Читать книгу Die Heimat in uns - Jenny Green - Страница 10
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ОглавлениеDer laue Sommerabend hüllte Greta in eine warme Umarmung. Letzte Sonnenstrahlen fielen durch das dichte Blättermeer des Baumes, unter dem sie Platz genommen hatte.
Sie hatte Glück. Der kleine Hinterhof, der von allen Bewohnern des Hauses, in dem vor allem Studenten wohnten, genutzt werden durfte, war heute ausnahmsweise friedlich leer. Keine andere Menschenseele hatte sich hierher verirrt. Heute war er ihre kleine Oase.
Der leise Singsang der Vögel, das Vibrieren der aufgeheizten Luft und der leichte Hauch kühlerer Luft, der sich dazumischte, schienen sie zu erden. Das erste Mal, seit sie hier angekommen war, hatte sie das Gefühl, frei atmen zu können.
Greta lehnte ihren Kopf gegen die Rinde des Baumes und schloss die Augen. Ihr Körper hatte förmlich nach Ruhe geschrien, als sie nach Hause gekommen und den Koffer in ihrem Zimmer abgestellt hatte. Entgegen ihrer fast überschäumenden Neugierde, den Inhalt des Koffers sofort und auf der Stelle zu erkunden, übertrumpfte das Gefühl, endlich den Pausenknopf zu drücken, jegliches andere Verlangen.
Und so hatte sie den Koffer verschlossen und unangerührt in ihrem Zimmer zurückgelassen. Stattdessen versuchte sie, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen.
Freiheit ist das, was du selbst daraus machst. Das hatte ihre Großmutter ihr stets eingebläut.
Nun nahm Greta sich die Freiheit, die Gedanken an diesen denkwürdigen Nachmittag mit aller Kraft beiseitezuschieben und Schönes herbeizudenken. Sie wollte nicht mehr an das seltsame Verhalten ihrer Mutter denken. Zumindest für einen kurzen Augenblick.
Als sie so dem Zwitschern der Vögel lauschte, tauchten vor ihrem inneren Auge zunächst sehr zögerlich und dann immer mehr Bilder der vergangenen Monate auf, die sich tief in ihr Herz eingebrannt hatten, auch wenn sie in den letzten Tagen hatten in den Hintergrund treten müssen.
Das Zirpen der Grillen erinnerte sie an die Tage auf den Feldern, auf denen sie ihre Gastfamilie, auf deren Hof sie leben und arbeiten durfte, tatkräftig unterstützte. Das wohlige Gefühl abends, nach einem kräftezehrenden, aber produktiven Tag zurück zum Hof zu kommen, gemeinsam zu Abend zu essen und anschließend erschöpft aber glücklich ins Bett zu fallen, war unbezahlbar. Der Duft nach Heu hing immer noch in ihrer Nase.
Als sie vor drei Jahren aufgebrochen war, hatte sie sich geschworen, sich in keine engen Konventionen, keine engen Verpflichtungen drängen zu lassen. Sie wollte ihrem Herzen folgen, wenn nötig weiterziehen, wenn ihr danach war. Ohne vorgefertigten Plan in der Tasche wollte sie ihren Weg in der Welt finden.
Sie hatte schon lange davor immer wieder mit dem Gedanken gespielt, irgendwann waren ihre Recherchen konkreter geworden und die Entscheidung war gefallen. Sie hatte ihren Job gekündigt, all ihr Hab und Gut verkauft, das sie nicht bei sich tragen konnte, und hatte sich auf den Weg nach Kanada gemacht.
Im Rahmen eines Work-and-travel-Programms hatte sie erste Schritte gewagt, viele freundliche und vor allem hilfsbereite Menschen kennengelernt und so ihren Weg in den Westen des Landes in die Nähe von Banff gefunden.
Sie hatte sich verliebt. Verliebt in ein Land, dessen Landschaft wie gezeichnet, die Menschen so liebenswert waren, dass Greta anfangs völlig überwältigt war. Sie war diesem Land, das so viele wunderschöne Facetten offenbarte, Hals über Kopf verfallen.
Und von diesem Gefühl der Freiheit getragen, war sie in Gretas Leben gekommen. Gretas Herz beschleunigte seinen Takt. Eine Suchende wie sie, deren Weg sich eines Tages mit ihrem kreuzte. So zufällig wie unerwartet und doch mit einem Knall, als sie aufeinandertrafen.
Zwei Getriebene, die aufeinander zugesteuert waren, um in der Hast ihres Seins endlich ihren Schritt zu verlangsamen, wie ein Pendel, das nach heftigem Ausschlag in seine Mitte zurückfand.
Ein Halt und doch wie im Rausch. So hatte sich die Zeit mit ihr angefühlt. Die Wochen, in denen sie sich abends matt von der Arbeit, aber voller aufgeregter Sehnsucht trafen und die Nächte nur ihnen gehörten, vergingen wie im Flug. Katherine war die erste Frau seit langem gewesen, bei der Greta keine Enge, vielmehr Geborgenheit fühlte.
Sie hatten nie ausgesprochen, welchen Namen die Beziehung trug, die sie beide miteinander führten, noch hatten sie über die Zukunft, weder die nahe noch die ferne, gesprochen. Sie hatten im Moment gelebt, hatten sich genossen, ohne Fragen zu stellen.
Und dann war der Anruf aus Deutschland gekommen, und Greta hatte kopflos all ihre Sachen gepackt, hatte den nächsten freien Flug gebucht und war abgereist, ohne dass sie Katherine noch einmal gesehen hätte.
Lediglich einen kurzen Brief hatte sie für sie zurückgelassen und seitdem keinen Anruf, keine Nachricht von ihr beantwortet. Greta wusste nicht, was sie ihr hätte sagen sollen. Sie konnte noch nicht darüber sprechen, was geschehen war.
Bisher hatte es in ihr auch keinen Raum gegeben, der es zugelassen hätte, etwas anderes als Trauer zu verspüren. Der Anflug von Wut heute Nachmittag war das erste Gefühl, das sich langsam in diesen Raum gedrängt hatte.
In ihrer gemeinsamen Zeit hatten sie kaum über ihre Familien gesprochen. Die Vergangenheit hatten sie beide so weit wie möglich ausgeklammert. Vielleicht hatte ihre gemeinsame Zeit daher den Anschein gehabt, als würden sie sich in eine Seifenblase flüchten, die sie schützte und nur die positiven Gefühle einschloss. Es gab nur das Jetzt, weder das War noch das Wird.
Wenn Greta ehrlich zu sich selbst war, vermisste sie Katherine. Sie vermisste die unbeschwerten Stunden. Wünschte sich dieses Gefühl herbei, gerade jetzt. Wollte endlich wieder loslassen, wie sie es bei ihr konnte.
Doch andererseits scheute sie sich, ihre Nachrichten zu beantworten. Etwas hielt sie davon ab, ihr von den vergangenen Tagen zu erzählen, von dem Gefühl, das seither in ihr wohnte.
Zudem konnte sie ihr keine Antwort auf die Frage geben, wann sie zurückkommen würde. Ob sie sich sehen würden, ehe Katherine weiter Richtung Osten zu ihrem nächsten Ziel zog. Ihnen war immer klar gewesen, dass sie nicht von Dauer am selben Ort verweilen würden, noch den gleichen Weg gehen würden. Es war so klar, dass keine es sich traute, laut auszusprechen.
Katherine jedoch gänzlich ohne Antwort zu lassen, kam für Greta nicht in Frage. Katherine hatte mehr als das verdient. Doch nicht jetzt, nicht in diesem Moment. Alles zu seiner Zeit. Katherine würde es verstehen, da war sich Greta sicher.
Sie öffnete die Augen, blinzelte mehrmals, um wieder ganz in der Realität anzukommen. Die Sonne gab der einkehrenden Nacht immer mehr Raum, und es war Zeit, diesen Tag loszulassen.
•••
Meine liebe Greta,
mir war immer klar, dass die Briefe, Tagebücher und Andenken in diesem Koffer nur in deinen Händen an ihrem richtigen Bestimmungsort sein würden.
Du standst mir immer am nächsten, doch es gibt vieles, das du bisher über deine und meine Geschichte nicht wusstest. Warum ich dir nicht selbst davon erzählen konnte, war nicht nur dem tief in mir wohnenden Schmerz geschuldet, sondern auch einem Versprechen, das ich deiner Mutter gegeben habe. Doch du verdienst die Wahrheit, auch wenn Elisabeth sicher anderer Meinung ist. Sie wird es irgendwann verstehen und wissen, dass es richtig so ist.
Sicherlich ahnt sie, welch Bürde ich dir mit diesem Koffer auf den Weg gebe. Und sicherlich verflucht sie mich dafür. Vielleicht wirst du es auch tun. Vielleicht aber wirst du diese Bürde, meine Geschichte, mit Verständnis und Mut für dein eigenes Leben tragen, mich vielleicht sogar verstehen und vieles, das unausgesprochen zwischen uns blieb, nachvollziehen können.
Und verurteile nicht die Angst einer Mutter, die ihre schützende Hand über dich legen will. Ein Mutterherz wirft sich schützend vor sein Kind, sie wird nichts anderes tun.
Ich hoffe, dass du am Ende dieser kleinen Spurensuche in meiner Vergangenheit meinen letzten Willen erfüllen kannst. Ich konnte es selbst leider nicht mehr.
Folge immer deinem Herzen. Wenn ich etwas aus meinen Fehlern gelernt habe, dann genau das.
Und sei dir sicher, dass das Bündnis, das wir beide unser Eigen nennen konnten, nicht von Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist, sondern es einfach sein durfte, was es war. Vertrauen und Heimat.
Deine Hannelore
Greta sah auf die zittrige, leicht undeutliche Handschrift, die offenbarte, wie viel Mühe und Anstrengung dieser Brief ihre Großmutter gekostet haben musste.
Das Blut pulsierte in ihren Adern und rauschte in ihren Ohren wie die unruhige See.
Es war ihr schwerer gefallen als gedacht, den alten Holzkoffer zu öffnen, und noch schwerer, den Brief, der offen oben auflag, zu öffnen und zu lesen. Sie hatte Angst, erneut von ihren Gefühlen überwältigt zu werden, wenn sie auch nur ein Wort ihrer Großmutter las.
Nur mit diesem Koffer und den wenigen Habseligkeiten, die hineingepasst hatten, war Hannelore nach dem Krieg nach Bayern gekommen. Den Koffer hatte sie seither wie einen Schatz gehütet. Niemand hatte ihn anfassen und schon gar nicht öffnen dürfen. Zunächst hatte sie ihn immer in ihrem großen Schlafzimmerschrank und später neben ihrem Bett im Altenheim, wo sie ihn immer im Auge behalten konnte, aufbewahrt.
Hannelore hatte nur selten über die Zeit ihrer Flucht und die Nachkriegszeit gesprochen. Hin und wieder, wenn sie lange beisammengesessen hatten, hatte sie mit Wehmut in ihrem Blick von ihrer alten Heimat erzählt, und der Schmerz über den Verlust dieser war auch Jahrzehnte später noch greifbar gewesen.
Greta hatte ihr stets ergriffen gelauscht, und es hatte ihr wehgetan, ihre Großmutter so zu sehen.
Doch jede Nachfrage hatte ihre Großmutter sofort abgewiegelt und umgehend das Thema gewechselt. Kein weiteres Wort war ihr dann mehr über ihre Vergangenheit über die Lippen gekommen.
Irgendwann hatte Greta es aufgegeben und ihren Frieden damit geschlossen, dass das Leben ihrer Großmutter für sie ein großes Geheimnis bleiben würde.
Bis jetzt.
Akkurat breitete Greta den Inhalt vor sich auf dem Holzboden aus. Zusammengeschnürte Briefe, Heftchen mit der Aufschrift Tagebuch, Fotos, gestrickte Kinderhandschuhe und ein weißes, mit Blumen besticktes Tuch. Daneben ein paar kleinere Pakete, die gut verschnürt ihren Platz im Koffer gefunden hatten und ihren Inhalt gut verbargen.
Minutenlang sah Greta auf das Werk vor ihr, als plötzlich ein schriller Ton die gedrängte Stille durchbrach. Sie schreckte auf und lies den Brief fallen, auf dem sich nasse Abdrücke ihrer Finger gebildet hatten.
Gedankenverloren hangelte Greta nach ihrem Smartphone, und dann wurde sie endgültig in die Realität zurückkatapultiert. Was zum Teufel machst du denn da? schrie immer wieder ihre innere Stimme, als sie das Ende ihres gemeinsamen Weges einläutete, indem sie, nachdem sie diesem Schritt so lange aus dem Weg gegangen war, den Anruf entgegennahm.
Schwere lag in jedem einzelnen Wort, das sie mit Katherine wechselte.
Mit einem Mal war alles so klar, und auch wenn der stechende Schmerz einen letzten Versuch startete, sie umzustimmen, vehement an ihrem Inneren zerrte, sie kurz taumeln ließ, wusste sie, dass sie das Richtige tat. Hoffte zumindest, dass es wirklich das Richtige sein würde.
Ein Blick auf das Vermächtnis ihrer Großmutter schürte immer mehr das Gefühl, an diesem Ort bleiben zu müssen, nicht zurückkehren zu können.
Nicht jetzt.
Ihre innere Stimme verlor schließlich den aufopfernden Kampf. Der Kopf gewann und mit ihm auch ein Stück ihres Herzens, das schon immer wusste, dass dieses Glück nicht von Dauer sein würde.
Sie saugte den Klang ihrer Stimme ein letztes Mal in sich auf, als sie leise, sehr zögernd Abschied nahmen. Und dann hatte Katherine ihr Leben verlassen.
Hitze durchströmte ihren Körper. Nein, es war gut so, wie es war.
Das musste es einfach sein.