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2.2. Schriftsprache als Norm des Allgemeinen Niederländischen

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Durch die Kultivierung des geschriebenen Niederländischen entstand in der frühen Neuzeit eine Schriftsprache, die sich grammatikalisch und lexikalisch von der gesprochenen Sprache abhob. Wer Texte verfasste, achtete auf Wortwahl und versuchte grammatikalische Regeln zu berücksichtigen. So etablierte sich ein mehr oder weniger einheitliches geschriebenes Niederländisch, das sich vom gesprochenen Niederländischen unterschied, wie beispielsweise der Grammatiker Christiaen van Heule bereits 1625 feststellt:

De Nederlanders hebben (in het gemeyn) in haere schriften ende boucken/by nae eenderley Tale/gelijck men noch in de gemeyne bouken ziet/als Bybels/Historien/ook in veel schriften van Hoven ofte Steden/maer om dat het eygen gebruyk/onder yder volk/zomtijts veel verscheelt (…)

(Van Heule 1971, 91)

(‚Die Niederländer haben [im Allgemeinen] in ihren Schriften und Büchern beinahe eine einheitliche Sprache wie man dies in allgemeinen Büchern wie Bibeln, Geschichtsbüchern so wie in vielen Schriften von Höfen oder Städten sieht, aber die sich manchmal stark vom Gebrauch der einzelnen Bevölkerungsgruppen unterscheidet […])

Noch bestimmter ist der Verfasser in der Neuauflage seiner Grammatik 1633, wenn er in het gemeyn (‚im Allgemeinen‘) weglässt und ‚beinahe eine einheitliche Sprache‘ durch ‚eine einheitliche Sprache‘ ersetzt, wenn er folgert: De Neder-landers hebben in hare gemeyne bouken/alle eenderleye sprake (‚Die Niederländer haben in ihren gemeinsamen Büchern alle eine einheitliche Sprache‘).

Inzwischen wies die Schriftsprache namentlich in der Wortwahl und im Bereich der Morphologie archaische Charakterzüge auf. Im Vergleich zum spontan gesprochenen Niederländischen machte die geschriebene Varietät einen feierlichen Eindruck. Da das Lexikon der Schriftsprache insbesondere südliche Elemente aufwies, wich sie hinsichtlich der Wortwahl im Norden stärker vom mündlichen Sprachgebrauch ab als im Süden. Dennoch war im gesamten Gebiet der Niederlande ein Zustand der Diglossie entstanden: die gebildeten Bürger differenzierten zwischen der gepflegten überregionalen niederländischen Schriftsprache und der gesprochenen lokalen Varietät.

Die archaische, feierliche Wesensart der niederländischen Schriftsprache vergangener Jahrhunderte ist wohl auf die Nachahmung der bewunderten Sprache niederländischer Schriftsteller und Historiker der Renaissance und ihrer Nachfolger wie Pieter Cornelisz. Hooft, Joost van den Vondel, Joannes Antonides van der Goes (1647–1684) oder Jan Wagenaar (1709–1773) zurückzuführen. Auch die stattlichen Texte der Statenvertaling 1637, der in Auftrag der niederländischen Generalstaaten übersetzten Bibel, die die Protestanten nicht selten täglich lasen beziehungsweise hörten, trugen zur Entwicklung des erhabenen Charakters der Schriftsprache bei. Weiter steuerten die Grammatiker insbesondere mit ihren Vorschriften zur Flexion zur vornehmen, unnatürlichen Beschaffenheit der Schriftsprache bei.

Lexikalisch kennzeichnete sich das geschriebene Niederländisch insbesondere durch aus dem Süden stammende Wörter wie gaarne für graag (‚gerne‘), gelijk für zoals (‚wie‘), heden für vandaag (‚heute‘), heffen für tillen (‚aufheben‘), lieden für lui (‚Leute‘), nu für nou (‚jetzt‘), spoedig für gauw (‚bald‘), reeds für al (‚bereits‘), schoon für mooi (‚schön‘), wenen für huilen (‚weinen‘), werpen für gooien (‚werfen‘) oder zenden für sturen (‚schicken‘). Es handelt sich dabei namentlich um lexikalische Varianten brabantischen, aber auch flämischen Ursprungs, die wohl zunehmend in die Schriftsprache aufgenommen wurden, als Immigranten aus dem Süden zur Kultivierung des Niederländischen beitrugen, vgl. 1.2.2.

Die Arbeit von Bibelübersetzern, Schriftstellern und Grammatikern, die sich an der Grammatik klassischer Sprachen orientierten, hatte zudem zu grammatikalischen Unterscheidungen geführt, die im spontanen mündlichen Sprachgebrauch des 19. Jh. kaum oder gar nicht vorkamen. So versuchte man beim Schreiben Kasusregeln nach lateinischem Muster zu beachten, die im gesprochenen Niederländischen zum grössten Teil unbekannt waren oder abweichend vorkamen. Willkürlich gewählte Zeitungsausschnitte zum Empfang des neuen Königs Wilhelm in Den Haag 1813 (SGC, vgl. 2.5.1.1.) oder zum Rückzug des niederländischen Heeres aus Belgien 1831 (OHC, vgl. 2.5.1.2.) enthalten beispielsweise Genitivformen wie dezer plaats (‚dieses Ortes‘), belang der Natie (‚Interesse der Nation‘), Departement der Monden van de Maas (‚Departement der Maas-Mündungen‘), het verlangen des volks (‚der Wunsch des Volkes‘), zyner te lang verlorene vryheid (‚seiner zu lange verlorenen Freiheit‘), in de nabijheid des vijands (‚in der Nähe des Feindes‘) oder vreugdegevoel der ingezetenen (‚Freudegefühl der Eingesessenen‘). Im gesprochenen Niederländischen hätten die Sprecher in der Regel Umschreibungen mit der Präposition van gewählt, wie in van deze plaats (‚von diesem Ort‘). Kennzeichnend für die Schriftsprache sind auch Dativmarkierungen wie den in de hoge autoriteiten van den Staat (‚die hohe Autorität des Staates‘) oder luider in met luider stemme (‚mit lauter Stimme‘) an Stelle von met luide stem, so auch die Akkusativmarkierung den in den 5 december (‚den 5. Dezember‘) statt 5 december und den für de in ontvingen aldaar den Vorst (‚empfingen dort den Fürsten‘) oder den für de in heeft de prins […] den aftogt verordend (‚hat der Prinz […] den Rückzug angeordnet‘). Auch die Pluralmarkierungen der Possessiva hun und eigen in hunne eigene gevoelens (‚ihre eigenen Gefühle‘) wirken weihevoll, ebenso Formen des Puralgenitivs wie onzer wapenen in De zege onzer wapenen is volkomen (‚Der Sieg unserer Waffen ist vollkommen‘) oder der Bataafsche Burgeren in achtbaar gedeelte der Bataafsche Burgeren. Dies trifft auch für Konstruktionen wie uwer Kinderen toekomstig lot (‚das künftige Los Euerer Kinder‘) zu mit einem dem Substantiv vorangestellten Adjektiv im Genitiv Plural an Stelle von het toekomstige lot van uw kinderen.

Das Unnatürliche der Schriftsprache wurde von flektierten Demonstrativen wie dezelve (‚der gleiche‘, ‚die gleiche‘) oder hetzelfe (‚das gleiche‘) beziehungsweise Reflexiven wie welke (‚welche‘, ‚welcher‘), hetwelk (‚welches‘) und dewelke (‚der jeweilige‘, ‚die jeweilige‘) verstärkt. Wie ihre Zeitgenossen brauchten die Verfasser der oben erwähnten Zeitungsberichte solche Formen mit Vorliebe, vgl. dit verlangen, het welk (…) (‚dieser Wunsch, der […]‘), Deze optogt welke (…) (‚Dieser Aufzug, der […]‘), Deze dag, welke (‚Dieser Tag, der […]‘), een stamhuis, aan ’t welk (…) (‚ein Stammhaus, dem […]‘) oder een veldtogt, in welken (‚ein Feldzug, in dem‘); bei Verlooy heisst es het zelve volk (‚dieses Volk‘).

Das im gesprochenen Niederländischen der nördlichen Provinzen ungebräuchliche Personalpronomen der 2. Pers. Sing. und Plur. gij oder gy, unbetont ge (‚Du‘ beziehungweise ‚Ihr‘) mit den entsprechenden Konjugationen des Verbs wirkte im Norden ebenfalls archaisch, so zwoert gij und wildet in Dit slaavenjuk eindelijk moede, zwoert gij Philips van Spanjen af, en wildet eene republikeinsche Constitutie. (‚Als Ihr dieses Sklaven-Jochs endlich müde wart, schwort Ihr Philipp II. ab und wünschtet eine republikanische Konstitution.‘ PRO, vgl. 2.3.4.1.). Ebenso sind gy und die Konjugation des Verbs ademen (‚atmen‘) an Stelle von u ademde in Uwe keetenen vielen af; gij ademdet in de zalige lucht der Vrijheid. (‚Deine Ketten fielen herab, Du atmetest in der himmlischen Luft der Freiheit.‘ PRO, vgl. 2.3.4.1.) als archaisch einzustufen.

Zwar war im Süden die Anrede gy oder gij beziehungsweise ge (‚Du‘, ‚Ihr‘) neben dialektischen Varianten sowohl in der gesprochenen als auch in der geschriebenen Sprache gebräuchlich, im Norden hatte sich in der mündlichen Sprachverwendung jij unbetont je mit dem Objekt jou beziehungsweise je als Pronomen 2. Pers. Sing. herausgebildet. Weiter war die Anrede uwe beziehungsweise u (‚Sie‘) aus der in Briefen üblichen Abkürzung UE (Uwe Edelheid, ‚Euere Vortrefflichkeit‘) entstanden. Daneben entwickelte sich jelui beziehungsweise jullie (‚Ihr‘, ‚Euch‘) als Subjekt- beziehungsweise Objektform der 2. Pers. Plur. aus je lui (‚Ihr Leute‘).

Auch unpersönliche Konstruktionen verliehen dem geschriebenen Niederländischen des 19. Jh. nach wie vor archaische Züge. Wohl waren infolge des fortschreitenden Flektionsverlustes des Niederländischen die Dativ- und Akkusativmarkierungen grösstenteils weggefallen, wodurch die unpersönliche Konstruktion ihre instrumentale Funktion verlor. Die Verwendung von Impersonalia war laut Van der Horst denn auch stark zurückgegangen. Dennoch kommen mehrere Verben, so vergeten (‚vergessen‘), lusten (‚belieben‘), falen (‚fehlen‘) oder walgen (‚sich ekeln‘) noch vielfach als Impersonalia in der Schriftsprache vor, vgl. wiens naam mij vergeten is (‚wessen Namen mir entfallen ist‘) in Het huisgezin van den Kommandant, wiens naam mij vergeten is, bestond uit zijne vrouw en drie reeds huwbare dochters. (‚Die Familie des Kommandanten, wessen Namen mir entfallen ist, bestand aus seiner Frau und drei bereits heiratsfähigen Töchtern.‘, WNT 1810). An Stelle eines Teilsatzes wie wiens naam ik vergeten ben (‚wessen Namen ich vergessen habe‘) mit dem Subjekt ik (‚ich‘) enthält der zitierte Satz eine archaische unpersönliche Konstruktion mit dem Datvivobjekt mij (‚mir‘).

Sodann ist die häufige Verwendung von Konjunktivformen in der Schriftsprache, die keineswegs dem mündlichen Gebrauch der Sprache entsprach, als feierlich einzuordnen. Zu den Beispielen dieser feierlichen Formulierungen in den zitierten Texten zählt zoude (‚würde‘) in dat de Vorst (…) plegtig als Souverein van Nederland zoude worden uitgeroepen (‚dass der Fürst feierlich als Souverän der Niederlände ausgerufen werden würde‘, (HGW, 1. Abs., 2.5.1.1.). Feierlich wirken auch Konjunktivformen wie Verheff‘ (Kürzung von verheffe ‚erhebe‘) und stell (Kürzung von stelle ‚stimme‘) in: Wien Neerlandsch bloed in de aders vloeit, (…) Verheff’ den zang als wij: Hij stell’ met ons (…) Het godgevallig feestlied in (…) (‚Wem niederländisches Blut in den Adern fliesst […] erhebe den Gesang wie wir: er stimme mit uns […] das gottgefällige Festlied an […], TOL 1. Strophe, 2.5.2.1.).

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