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Zwischen den Grenzen

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Das gleichmäßige Rattern des Zuges hatte die kleine Elisabeth, die in Margots Armen lag, langsam in einen sanften Schlaf gewogen. Sie wusste zum Glück nicht, was um sie herum passierte. Die Anstrengung des Tages hatte dennoch ihren Tribut gefordert und äußerte sich in langen Weinkrämpfen Elisabeths, die an den Nerven aller zerrten, so sehr man Rücksicht auf die Kleinsten unter ihnen nehmen wollte.

Hannelores Rücken schmerzte. Das lange Sitzen auf den Holzbänken, die jedes Holpern des Zuges in alle Winkel des Körpers übertrugen, machte sie mürbe.

Der Zug war bis auf den letzten Platz besetzt. Sogar auf dem Boden, zwischen all den Habseligkeiten, hatten sich die Menschen gedrängt. Hauptsache weg, egal wie, hatten sich viele gedacht und sich in den vollen Zug geschoben.

Hannelore konnte keine Sekunde länger sitzen. Sie stand auf, bot einem Mädchen, das neben ihr auf dem Boden kauerte, ihren Platz an und stieg über alle Hindernisse hinweg, bis sie einen kleinen freien Platz fand, auf dem sie ein paar Schritte hin und her gehen und sich strecken konnte.

Sie war erfüllt von grenzenloser Müdigkeit, doch das Adrenalin, das ständige Auf-der-Hut-Sein hielten sie in einem nervösen Wachzustand.

Hannelore hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Sie wusste nicht, wie lange sie bereits unterwegs waren, noch, wie viele Stunden vor ihnen lagen, ehe sie ihr rettendes Ziel erreichten. Wie es danach weitergehen sollte, stand ohnehin in den Sternen.

Um die aufkeimende Angst vor dem Ungewissen zu unterdrücken, zwang Hannelore sich, einen Schritt nach dem anderen zu unternehmen. Sie würde alles auf sich zukommen lassen, und erst dann würde sie sich über den nächsten Schritt Gedanken machen. So hatte sie es sich zumindest vorgenommen. Aber was waren Pläne in diesen Zeiten schon wert? Es ging nur noch darum, zu überleben und sich so gut es ging nicht verrückt machen zu lassen.

Sie betrachtete all die Menschen um sich herum. Alte Großmütter, junge Frauen und deren Kinder. Die meisten Passagiere waren Frauen. Nur wenige Männer waren unter den Reisenden. Viele waren an der Front, viele vermisst oder gefallen.

All die Soldaten, die ihr Leben riskieren mussten, wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, wohin ihre Frauen und Kinder flüchteten.

Hannelore dachte erneut an Ernst, und ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals. Und wenn er doch noch nach Hause zurückkehrte? Würde er nach ihnen suchen und sie finden?

»Darf ich?«

Hannelore schreckte aus ihren Gedanken auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie Gesellschaft bekommen hatte. Als sie aufsah, blieb ihr Blick an diesen tiefblauen, faszinierenden Augen hängen, die sie nicht zum ersten Mal aus dem Konzept brachten.

Auch wenn die Strapazen selbst an ihr nicht spurlos vorbeizugehen schienen, war der Glanz in ihren Augen doch geblieben.

Hannelore nickte und machte einen kleinen Schritt zur Seite, sodass die Frau sich neben sie stellen und sich ebenfalls an der Trennwand zwischen den Abteilen anlehnen konnte.

Sie folgte Hannelores Blick und ließ ihn über die Mitreisenden schweifen. »Sieh uns an. Wer hätte das vor einem halben Jahr noch gedacht? Wir dachten, uns würde nichts aus der Bahn werfen.« Ihre Stimme klang fest, beinahe unerschütterlich. »Ich bin übrigens Ilse«, fügte sie hinzu, und ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie Hannelore ansah.

»Hannelore«, erwiderte sie knapp. Ihr Mund fühlte trocken an.

»Ich weiß«, sagte Ilse und zwinkerte.

Fragend sah Hannelore sie an.

»Damals, als ich dich auf der Feier bei Jakub das erste Mal gesehen habe, wollte ich wissen, wer dieses Mädchen ist, das so Hals über Kopf verschwand. Denk nicht, dass mir das nicht aufgefallen wäre.«

Hannelore wurde heiß. »Ich . . . ich war noch anderweitig verabredet.«

Ilse nickte. Doch ihr Lächeln verriet, dass sie Hannelore kein Wort glaubte.

Eine Weile standen sie nur nebeneinander und schwiegen. Die schneebedeckte Landschaft zog im Eiltempo an ihnen vorbei. Immer wieder durchbrachen lediglich kleine Dörfer die Tristesse.

»So schrecklich all das hier ist, alles, was uns und diesen Menschen hier passiert, so gibt es doch einen kleinen Lichtschimmer, der mich all das mit leiser Hoffnung ertragen lässt.« Ilse sprach so leise, dass Hannelore angestrengt hinhören musste, um jedes ihrer Worte zu verstehen.

Sie sah Ilse von der Seite an. Die Locken fielen ihr wirr ins Gesicht. Sie betrachtete ihre Lippen, während sie sprach, und die kleinen Grübchen, die sich auf ihren Wangen abzeichneten. Es bedurfte keiner ausgesprochenen Worte, nur eines Blickes, um Ilse zu zeigen, dass sie wissen wollte, was dieser Hoffnungsschimmer wäre.

Doch Ilse schenkte ihr nur ein letztes Lächeln. Und als sie sich von der Wand abstieß, um zu gehen, berührte ihre Hand kurz Hannelores und hinterließ ein sanftes Kribbeln, das noch anhielt, als Ilse bereits wieder in der Menge verschwunden war.

Die Heimat in uns

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