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August 2019

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Der Kaugummi in ihrem Mund schmeckte schal. Wie alles in diesem Moment.

Ein leises Rauschen surrte durch die Luft, durch ihre Adern und Nervenbahnen.

Flattriges Herz.

Der leise Sonnenaufgang verdrängte nur allmählich die Geister der Nacht. Fehlende Gardinen gewährten dem Licht freie Bahn. Doch alles in ihr blieb schwarz.

Ein letzter Blick an die Wand, dann rollte sie sich mit letzter Kraft zur Seite, richtete sich auf, saß jetzt auf der einsamen Matratze im spärlich eingerichteten Raum und atmete Schwere aus.

Greta rieb sich die Augen, die Lider brannten. Alles schien noch so unwirklich. Das Leben und der Tod gleichermaßen. Dass sie heute hier sitzen würde, in der ihr nicht vertrauten Wohnung, in diesem Land, in dieser Stadt, erschien ihr genauso unbegreiflich wie der Grund, warum sie hier war.

Sie war hier, weil jemand anderes nicht mehr hier war. Hier in dieser Stadt, in diesem Land, auf dieser Welt.

Tränen sammelten sich erneut in ihren Augen, ihr Blick verschwamm.

Der Tod war bisher ein Thema gewesen, das sie wenig interessiert hatte. Das Leben und die Freiheit waren viel interessanter. Wir werden alle sterben, das war klar, doch dass der Tod so schnell Raum in ihrem Leben finden würde, damit hatte sie nicht gerechnet.

Dass Oma Hannelore mit ihren sechsundneunzig Jahren wahrscheinlich keine vier oder fünf Amtszeiten amerikanischer Präsidenten mehr erleben würde, so gut oder schlecht sie auch sein mochten, war jedem mit gesundem Menschenverstand klar.

Doch dass sie nun nicht mehr da sein würde, traf Greta mit voller Wucht. Dass ein Mensch, der ging, eine Lücke hinterließ, hielt sie bisher für eine Floskel, doch diese Lücke hatte sich nun auch in ihr Leben gefressen, und Greta spürte mit einem Mal, dass dies alles andere als eine Floskel war.

Sie hatten sich in den letzten Jahren wenig gesehen, doch die Zeit, die sie gemeinsam hatten, war ihnen immer heilig gewesen. Sie waren Verbündete, egal wie groß die räumliche Distanz zwischen ihnen auch sein mochte.

So harsch Oma Hannelore zu ihrer eigenen Tochter und vielen anderen Menschen in ihrem Umfeld sein konnte und oftmals auch war, so innig war das Verhältnis zu ihrer einzigen Enkelin. Manche mochten sie eine eigenwillige, exzentrische alte Frau nennen, doch Greta kannte ihren weichen Kern.

•••

Leichenschmaus.

Was war das eigentlich für ein absurdes, morbides Wort? Jede Faser von Gretas Körper sträubte sich dagegen, das Gasthaus zu betreten, in dem die Trauergemeinde nach der Beerdigung zusammensaß, um sich die Bäuche vollzuschlagen und auf die Verstorbene zu trinken.

Sie lehnte mit dem Rücken an der Wand, zog an ihrer Zigarette und lies den Rauch wieder aus ihrem Körper strömen. Ein kleiner Rückfall nach vier Jahren Abstinenz. Wäre sie an allen anderen Tagen von sich selbst maßlos enttäuscht gewesen, in diesem Moment war es ihr völlig gleichgültig.

Ihr Blick schweifte über den vertrauten Dorfplatz hinüber zum alten Kastanienbaum, an dem sie als kleines Kind immer gestanden und einen Stock hoch in den Blätterwald geworfen hatte, um dann in Windeseile alle Kastanien, die zu Boden fielen und den Berg hinab zur Hauptstraße kullerten, einzusammeln. Stundenlang hatte sie dieses Spiel wiederholt.

Voller Stolz hatte sie anschließend taschenweise ihren Schatz nach Hause getragen, den ihre Mutter geduldig im Heizungsraum hatte trocknen lassen, wohlwissend, dass so viele Kastanienmännchen gar nicht gebaut werden konnten. Doch sie tat es, weil es Greta glücklich gemacht hatte.

Sie hatte eine unbeschwerte Kindheit gehabt, die sie selbst mit zahlreichen Abenteuern gefüllt hatte. Sie war umhergezogen, hatte Hütten im Wald gebaut, hatte mit ihrer Fantasie aufregende Welten geschaffen und war abends glücklich und dreckverschmiert pünktlich zum Abendessen wieder nach Hause gekommen.

Schon damals hatte sie die Freiheit wie ein Schwamm in sich aufgesogen, hatte es kaum ausgehalten, länger als nötig zuhause zu sitzen. Immer hatte es sie nach draußen gezogen, raus in die Welt, die so viel für sie bereitzuhalten schien, und sie wollte jedes Wunder, jeden unbekannten Winkel entdecken, nichts versäumen.

Den Geschichten ihres Großvaters hatte sie gelauscht. Von fernen Ländern und fremden Kulturen, die er, als er noch zur See gefahren war, kennengelernt hatte. Seine Erzählungen hatten Greta so in den Bann gezogen, dass sie sich bereits als kleines Kind geschworen hatte, diese Länder eines Tages zu entdecken. Freiheit zu spüren, genau wie es ihr Großvater getan hatte. Vielleicht nicht auf einem Schiff, aber sie würde ihren eigenen Weg gehen.

Und genau dieser Drang nach Freiheit hatte sie schließlich von hier weggezogen. Raus aus dem kleinen, beengten Dorf in die große Stadt und schließlich in die weite Welt, als ihr selbst die Stadt zu klein wurde. Nur nicht gebunden sein an Konventionen oder in allzu engen Beziehungen, die sie hätten ausbremsen können.

Hierher zurückzukommen wirbelte in ihr natürlich einerseits schöne Gefühle auf, doch im anderen Moment hatte sie den Eindruck, dass diese Gefühle unter einem schweren Deckel immer wieder vergraben würden wie in einem schwelenden Kessel.

Die Trauer tat ihr Übriges, und zum ersten Mal seit langem fühlte sie sich einsam und verloren.

Greta kämpfte wie so oft an diesem Tag gegen den Kloß in ihrem Hals, gegen die aufsteigenden Tränen, als sich plötzlich eine Hand sanft auf ihre Schulter legte.

»Ich dachte, du könntest vielleicht jemanden zum Anlehnen brauchen.« Klaras sanfte und in diesem Moment doch leicht raue, belegte Stimme war wie Balsam auf Gretas Seele.

Greta wischte sich mit einer schnellen Handbewegung die Tränen aus den Augen. Sie versuchte ein Lächeln, als sie Klara ansah, doch sie merkte gleich, dass ihr das nicht wirklich gelang. »Woher wusstest du, dass . . .?« Ihre Stimme brach.

Klara sah sie fragend an. »Woher wusste ich was?«

Greta atmete immer noch unruhig. »Dass ich einfach nur hier weg will.«

»Ich hatte da so eine Ahnung«, lächelte Klara aufmunternd und zuckte die Schultern. »Der Fluchtwagen steht bereit.« Klara wies zur Straße, griff nach Gretas Hand und zog sie mit sich.

Der Lärm, der aus der Gastwirtschaft nach draußen drang, das wilde Durcheinander der vielen Gespräche, das Klirren und Scheppern von Geschirr, das Weinen eines kleinen Kindes verquoll zu einem dicken Brei, der mit jedem Schritt, den sie sich entfernten, langsam leiser und gedämpfter wurde.

Doch das Rauschen in ihrem Kopf blieb.

Die Heimat in uns

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