsetzt. Ähnlich wie beim heranwachsenden Kind hätte der Ausbau der Sprache in einer folgenden zweiten Phase stattgefunden. Ein derartiger spekulativer Erklärungsversuch der Entstehung der Sprache ist im 18. Jh. laut J. Noordegraaf nicht ungebräuchlich.
Wertvoller in Weilands Darlegungen ist aus heutiger Sicht seine Erkenntnis des Sprachwandels. Sprachliche Veränderungen betrachtet er wie Adelung gar als Fortschritt, namentlich wenn die Sprache an Systematik gewinnt. In früheren Zeiten waren Gelehrte wie Dirk Volkertsz. Coornhert (1522–1590) oder Hendrick Laurensz. Spiegel in ihren Bestrebungen, die Muttersprache zu kultivieren, in der Regel vom Gegenteil überzeugt gewesen. Bezeichnenderweise versuchten Grammatiker und Schriftsteller seit der frühen Neuzeit die in ihren Augen zum Teil verkommene Muttersprache aufzupolieren. Nicht nur bekämpften viele von ihnen, so Spiegel, Coornhert, Hooft und Simon Stevin, die Verwendung von insbesondere lateinischen und französischen Lehnwörtern, sondern Schriftsteller und Dichter begannen zudem die Syntax möglichst nach lateinischem Muster zu modellieren, was zum Beispiel die Prosa von Hooft auffällig zeigt. Grammatiker versuchten morphologische Unterscheidungen zur Reglementierung des Kasus wie im Latein einzuführen, obschon das flexionsarme Neuniederländische sich von einer synthetischen zu einer analytischen Sprache entwickelte. So enthält die Twe-spraack Regeln für sechs Vallen (‚Fälle‘), Christiaen van Heule legt 1625 zuerst fünf Buyginge (‚Beugungen‘) fest, beschränkt sich aber später, 1633, auf vier, Petrus Leupenius (1607–1660) begnügt sich 1653 mit drei Kasus, dagegen unterscheidet Arnold Moonen 1706 neben drei verbuigingen (‚Beugungen‘) auch sechs Kasus. Im Hinblick auf die im 19. Jh. entstehende Diskussion zum Missverhältnis zwischen der kultivierten, feierlich anmutenden Schriftsprache und dem spontanen, gesprochenen Niederländischen wäre Weilands Beachtung des Sprachwandels und folglich des Sprachgebrauchs von wesentlicher Bedeutung auch hinsichtlich der Frage des Kasus. Allerdings verzichtet er in seiner präskriptiven Grammatik nicht auf Regeln für immerhin noch vier Kasus, siehe 2.2.3.2.
Neben der Orthografie, die sich an Siegenbeeks Regeln anschliesst und vor allem auf die Arbeit von einem Grammatiker wie Lambert ten Kate zurückgeht, behandelt Weiland in der Einführung des Nederduitsch taalkundig woordenboek und später im ersten Teil seiner Nederduitsche spraakkunst die Wortarten des Niederländischen. Dabei lässt er sich so sehr von Adelungs Umständliches Lehrgebäude der deutschen Sprache, zur Erläuterung der deutschen Sprachlehre für Schulen (1782) anregen, dass der Luxemburger J.F.X. Würth, Verfasser einer der ersten Geschichten der niederländischen Literatur, ihn des Plagiates beschuldigte. Wie J. Noordegraaf darlegt, übersetzt Weiland tatsächlich grössere Abschnitte aus der deutschen Vorlage, Beispiele übernimmt er ebenfalls. Allerdings bezeichnet Weiland sich ausdrücklich als Schüler von Adelung und nennt seine Quelle regelmässig in seinen Ausführungen. Allerdings ist für Weilands grammatikalische und lexikografische Arbeit Lambert ten Kate wohl von grösserer Bedeutung gewesen. Nicht ohne Grund nennt Weiland ihn denn auch in der Einführung seiner Grammatik.
Im Gegensatz zu früheren Grammatikern, die sich mit acht oder neun Wortkategorien begnügten, unterscheidet Weiland zehn Wortarten. Diese Einteilung des Sprachmaterials war fortan in Grammatiken des AN, so auch im modernen Standardwerk Algemene Nederlandse Spraakkunst (‚Allgemeine niederländische Grammatik‘, ANS) gebräuchlich. Wie Adelung beginnt Weiland die Wortlehre in seiner Nederduitsche spraakkunst (‚Niederländische Grammatik‘ 1805) mit dem gewigtigste deel der rede, bei Adelung ‚wichtigster Redetheil‘, dem Substantiv. Sprachtheoretisch nicht unproblematisch unterscheidet der Verfasser zwischen eigene zelfstandige naamwoorden, d.h. Eigennamen und gemeene Substantiven, die wohl Gattungs- beziehungsweise Stoffnamen bezeichnen. Sodann behandelt er Diminutivbildungen sowie Pluralformen. Ausführlich kommen Genus und Kasus zur Sprache, Sprachmerkmale, die Grammatiken des AN auch im 19. Jh. unterschiedlich beschreiben und reglementieren. Dass man beim Schreiben versuchte, entsprechende Vorschriften zu befolgen, vertiefte die Kluft zwischen der unnatürlichen Schriftsprache und dem flexionsarmen gesprochenen Niederländischen. Normative Merkmale grammatikalischer Beschreibungen dieser Zeit sind daher näher zu erörtern.